Sibirische Winterträume
Perlen von Holstein Folge 80
Dezember 2002
In Randgebieten fühlte sich S-Bahn-Fahren irgendwie ganz anders an als in der Innenstadt. Die Stationen lagen weit auseinander. Manchmal tat der Zug minutenlang nichts, außer gleichmäßig geradeaus zu fahren. Das Schwarz vor den Fenstern zeugte nicht davon, dass man sich tief unter der Erde befand. Vielmehr durchfuhr man eine schier endlose Brache ohne irgendeine künstliche Lichtquelle. Wäre draußen nicht alles in eine Schneedecke gewesen, man hätte wohl gar nichts gesehen an diesem winterlichen Spätnachmittag. Kam dann eine elektronische Stationsansage, fühlte man sich endgültig wie in einer mobilen Technologiefestung auf dem Weg durchs Niemandsland.
Ich nahm es gelassen. Ich fuhr gerne mit der S-Bahn. Ganz anders Annika.
«Now, come on!», sagte sie. Dabei drückte sie ihre Hand gegen das Innere der Scheibe, als würde sie das Fahrzeug anschieben wollen.
Ich lachte.
«Mensch, Annika», sagte ich, «Wenn du mal wieder irgendwo nach Afrika oder Südamerika fliegst, dauert das doch viel länger.»
«Yes, but an airplane is not so goddamn slow!»
Sie drückte ihre Hand erneut gegen das Innere der Scheibe, als würde sie das Fahrzeug anschieben wollen.
Es war schon reichlich ungewöhnlich, von ihr zu einem Chorkonzert gebracht zu werden. Letztes Jahr hatte mein Vater mich noch auf dieser Strecke begleitet. An einer Station war eine Frau mit Ziehharmonika zugestiegen. Ihr Spiel hatte meinen Vater nicht begeistert. Als sie mit der Mütze herumgegangen war, hatte er sich unauffällig zu mir nach vorne gebeugt und gesagt: «Ich bezahle nur bestellte Musik.» Später dann hatte er mich gebeten, ihm doch bitte eines unserer Chorstücke vorzusingen. Die Frau hatte mit ihrer Ziehharmonika einen fürchterlichen Ohrwurm bei ihm verursacht.
Ob das wohl der Grund dafür war, dass er dieses Jahr nicht mehr mitkommen wollte?
Wohl kaum, denn dann würde er wohl auch nicht mit mir Fähre fahren. Auf der waren mal zwei Männer mit Ziehharmonika hereingekommen. Sie hatten sich auf den Gang gestellt und An de Eck steiht’n Jung mit’n Tüdelband und andere Folklore zum Besten gegeben. Die Truppe am Nebentisch hatte begeistert mit eingestimmt. Für die zwei Männer mit der Ziehharmonika Grund genug, sich direkt neben sie zu stellen. Neben sie und meinen Vater. Eine Viertelstunde lang war es ihm gelungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dann hatte es ihm gelangt. Er hatte sich unauffällig zu mir vorgebeugt und gesagt: «Womit hab’ ich das verdient?»
Annika und ich waren mittlerweile bei unserem Ziel angekommen: Dem Stadtteil Wellingsbüttel. Wir verließen die S-Bahn, gingen die Bahnhofstreppe hinunter und traten auf die Straße. Dort gab es einen Kiosk, einen Bäcker, einen Imbiss und einige Häuser. Annika blickte sie verächtlich an. Ich hielt mich mit Kommentaren zurück. Ich wusste: Viel städtischer würde unser Weg nicht mehr werden.
Wir gingen weiter die Straße entlang und gelangten zu einem Park. In der Ferne konnte man es bereits sehen, das Torhaus Wellingsbüttel, unser heutiger Auftrittsort. Der Weg dorthin war nicht weit, jetzt im Winter aber beschwerlich. Was eigentlich ein Parkweg war, lag unter einer dicken Schneedecke begraben. Mühsam stapften wir vorwärts. Der Sound Blaster in meinem Kopf spielte die Elektro-Fassung von Carol of the Bells aus dem Killerspiel Jazz Jackrabbit: Holiday Hare ’95.
Im warmen Torhaus angekommen, wurde ich sogleich von einigen Knaben in Empfang genommen.
«Ey, Lenni-Löwe, hast du gestern im Fernsehen Alarmstufe: Rot 2 geguckt?»
Natürlich hatte ich das. Alleine schon wegen der namentlichen Ähnlichkeit zu einem mir wohlvertrauten Killerspiel.
Das Torhaus Wellingsbüttel zählte erst seit dem letzten Jahr zu unseren weihnachtlichen Konzertstätten. Die Auftritte hier genossen dennoch bereits jetzt Kultstatus. Grund dafür war Donata Höffer. Sie bestritt die Vorlesung. Und anders als Witta Pohl und all ihre Nachfolger in St. Jacobi tat sie es unterhaltsam.
«Nein!», las sie, «Er hat nicht die Absicht, irgendwelche Weihnachtsgeschenke von Leuten anzunehmen, die behaupten, dass er Füllfederhalter stiehlt.»
Wir hatten diese Passage aus Astrid Lindgrens Pelle zieht aus weiß Gott schon hundert Mal gehört. Doch dieser erbarmungslose Trotz, mit dem Donata Höffer sie vortrug. Dieses Ich-Will-Nicht-Wollen. Es war einmalig. Wir krümmten uns vor Lachen. Dabei stand uns das eigentliche Highlight noch bevor: Das Kinderbuch Es klopft bei Wanja in der Nacht. Es handelte davon, wie ein Hase, ein Fuchs und ein Bär in einem Winter wie diesem gemeinsam Unterschlupf in einer Waldhütte suchten. Donata Höffer las die Dialoge der Tiere nicht einfach, sie spielte sie. Das tat sie mit einem solch ausgeprägten Mut zur Hässlichkeit, dass kein Auge trocken blieb. Wir Knaben lachten schallend, die Männer lachten schallend, Frau Siebenkittel lachte schallend. Alleine Donata Höffer selbst blieb professionell, was ihre Wirkung nur noch weiter verstärkte.
Nach dem Konzert waren wir alle in bester Laune. Das war nicht nur Donata Höffers Verdienst, sondern auch der des Torhauses Wellingsbüttel. Anders als der Kerl in Tabea wussten die hiesigen Veranstalter, dass wir ein Chor der Feinschmecker waren. Es gab handgemachte Adventskalender. Ihr Inhalt hatte letztes Jahr einen leicht faden Nachgeschmack gehabt, doch er war Schokolade. Schokolade und kein Marzipan.
Annika saß am Eingang hinter dem Verkaufstisch. An ihm konnten Zuhörer unsere bisher einzige CD erwerben. Interessenten sah ich jedoch keine, als ich zu Annika kam. Sie schloss gerade die Geldkassette zu.
«Verkaufen die sich eigentlich gut oder sind die eher Ladenhüter?», fragte ich mit Blick auf die CDs.
«Well, they are more of a Ladenhüter», erwiderte Annika. Entweder kannte sie kein englisches Wort für Ladenhüter oder sie kannte eines, ging aber davon aus, dass ich es nicht kannte.
Ich staunte nicht schlecht. So begeistert wie die Leute von unseren Auftritten waren, müssten uns die CDs doch aus den Händen gerissen werden. Naja, es lag wohl daran, dass sie schon seit drei Jahren auf dem Markt waren. Wer nicht wollte, der hatte wohl schon längst.