Schluss-Choral

Perlen von Holstein Folge 83

«Autsch! Und da hab’ ich mir mit dem Kartoffelmesser in die Finger geschnitten!»

Es war Lukas, der da sprach. Seit jenem Abend in Maschen war dieses Zitat zu seiner liebsten Begrüßungsformel geworden, wenn er mir begegnete.

«Oh, er hier wieder mit seinen zwei Dojos», antwortete ich.

Meine liebste Begrüßungsformel, wenn ich ihm begegnete.

Lukas schlug mir gegen die Schulter. Dabei hatte ich ihm erst neulich erklärt, dass ich mit dieser Äußerung nicht über die Größe seiner Armee in dem Killerspiel Battle Realms lustig machen wollte. Ein Dojo nämlich war kein Soldat, es war eine Kampfschule. Lukas hatte zwei Stück davon gebaut, was in meinen Augen ziemlich unsinnig war. Eine reichte locker. Worüber ich mich also lustig machte, war sein geringes Verständnis von Städteplanung. Und das war doch kein Grund, jemanden zu schlagen.

«Und hast du schon viel Freude mit deinem ersten eigenen Computer?», fragte ich.

«Ja, Mann, aber voll. Das Problem ist: Meine Eltern erlauben mir alle Spiele, in denen irgendjemand abgesäbelt wird, aber erschossen werden darf niemand», sagte Lukas.

«Ey, wie bescheuert ist das denn? Manche Spiele, in denen du Leute absäbelst, sind doch viel brutaler.»

«Ich weiß, doch das checken die irgendwie nicht. Aber weißt du, ich hatte ja auch Empire Earth auf meinem Rechner und meine Eltern haben halt immer geglaubt, das würde nur im Mittelalter und in der Steinzeit spielen. Naja und irgendwann kam meine Mutter rein, während ich gerade ein Level im Ersten Weltkrieg gespielt habe. Und dann hat sie eben gesehen, wie sich die ganzen Flugzeuge abballern. Danach ist sie dann erstmal solange neben meinem Computer stehen geblieben, bis ich das Spiel deinstalliert hatte, hihihi.»

Lukas bekam einen jener Lachanfälle, bei dem man immer glaubte, dass er gleich ersticken würde. Er verzog das Gesicht und gab quietschende Geräusche von sich, fing bald an zu röcheln und sich zu winden. Bis ich ihn gekannt hatte, hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass das möglich war: Jemandes Lache klang noch widernatürlicher als meine.

Woher Lukas seine Killerspiele bezog, bedurfte keiner langen Erklärung. Bereits bevor er seinen Computer bekommen hatte, war er mehrmals bei mir zu Gast gewesen und hatte sich eingedeckt. Einmal hatte er auch bei mir übernachtet. Er kam immer wieder gerne, obwohl er bei jedem Besuch einen Kulturschock erlitt.

«Was ist das?», hatte er beim ersten Mal gefragt.

«Ach, mein großer Bruder hört nur mal wieder Techno», hatte ich geantwortet.

«Nervt dich das gar nicht?»

«Ach, das nehme ich schon gar nicht mehr wahr. Außerdem ist das doch noch leise. Du müsstest das mal um drei Uhr nachts erleben, wenn seine besoffenen Kumpels da sind.»

Wie befremdlich Lukas der Musikgeschmack meines Bruders erscheinen musste, war mir klar geworden, als ich bei ihm zum Geburtstag eingeladen gewesen war. Dort war den ganzen Abend eine CD mit HSV-Liedern gelaufen. Etwas anderes hatte er uns nicht bieten können. Bei ihm zuhause wurde – sowohl von ihm, als auch von seinen Eltern – nur Klassik konsumiert. Die Klangerlebnisse in meinem Zimmer hatte er dementsprechend später wie folgt beschrieben: «Morgens: Bumm, bumm, bumm, bumm. Mittags: Bumm, bumm, bumm, bumm. Abend: Bumm, bumm, bumm, bumm. Und nachts? Bumm, bumm, bumm, bumm.»

