Der Tag seiner Ankunft
Perlen von Holstein Folge 84
April 2003
Herr Kaiser sollte seine erste Probe als Leiter des Neuen Knabenchor Hamburgs später wie folgt beschreiben: «Weißt du, Lennart, als ich damals zu meiner ersten Probe mit euch kam – links macht Max-Frederick Jagd auf einen jüngeren Knaben, rechts kabbelst du dich mit Lukas, in der Mitte schiebt Philipp wild irgendwelche Stühle umher – da war ich kurz davor, den Sicherheitsdienst zu rufen.»
Ein schlagender Beweis dafür, dass wir alles richtig gemacht haben. Anderenfalls hätte der Mann es ja nie gelernt. Jedoch: Natürlich war die Sache doch ein bisschen komplizierter.
Es war ein gewöhnlicher Dienstagnachmittag: Wir lungerten im Bereich vor dem Probenraum herum, unterhielten uns über Killerspiele und trugen nicht ernst gemeinte Kämpfe aus. Der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, trat hinzu. Niemand schenkte ihm Beachtung. Etwas hilflos stand er da wie der Held aus dem Film Feuerzangenbowle an seinem ersten Schultag. Erst, als er sich auf die Tür des Großen Studiosaals zubewegte, wurde allmählich Notiz von seiner Gegenwart genommen.
Wir griffen uns unsere Rucksäcke und folgten ihm. Im Probenraum angekommen, öffnete der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, seine Tasche und legte die Noten aufs Klavier. Dann drehte er sich zu uns um.
«So, setzt ihr dann euch bitte hin?», sagte er.
Da war es wieder, dieses Höchstmaß an Höflichkeit, das mir schon während seines Probedirigierens eher unangenehm aufgefallen war. Ganz klar: Menschlich war der Mann das genaue Gegenteil von Frau Siebenkittel. Und das war nichts Gutes. Beim Probedirigieren hatten wir es ihm noch durchgehen lassen, schließlich hatte uns unsere Chorleiterin darum gebeten. Nun aber war sie weg und er war auf sich allein gestellt. Die Schonzeit war zu Ende.
Wir folgten seiner Anweisung zwar, ließen uns dabei aber viel Zeit. Als schlussendlich alle saßen, waren bereits fünf Probenminuten vergangen.
Herr Kaiser ließ sich davon nicht stören.
«Okay», sagte er, «dann gleich zu Beginn eine erste Änderung: Zur Zeit sitzt ja der Alt in der dritten Reihe und der Sopran vorne. Ich möchte jetzt bitte, dass ihr die Plätze wechselt. Und zwar möchte ich, dass der Sopran von mir aus gesehen links sitzt und der Alt rechts.»
Wie bitte? Wir Altknaben, jeder einzelne kurz vor dem Stimmbruch, sollten in der ersten Reihe sitzen? Wie kleine Neue?
«Aber bei Frau Siebenkittel hat der Alt immer in der dritten Reihe gesessen», sagte einer.
«Das ist bestimmt richtig», entgegnete Herr Kaiser, «Nun ist Frau Siebenkittel jetzt aber nicht mehr da.»
Seine Höflichkeit überschritt das zulässige Höchstmaß nun und entglitt ins Übertriebene. War er etwa genervt? Hatte er denn nicht gewusst, dass er den Chor nur leitete, weil irgendjemand den Chor leiten musste, jetzt, wo Frau Siebenkittel weg war?
Es half ja nichts. Er war jetzt hier der Leiter, also mussten wir seinen Anweisungen Folge leisten. Gemächlich trotteten wir zur ersten Reihe. Der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, ertrug es mit Geduld.
«Okay», sagte er, «dann starten wir jetzt mit der Einsingeübung. Singt mal bitte nach.»
Herr Kaiser sang los:
Als wir nun selbst mit Singen an der Reihe waren, fingen einige Knaben an zu kichern. An der Einsingeübung konnte es nicht liegen – die war so unspektakulär, wie eine Einsingeübung nur sein konnte. Erst, als einer von ihnen wild mit den Armen zu fuchteln begann, begriff ich: Es war Herrn Kaisers Art zu Dirigieren, die so für Furore sorgte. Mir war bis jetzt gar nicht aufgefallen, wie sehr sie sich von der Frau Siebenkittels unterschied. Die hatte mit dezenten Handbewegungen den Takt geschlagen und uns ansonsten mit den Augen und den verschiedenen Abstufungen ihres Lächelns geleitet. Herr Kaiser hingegen ruderte mit den Armen, als würde er mit ihnen allein die große Triere durch die peitschenden Stürme der Ägäis manövrieren wollen. Dazu mimte er wie Charlie Chaplin in einer seiner Stummfilme. Ich selbst fand das jetzt nicht direkt lustig – Herrn Schönheit hatte ja nun deutlich ausgefallener dirigiert. Doch, nun ja, Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Herr Kaiser fand es im Übrigen überhaupt nicht witzig.
