Einstellungsformalitäten

Perlen von Holstein Folge 81

Februar 2003

Seit unserer Rückkehr aus Amerika ging es in den Proben ziemlich drunter und drüber. Max-Frederick und Ulrich ließen keine Gelegenheit ungenutzt, ihre Grenzen auszutesten. Wir anderen sahen keinen Anlass, die beiden daran zu hindern. Ihre Show war durchweg sehr unterhaltsam. Überdies verstanden sie es, die richtigen Leute auf ihre Seite zu bekommen.

Sagte etwa Frau Siebenkittel: «Mensch, Lenni-Löwe, jetzt nimm doch mal deine alte, gammlige Mappe da weg», bemerkte Max-Frederick: «Wenn man bedenkt, dass alte, gammlige Noten drin sind –»

Unsere Chorleiterin gebot den beiden keinen Einhalt. Vielleicht, weil sie es nicht konnte. Vielleicht, weil sie es nicht wollte. Es wäre schließlich schon bald nicht mehr ihr Laden. Doch konnte einem ihr Nachfolger, wer auch immer das sein würde, jetzt schon leidtun. Max-Frederick und Ulrich waren zwei, die selbst gestandene Pädagogen heulend aus dem Klassenzimmer rennen ließen. Referendare verspeisten sie zum Frühstück.

Was sie mit Nachwuchschorleitern machten, die zum Probedirigieren vorbeikommen, wollte Frau Siebenkittel von daher gar nicht wissen. Sie ermahnte uns alle: «Wenn hier ab nächster Woche meine möglichen Nachfolger herkommen, möchte ich, dass ihr wenigstens bei denen ein bisschen disziplinierter seid. Auch wenn ihr sie vielleicht nicht als Chorleiter wollt, wollt ihr bestimmt auch nicht, dass sie danach überall rumerzählen, was für ein fürchterlicher Haufen ihr seid. Bei mir könnt ihr gerne alles machen, ich kenne euch, aber bei denen könnt ihr euch, mir zuliebe, bitte benehmen. Versprochen?»

Wir versprachen es. Ihr zuliebe und weil wir sonst wohl in zwei Monaten ohne Chorleiter dastehen würden.

Der erste Bewerber war ein gewisser Ulrich Kaiser. Ein Mann, der so gewöhnlich aussah wie er hieß: Er trug ein purpurrotes Hemd und eine Jeans. Beides war wohl nicht maßgeschneidert, hätte es aber sehr gut sein können. Sein Kopfhaar war schwarz, mittellang und mit dem Lineal zur Seite gekämmt. Außerdem war er jung, jünger als manche von den Männern. In der Schule wäre er wohl ein Referendar gewesen und entsprechend von uns behandelt worden. Doch: Versprochen war versprochen. Außerdem saß auf der rechten Seite des Probenraums nebst zahlreichen Eltern auch Jugendmusikschul-Chef Wolfhagen Sobirey. Auch wenn er Jugendlichen gegenüber nicht unbedingt streng auftrat, seine Gegenwart flößte einem Respekt ein. Selbst Max-Frederick und Ulrich. Zudem interessierte die beiden wohl genauso sehr wie jeden anderen hier im Raum: Was war das für ein Mensch, der hierhergekommen war, um Frau Siebenkittels Nachfolge zu übernehmen?

Zunächst einmal ein ausgesprochen höflicher.

«Okay, dann möchte ich bitte, dass ihr euch zum Einsingen auf die vordere Stuhlkante setzt», sagte er.

Ach, das war doch mal eine freudige Überraschung. Ein Chorleiter, bei dem man zum Einsingen nicht aufstehen musste. Na, dann war die Sache ja wohl klar: Schicken Sie alle anderen Bewerber nach Hause, den nehmen wir!

