Männerabend
Perlen von Holstein Folge 78
Annika war auf der Amerika-Reise zu einem Fan des Knabenchors geworden. Und weil Leidenschaften in der Familie Schuett seit jeher grenzenlos waren, wollte sie sogar mit nach Maschen. Sie schlief allerdings nicht mit mir in einem Zimmer, sondern irgendwo im Männerflügel, wahrscheinlich bei Morle. Ich sah von ihr in diesen drei Tagen dementsprechend nicht viel. Meine Zimmergenossen waren David, Imanuel und Lukas. Letzterer war ein Quereinsteiger. Erst vor etwa eineinhalb Jahren war er in den Chor gekommen. Zuvor hatte er bei den Westspatzen mitgesungen. Doch wer in Amerika dabei gewesen war, war seither überall dabei. Ich war der lebende Beweis.
Der Abend begann damit, dass ich auf dem Bett lag und ein wenig in meiner PC Games schmökerte. Zitierfähiges hatten Philipp und ich vorhin leider vergeblich gesucht. Dafür gab es eine Liste mit der Top fünfzehn der am schlechtesten bewerteten Killerspiele aller Zeiten. Erotica Island und Der König von Mallorca teilten sich den ersten Platz. Sie beide hatten einen von hundert möglichen Punkten bekommen. Sagenhaft. Philipp und ich hatten uns vor Lachen darüber gekrümmt.
Der eigentliche Grund für den Kauf der Zeitschrift war aber die Vorschau zu Generals. Das würde im Februar erscheinen und allen meinen Killerspielen den Rang ablaufen. Eine solch beeindruckend animierte Atomexplosion hatte es noch nicht gegeben.
David gesellte sich zu mir. Interessiert warf er einen Blick auf die Bildschirmfotos von Generals.
«Das sieht echt geil aus», sagte er.
Er betrachte die Bilder genauer.
«Ach, ist das mit Panzern?», fragte er.
«Ja, klar», antwortete ich, «Ist doch geil, Mann!»
«Nee, ich bin nicht so der Fan von Spielen mit Panzern. Ich finde auch Starcraft so bescheuert. Ich mag eher so Mittelalter-Fantasy-Sachen, so Warcraft und so, halt.»
«Naja, sowas spiele ich natürlich auch, aber geil ist ein Spiel doch erst dann, wenn es richtig schön brutal ist.»
«Nee, das mag ich überhaupt nicht. Wenn ich alleine bei Unreal Tournament an diese Waffe denke, womit du den Gegnern den Kopf mit so kleinen Kreissägen abschießen kannst. Das habe ich einmal gemacht und dann nie wieder, ey.»
«Du meinst den Ripper? Das ist doch geil, wenn du damit schießt und dann die Stimme immer: ‹Headshot!›, ‹Headshot!›, ‹Headshot!›»
«Nee, ehrlich, das muss nicht sein.»
Es war wahr. Ich hatte einen Gleichaltrigen gefunden, der die Brutalität von Unreal Tournament nicht zu schätzen wusste. Ob David wohl wusste, welch schweren Normverstoß er damit beging? Bestimmt nicht. Niemand hasste Normverstöße und Normverstoßer so sehr wie der gute David.
«Ey», hatte er neulich gesagt, «bei mir in der Klasse ist so ein Junge, weißt du, der malt immer so ein Satanskreuz an die Tafel und sagt so: ‹Das ist das Kreuz des Todes!› Und jedes Mal, wenn er das macht, kriegt er von jemandem auf die Fresse dafür.»
Vorhin dann hatte er gar mich schwer zurechtweisen müssen.
«Ey, alle kennen das, nur du mal wieder nicht.»
Er hatte sich damit auf ein Lied bezogen, das Imanuel gesungen hatte. Es stammte mutmaßlich von Britney Spears oder Jennifer Lopez oder Justin Timberlake und hatte einem bekannt zu sein, wenn man dazugehören wollte. Ich verzichtete dennoch darauf, es mir anzueignen. Brutale Killerspiele waren zum Dazugehören meistens ausreichend gewesen.
Allmählich war es für uns an der Zeit, uns schlafen zu legen. Zumindest in den Augen von Marc und Frau Siebenkittel. Wir dachten nicht daran. Lukas turnte auf seinem Bett herum und blies in eine Tröte.
Eine Melodie, die ich der vierten Klasse häufig auf meiner Blockflöte gespielt hatte, sehr zur Erheiterung meiner Klassenkameraden. Wer konnte, hatte es mir nachgemacht. Bald hatten sie sie auch einfach so gespielt, ohne dass ich direkt danebenstand. Es war geschehen, was seit einigen Monaten undenkbar war: Lennart hatte in der Schule einen Trend begründet.