Es war klar: Der Techno würde in Lukas’ Haus keinen Einzug halten. Die Killerspiele schon, ob seine Eltern wollten oder nicht. Deshalb erklärte ich dem Jungen jetzt mal die Tricks.

«Weißt du, was du machen musst? Bevor du Empire Earth oder sowas starten, musst du irgendein anderes Spiel starten, das deine Eltern dir erlauben. So Solitaire oder Tiger und Bär im Straßenverkehr oder so. Dann startest du Empire Earth und wenn deine Mutter dann rein kommt, drückst du schnell Alt und Tab, damit Solitaire angezeigt wird. Schon denkt deine Mutter, du spielst Solitaire

«Fällt deine Mutter echt auf sowas rein?»

«Nö, aber solange sie mir nichts nachweisen kann, was soll sie machen? Die denkt ja schon, dass ein Spiel gelöscht wurde, wenn auf dem Desktop keine Verknüpfung mehr davon da ist.»

Die Frau einige Meter hinter uns hatte unser Gespräch von Anfang an mit Missfallen beobachtet. Jetzt langte es ihr.

«Jungs, wenn ihr euch unterhalten wollt, dann geht doch bitte raus. Das hier ist eine Kirche und kein Schulhof.»

Richtig, das hier war eine Kirche. Genauer: Der Vorraum der Kirche, in der wir den wirklich letzten Auftritt mit Frau Siebenkittel haben würden. Herr Kaiser hatte sein Kommen an diesem Sonntag so kurzfristig nicht einrichten können – er hatte ja nicht ahnen können, dass bereits nach zwei Wochen der erste Auftritt anstehen würde. So war unsere inzwischen ehemalige Chorleiterin eingesprungen. Leiten würde sie uns bei diesem Auftritt nicht. Sie würde nur das Einsingen übernehmen und das Stück noch einmal kurz mit uns üben. Wie jedes Jahr, wenn wir die Matthäus-Passion sangen.

Sie nutzte die Gelegenheit, uns allen noch einmal für die Texte zu danken, die wir ihr zum Abschied geschrieben hatten.

«Wisst ihr, nachdem ich das alles gelesen hatte, war es schon spät und da bin ich mit meinem Mann ins Bett gegangen. Und wisst ihr, was ich zu dem gesagt habe? ‹Ja, weißt du, Frank, was die Knaben da geschrieben haben, das war ja zum Teil echt besser als deine Liebesbriefe früher!› Und das hat ihm nicht so gefallen und da war er ein bisschen angesäuert.»

Damit rief sie Lukas und mir die Liste mit Zitaten wieder ins Bewusstsein, die ich verfasst hatte. Leise kichernd tauschten wir uns darüber aus. Doch statt uns Einhalt zu gebieten, befeuerte unsere Chorleiterin uns noch.

«Max-Frederick, du entwickelst dich langsam zu meinem Sargnagel!», sagte sie.

Lukas und mich befiel ein Lachkrampf, der kein Ende nahm. Zwar schafften wir es zu singen, wenn es gefordert wurde. Kaum, dass aber Pause war, kicherten wir wieder ungehemmt. Frau Siebenkittel fuhr mich an, doch davon wurde es nicht besser. Jedes Mal, wenn sich einer soweit gefangen hatte, dass er sprechen konnte, sagte er es wieder: «Sargnagel!» Und der Lachkrampf begann von Neuem.

Als wir einziehen mussten, hatten wir uns wieder halbwegs unter Kontrolle. Lukas warnte mich trotzdem: «Ey, wehe, du sagst Sargnagel, wenn wir gleich hochgehen. Ich muss sonst den ganzen Auftritt lachen.»

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Während wir hochgingen flüsterte ich Lukas ins Ohr: «Sargnagel.»

Wir kicherten noch lautlos, als wir oben auf der Empore ankamen, und wir kicherten noch lautlos, als wir wieder von ihr heruntergingen.