Schwanengesang
Perlen von Holstein Folge 79
Nicht nur uns würde der Abschied von Frau Siebenkittel schwer fallen. Auch unsere Stammzuhörerschaft konnte sich einen Neuen Knabenchor Hamburg ohne sie nur schwer vorstellen. Fans unseres Chores waren immer auch Fans unserer Chorleiterin. Das galt für Annika genauso wie für die Bewohner des Heimes Tabea. Dort zierten seit einigen Jahren plakatgroße Fotos von unseren Auftritten den Veranstaltungsraum. Am meisten darauf in Szene gesetzt waren – natürlich – unsere roten Pullover. Es wäre jedoch falsch gewesen, zu glauben, dass unser Erfolg hier alleine auf sie zurückzuführen war. Es war nicht das Aussehen, für das uns die Leute so sehr liebten. Es war auch nicht der Klang. Es war das Gesamtpaket, das Frau Siebenkittel ihnen schnürte: Sie lud das Publikum zum Mitsingen ein, sie machte harmlose Scherze und, last but not least: sie ließ uns jedes Jahr das Gleiche singen.
Ob das bei ihrem Nachfolger so bleiben würde, stand in den Sternen. Man munkelte, bereits jetzt hätten Heimbewohner schriftlich ihr Bedauern über Frau Siebenkittels Weggang zum Ausdruck gebracht. Man konnte ihnen nur raten, das Positive zu sehen: Ein letztes Mal würde noch einmal alles genauso sein, wie es immer gewesen war. Großes Indianerehrenwort.
Und in der Tat, es wurde alles, wie es immer gewesen war. Eine kleine Szene, die sich vor unserem Auftritt ereignete, einmal ausgenommen.
Eine Heimbewohnerin schlurfte mit Gehwagen und seligem Blick auf den Eingang des Veranstaltungsraums zu.
«Kostet fünf Euro», sagte der Kerl, der danebenstand. Er trug einen Anzug, einen Seitenscheitel und eine Brille ohne erkennbares Gestell. Man sah ihm an, dass er nicht gerne hier war, an diesem Sonnabend.
«Wie bitte?», sagte die Alte.
«Kostet fünf Euro», wiederholt der Kerl.
Zerknirscht zog die Dame ihr Fünfzigerjahreportemonnaie hervor.
Junge, Junge. Waren die hier schon immer so drauf gewesen? Kein Wunder, dass sich die Omis jedes Jahr so sehr über uns freuten.
Wir zogen ein. Der Kerl wartete, bis wir alle drinnen waren, ging dann selbst hinein und zog die Tür hinter sich zu. Nachdem wir alle auf der Bühne unseren Platz eingenommen hatten, trat er nach vorne und hielt eine kleine Ansprache.
«Ja, ich freue mich natürlich, dass auch dieses Jahr wieder so viele unserer Einladung gefolgt sind.»
Einladung? Wenn man jemanden dazu bringen wollte, eine Veranstaltung zu besuchen, für die man Eintritt bezahlen musste, war das doch keine Einladung. Es war Werbung.
Ich merkte, wie mir der Kerl allmählich richtig unsympathisch wurde. Wenn ich alleine dieses falsche Grinsen sah, das er beim Betreten des Raumes aufgesetzt hatte.
Zum Glück verschwand er nun in einen Nebenraum.
Frau Siebenkittel trat nach vorne und hielt nun wiederum ihre Ansprache. Dann endlich waren wir an der Reihe und sangen unser Tochter Zion.
Die Farbe, Freude und Festlichkeit ließ mich sofort euphorisch werden. Es war wirklich erstaunlich, dass unser Weihnachtsprogramm kaum weniger Wirkung auf mich hatte als damals vor fünf Jahren. Nicht wenige Empfindungen waren ja deutlich schwächer geworden. Ein Killerspiel musste ich inzwischen schon mindestens eine Stunde gespielt haben, um in seine Welt abzutauchen. Früher hatte das keine zehn Sekunden gedauert.