Natürlich war das nicht das entscheidende Kriterium, um unser Chorleiter werden zu dürfen. Entscheidend war, dass derjenige Wert auf Qualität setzte. Das tat dieser Herr Kaiser auf jeden Fall schon einmal. Ansonsten würde er wohl kein Einsingen machen, sondern gleich neue lustige teutsche Lieder mit uns singen. So wie das in meiner Vorstellung die Leiter der Chöre machten, die wir bei Kinder singen für Kinder an die Wand gesungen hatten. Es war beruhigend zu wissen, dass dieser Herr Kaiser kein solcher Leiter war. Er schien wirklich der richtige Mann für den Job zu sein.

Er war zudem einer, der vor Herausforderungen nicht zurückschreckte. Als erstes probte er mit uns Unser Leben ist ein Schatten. Das war nicht nur eines unserer schwersten Stücke. Es war auch eines, von dem wir nach all den Jahren, die wir es schon sangen, ziemlich konkrete Klangvorstellungen hatten. Klangvorstellungen, die wir aber nur dann auch umsetzten, wenn sie von uns gefordert wurden. Herr Kaiser forderte sie. Geduldig übte er mit uns die langen, schweren Tonfolgen, das berühmt-berüchtigte Scha-a-a-a-atten.

Am Ende der Probe wurde Herrn Kaiser Gelegenheit gegeben, zu erzählen, was er alles machen wollte, wenn er denn hier Chorleiter werden würde. Er hatte sich einiges vorgenommen.

«Ich habe vor, mich ganz intensiv um die Mitgliederwerbung zu kennen. Sie wissen ja bestimmt: Viele Jungs können singen, viele Jungs haben eine gute Stimme, viele Jungs würden sich bestimmt für das Singen im Chor begeistern. Sie kommen aber nicht zum Chor, weil sie gar nicht wissen, dass es sowas gibt, weil sie sich vielleicht gar nicht bewusst sind, dass sie so eine schöne Stimme haben. Deshalb möchte ich in den ersten ein bis zwei Jahren in alle Hamburger Schulen fahren und dort Jungs für den Chor gewinnen.»

Ich hielt das für ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen. Wer, der nicht von seinen Eltern gezwungen wurde, ging schon zum Chor? Auch meine Mutter fand: «Also, das mit dem In-Die-Schulen-Fahren sollte er doch besser lassen. Da findet er vielleicht welche für einen Fußballverein, aber doch nicht für einen Chor.»

Ansonsten aber war sie recht angetan von Herrn Kaiser. Ebenso Frau Siebenkittel, Marc, Totto, Herr Sobirey, die restlichen Eltern und wir. Alle schwärmten sie von seinen Fähigkeiten und von seinem Anspruch. Gewiss, dieses Höchstmaß an Höflichkeit, mit dem er mit uns redete, war ein Manko. Damit würde er keine zweite Frau Siebenkittel werden. Doch wer hatte das schon ernsthaft erwartet?

Eines stand jedenfalls schon einmal fest: Wer auch immer nächste Woche gegen Herrn Kaiser ins Rennen ging, er würde es verdammt schwer haben. Ich aber würde nicht dabei sein: Meine Klasse fuhr auf Skireise.

Während in Hamburg der Neue Knabenchor einen weiteren potentiellen Leiter kennenlernte, saß ich im Allgäu in einem unterbeheizten Schlafraum. Er war nur halb so groß wie mein Zimmer bei uns zuhause. Trotzdem fanden hier vier Etagenbetten irgendwie Platz. Ich las abwechselnd zum hundertsten Male die Killerspiel-Rezensionen in meinem Gamestar und die Sprüche, die vorherige Bewohner in Wände und Balken geritzt hatten. Der Beste war eindeutig: «Wer hier in diesem Scheiß-Haus in diesen engen Zimmern auf diesen verseuchten Matratzen überleben kann, der muss echt taff sein. So ein Scheiß-Haus!» «Stimmt», hatte jemand daruntergeschrieben. «Stimmt», ein weiterer. «Stimt», ein Dritter, offenbar ein Mensch mit Rechtschreibschwäche.