David wünschte, meinen Discman und eine meiner Ärzte-CDs ausleihen zu dürfen. Dem kam ich nur zu gerne nach. Es sollte ja jeder wissen: Ich war jetzt sozusagen Ärzte-Fan.
Wie es dazu gekommen war, war eine etwas längere Geschichte. Sie hing dicht mit Benjamins Verrat zusammen. Es hatten sich damals nicht alle Kameraden gegen mich gewandt. Einer hatte – zumindest außerhalb des Schulgebäudes – zu mir gehalten. Jeden Tag war er zu mir gekommen und hatte mit mir Alarmstufe Rot 2, Renegade, Unreal Tournament und was sonst noch alles nicht auf seiner alten Kiste lief, gespielt. Irgendwann hatte er einmal mehrere CDs der Ärzte in seinem Rucksack gehabt. Die Rebellion verheißenden Texte hatten mich angesprochen. Farin Urlaubs Es ist egal, was du bist, Hauptsache ist, es macht dich glücklich war schnell zu meinem Hymnus in dieser schweren Zeit geworden. Das Schöne war nämlich: Die meisten meiner Peiniger konnten die Musik der Ärzte nicht leiden. Zugleich war es ein Musikgeschmack, von dem man erzählen konnte. Leute, mit denen ich auskam, teilten ihn für gewöhnlich.
So auch David.
Er setzte sich den Kopfhörer auf, legte sich auf sein Bett und grölte alle Texte mit.
«Ich schloss sie in die Arme, das heißt, ich hab’s versucht. Ich stürzte in ihr Fettgewebe wie eine Schlucht!»
Lukas, Imanuel und ich lachten schallend.
«Ich nannte sie mein Nilpferd, natürlich nur im Scherz, doch ich brach damit –»
Frau Siebenkittel kam herein.
«– ihr dickes, fettes Herz!»
Wir drei kippten beinahe vom Bett vor Lachen. Frau Siebenkittel bemühte sich dennoch, uns in einem zivilisierten Tonfall mitzuteilen, dass wir bereits vor einer Viertelstunde hätten das Licht ausschalten sollen. David ließ sich davon nicht stören.
«Ich konnt’ sie nicht begraben, denn: Auf – dem – Friedhof – war – kein – Platz!»
Wir drei lachten wieder. Frau Siebenkittel langte es. Sie stürmte auf David zu, riss ihm den Kopfhörer vom Schädel und faltete ihn zusammen. Selbst das beeindruckte ihn jedoch nur unwesentlich.
«Jaja», sagte er.
Frau Siebenkittel nahm uns das Versprechen ab, dass in zehn Minuten das Licht ausgeschaltet sein würde, und verschwand.
Das Licht war inzwischen aus, doch Ruhe herrschte deswegen noch lange nicht. Imanuel und David unterhielten sich lautstark über Die drei Fragezeichen. Ich beschloss, mich einzumischen.
«Ey», sagte ich, «ich hatte, als ich zehn war, irgendwie mal so eine Dreifragezeichenkassette aus der Bücherhalle und wollte die halt zum Einschlafen hören. Ich mach die so an und dann kommt da irgendwie so eine Stimme: ‹Abigail, ich werde nicht ruhen, bis du unter der Erde liegst!›»
David, Imanuel und Lukas lachten.
«Ach», sagte Imanuel, «du meinst Stimmen aus dem Nichts. Ja, die ist heftig, da würde ich mich auch heute nicht trauen, die zum Einschlafen zu hören.»
«Ja, aber ich wusste halt nicht, was da drauf ist, ich hatte die nur angemacht und dachte, das wäre so wie Fünf Freunde oder so. Und dann kommt da: ‹Abigail, ich werde nicht ruhen, bis du unter der Erde liegst.›»
David, Imanuel und Lukas lachten wieder.
«Ja, hahaha», sagte Imanuel, «das ist echt heftig, aber irgendwie auch so lustig. ‹Abigail, ich werde nicht ruhen, bis du unter der Erde liegst. Ich werde mich rächen für das, was du mir angetan hast.› Geil ist auch: ‹Autsch! Und da hab’ ich mir mit dem Kartoffelmesser in die Finger geschnitten.›»
Die Lachsalve, die nun erklang, hörte Frau Siebenkittel wohl nur deswegen nicht, weil sie längst in einen anderen Teil des Gebäudes entschwunden war.
«Autsch! Und da hab’ ich mir mit dem Kartoffelmesser in die Finger geschnitten›», sagte Lukas.
Wir lachten erneut. Lukas wiederholte das Zitat wieder und wieder. Wir lachten, bis wir völlig erschöpft waren und ganz von selbst einschliefen.