«Könnt ihr jetzt bitte ein bisschen disziplinierter sein?», sagte er. Sein Höchstmaß an Höflichkeit zeigte tatsächlich ein wenig Wirkung. Zumindest bis zur nächsten Einsingeübung:
Ach, du liebes bisschen. Über Frau Siebenkittels Braucht bricht braunes Brot hatte ich mich ja auch weiß Gott schon oft genug lustig gemacht. Das hatte aber wenigstens nicht nach Lustige Musikanten geklungen.
Über eine Verandatür des Großen Studiosaals gelangte man auf die Außenterrasse der Jugendmusikschule. Sie war ohne Spielgeräte und von daher eigentlich reizlos. Doch weil sie etwas abgeschieden lag, war man hier ungestört. So war sie an warmen Tagen ein beliebter Pausentreffpunkt.
Ich wollte mich gerade dort hinbegeben, als Lukas sich mir in den Weg stellte ich.
«Oh, er hier wieder mit seinen zwei Dojos», sagte ich.
Die Konsequenz war eine um ihrer selbst Willen betriebene Rauferei. Lukas und ich packten uns an den Händen und schubsten uns gegenseitig durch den Raum. Wir taten das wohlgemerkt, obwohl keine drei Meter von uns entfernt Herr Kaiser stand – der Mann, der unseren Chor jetzt leitete. In der Hand eine Kaffeetasse. Er sagte nichts, doch seine Blicke sprachen Bände: The Kaiser was not amused. Was er wohl in unseren Alter in Pause und Freizeit so gemacht hatte? So wie er sich gab, war es eigentlich naheliegend: Er hatte gelesen, er hatte Hausaufgaben gemacht, er hatte immer brav seine Instrumente geübt. Killerspiele hatten ihn nicht interessiert, ebenso wenig gewaltverherrlichende Filme. Er war kurz gesagt etwas gewesen, das man heutzutage in keiner Schulklasse lange am Leben lassen würde. Das mochte man über die meisten Erwachsenen sagen können. Doch die meisten Erwachsenen waren auch wesentlich älter als der Mann, der unseren Chor jetzt leitete.
Die Pause war zu Ende, doch wieder verging eine ganze Weile, bis alle saßen. Herr Kaiser ließ sich zu einem milden Tadel hinreißen.
«Ich möchte bitte, dass ihr nach der Pause pünktlich seid», sagte er.
‹Ich möchte bitte›. Und damit wollte er etwas erreichen. Wobei, wenn ich es recht bedachte, hatte Frau Siebenkittel das auch immer gesagt: ‹Ich möchte bitte› anstelle von ‹Ich will›. Kinder mit ’nem Willen kriegen’s bekanntermaßen auf die Brillen. Sie hatte es aber nicht mit solch einem Höchstmaß an Höflichkeit getan. Doch Frau Siebenkittel, die war jetzt nicht mehr da, wie Herr Kaiser heute schon mindestens fünf Male hatte erinnern müssen. Überhaupt war er ein Mensch, der gerne Dinge erzählte, die eigentlich jeder wusste.
«Ich übertreibe», sagte er, «Ich übertreibe.»
Er bezog sich dabei auf seine Imitation unseres Gesangs. Sie war wohlgemerkt im Vergleich zu denen Frau Siebenkittels äußerst zurückhaltend ausgefallen. Doch Frau Siebenkittel, die war ja jetzt nicht mehr da. Die konnte uns nicht mehr nachkrächzen. Eine Frage aber stellte ich mir: Nähmen wir jetzt einfach mal an, sie würde sich in drei Wochen entschließen zurückzukehren, würde sich später noch irgendjemand an Herrn Kaiser erinnern? Die Antwort konnte zum derzeitigen Zeitpunkt eigentlich nur Nein lauten. Wie ich wohl über die Sache denken würde, wenn er erst einmal drei oder vier Jahre bei uns wäre? Es würde schließlich nicht lange dauern, bis es die ersten Knaben gab, die Frau Siebenkittel nie kennengelernt hatten. Spätestens dann würde er nicht mehr der Mann sein, der unseren Chor jetzt leitete, sondern schlicht unser Chorleiter. So unvorstellbar das momentan auch scheinen mochte.