Ich saß hier, weil ich bei den Aktivitäten der Anderen nicht erwünscht war. Das war der Preis, den man zu zahlen hatte, wenn man die großzügigen Friedensangebote Höhergestellter ablehnte. Friedensangebote, die man mir gar nicht hätte machen müssen. Meine Vorwürfe waren schließlich alle aus der Luft gegriffen.

Über das, was sich in meiner Abwesenheit beim Chor ereignet hatte, rankten sich bereits Legenden, als ich wiederkam. Der zweite Bewerber war eine Bewerberin gewesen. Eine Dame, die sich offenbar zum Ziel gesetzt hatte, uns reif für Kinder singen für Kinder zu machen.

Imanuel berichtete: «Ja, da hast du echt was verpasst, Lenni-Löwe. Die Frau hat wohl irgendwie gedacht, dass wir so ein Chor für kleine Kinder wären. Die hat jemanden so künstlich angemeckert: ‹Du Idiot›, und dann: ‹Ach, das meine ich jetzt doch gar nicht so, hihi.› Und dann hat die solche Sachen gemacht, weißt du, wir sollten durch den Raum gehen und dabei sagen: ‹Tschu, tschu, tschu, ich bin die Lokomotive.› Jannik ist natürlich gleich total auf die abgefahren, aber alle anderen mussten sich so derbe das Lachen verkneifen.»

Das konnte ich mir nur zu gut vorstellen. Zumindest bei den Sängern. Frau Siebenkittel, Herr Sobirey und Totto hatten wahrscheinlich nicht gelacht. Und Marc hatte das Treiben der Dame wohl mit der gleichen Verachtung angesehen, mit der er einmal Die Linkspartei ausgesprochen hatte.

Meine Mutter erzählte, nach der Probe wäre eiligst eine Krisensitzung anberaumt worden. Die Frau war die einzige Person gewesen, die man außer Herrn Kaiser noch zum Probedirigieren eingeladen hatte. Es stand jedoch völlig außer Frage, dass sie für den Posten nicht geeignet war. Ein dritter Bewerber musste her, wollte man die Abstimmung über Frau Siebenkittels Nachfolge nicht zur Farce verkommen lassen. Und so fand nur zwei Tage später, bei der Donnerstagsprobe, das nächste Probedirigieren statt. Meine Mutter war begeistert gewesen von demjenigen, der sich dort vorgestellt hatte. «Der ist Countertenor und der ist schwul, der würde echt gut zu euch passen», sagte sie. Laut ihr war auch Frau Siebenkittel für ihn gewesen. Doch soll der Mann gleich klargestellt haben, dass die Stelle bei uns nur annehmen würde, wenn er die, auf der sich sonst noch beworben hat, nicht bekommt. Für die Entscheidungsträger Grund genug, ihn ebenso vom weiteren Bewerbungsverfahren auszuschließen. Noch ein Probedirigieren wollte man uns aber nicht zumuten. Somit stand fest: Frau Siebenkittels Nachfolger hieß Ulrich Kaiser.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Selbst bei hoch angesehen Ämtern kann es vorkommen, dass Menschen sie nicht haben wollen. Heinrich Schütz wurde nicht nur gezwungen, Dresdner Hofkapellmeister zu werden. Man nötigte ihn auch, es zu bleiben. Etliche Male ersuchte er seinen Kurfürsten um Entlassung, doch der erfüllte ihm seinen Wunsch nicht. Und auch als man ihn nach über dreißig Jahren endlich gehen ließ, wurde er lediglich von seinen Aufgaben entbunden, nicht vom Amt. Orlando di Lasso konnte man nicht zwingen, also versuchte man immer wieder, ihm den Posten schmackhaft zu machen. Doch der Mann war so glücklich in seinem München, er wollte nicht. Johann Sebastian Bach hingegen wäre liebend gerne Dresdner Hofkapellmeister geworden. In der Hoffnung, berufen zu werden, rang sich der Hardcore-Protestant sogar dazu durch, eine katholische Messe zu komponieren. Doch er wurde mit der Funktion des Hofkompositeurs abgespeist. Ein Titel, den er sich getrost übers Klo hätte hängen können.