Ich wusste, dass ich die Farbe, Freude und Festlichkeit genießen sollte. Es konnte gut sein, dass es sie bei Frau Siebenkittels Nachfolger nicht mehr geben würde. Doch ich konnte mir nicht helfen: Nach all den Jahren ging mir Tochter Zion doch ein wenig auf die Nerven. «Tochte-er Zion, freu-eu-eu-eu-eue dich, jauchze laut, Jerusalem». Insgesamt drei Mal sangen wir das in der ersten Strophe. Musste das denn sein? Genügten zwei Male nicht? Der Mittelteil war doch viel spannender.
Meine Meinung von dem Lied wäre sicher höher gewesen, hätten wir es wirklich nur an Weihnachten gesungen. Doch den Rest des Jahres sangen wir es auch. Als Canticorum Jubilo. Es gab wohl wirklich Menschen, die niemals genug von ihm bekommen konnten.
Frau Siebenkittel machte keinen Hehl daraus, dass es das letzte Mal sein würde, dass wir in dieser Konstellation zusammenkamen. Das ganze Konzert lang erinnerte sie daran. Sie wollte augenscheinlich demonstrieren, dass sie sehr gut verstehen konnte, in welcher Situation sich das Publikum durch ihren Weggang befand. Das kam sicher sehr gut an. Zum Schluss aber schoss unsere Chorleiterin ein wenig über das Ziel hinaus.
«Ja, und jetzt beim gemeinsamen O du Fröhliche möchte ich sie alle noch einmal bitten, kräftig mitzusingen. Denken Sie daran: Es könnte das letzte Mal sein!»
Die Männer, wir Knaben, Annika und Andrea lachten. Das Publikum aber schien sich nicht brüskiert zu fühlen. Es hatte die Doppeldeutigkeit dieser Äußerung wohl nicht verstanden, nicht verstehen wollen.
Der Kerl mit dem Anzug, dem Seitenscheitel und der Brille ohne erkennbares Gestell kam herein. Ich freute mich über seine Ankunft und dazu hatte ich allen Grund: In seiner Hand trug er einen großen Korb. Darin waren bestimmt unsere Schokoladenweihnachtsmänner. Letztes Jahr hatte es Marzipanbrot gegeben. Nicht nur ich, auch mindestens ein anderer Knabe war damit nicht einverstanden gewesen.
«Warum gibt es keinen Schokoladenweihnachtsmann?», hatte er gefragt.
«Es gibt jedes Jahr etwas Anderes», hatte er zur Antwort erhalten.
Folglich musste es dieses Jahr wieder Schokoladenweihnachtsmänner geben.
Der Kerl hob das Tuch, das den Korb bedeckte. Es gab wieder Marzipanbrot. Jetzt geriet ich wirklich in Rage. Dieser Mensch knöpfte den Omas fünf Euro für das Konzert ab und schaffte es dann nicht einmal, für angemessene Verköstigung zu sorgen? Das konnte und durfte nicht sein.
Als wir endlich das Heim verlassen hatten, machte ich meinem Ärger Luft: «Wieso immer Marzipanbrot?»
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Man könnte meinen Mangel an Genügsamkeit für etwas Unhamburgisches halten. Als Hanseat hat man sich schließlich in Understatement zu üben. Doch heißt Understatement ja nur, dass man sich bescheiden gibt, nicht, dass man es tatsächlich ist. Einen eindrucksvollen Beweis hierfür liefert Johannes Brahms. Auf dem Titelblatt des Erstdruckes seiner Nänie hält sich der gebürtige Hamburger mit Forderungen noch zurück: ‹Harfe ad libitum›, heißt es hier. Wie das zu verstehen ist, wird deutlich, wenn man die Besetzungsliste aufschlägt: ‹Harfe, wenn möglich mehrfach besetzt›, steht dort zu lesen.
Ich sah aber schließlich ein, dass es alles nichts half. Ich konnte nur auf das nächste Jahr hoffen. Zwar wäre Frau Siebenkittel dann weg, doch uns und Tabea gab es ja noch. Wir würden wiederkehren und singen, wie wir immer hier gesungen hatten, nur eben unter einem anderen Leiter. Der Auftritt in Tabea war schließlich fester Bestandteil des Programms.