Neue Musik

Perlen von Holstein Folge 86

Bei seinem Probedirigieren hatte der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, Unser Leben ist ein Schatten mit uns geprobt. Für uns war das ein klares Zeichen gewesen, dass wir es noch weitere fünf Jahre singen würden. Dem war aber nicht so. Es war genauso aus unseren Mappen verschwunden wie Sei Lob und Preis mit Ehren, Wirf dein Anliegen auf den Herrn und auch sonst fast alle Stücke aus den seligen Siebenkittel-Zeiten. Geblieben war einzig Nun ist alles überwunden. Das aber vertrug sich nicht mit Herrn Kaisers Art, die sich so sehr von der seiner Vorgängerin unterschied. Zumindest nach meinem Empfinden. Es war mir deshalb lieber, wir probten die Werke, die er uns mitgebracht hatte.

Jauchzet dem Herrn alle Welt von Mendelssohn war eines davon. Es war, wie der Name vermuten ließ, gediegene Gottesmusik. Dem etwas einschläfernden Anfang folgte bald die obligatorische Stelle, die man am liebsten die ganze Zeit geprobt hätte. «Erkennet, dass der Herr Gott ist! Er hat uns gemacht und nicht wir selbst zu seinem Volk» Da lag eine Spannung in der Luft, die einen beinahe vergessen ließ, dass man derartige Musik niemals hören würde. Zumindest nicht freiwillig. Die nächste Passage aber rief es einem wieder ins Gedächtnis: «und zu Schafen seiner, seine-er, seiner Weide» Das rief mir zwar Bilder jener ländlichen Idylle vor Augen, die ich im Killerspiel Empire Earth auf meinem Weg nach Troja durchquert hatte, doch: Warum zum Geier mussten in Gottesmusik eigentlich immer Schafe, Hirten und Weiden vorkommen? Hatten die Menschen in computerlosen Zeiten wirklich so sehr darauf gestanden? Kein Wunder, dass die Zivilisation früher so langsam vorangekommen war.

Was folgte, war zum Glück der wohl unterhaltsamste Part. «Denn der Herr ist freundlich und seine Gnade wäret ewig und seine Wahrheit für und für, und seine Wahrheit für und für». Das swingte dermaßen, dass ich unwillkürlich zu Wippen anfing. Der Versuchung, auch noch zu schnipsen, konnte ich meist nur schwer widerstehen. Die Krönung war aber so oder so Philipp. Er sang das für und für mit solch blauäugig erscheinender Innbrunst, dass kein Auge trocken bleiben musste. Woher nur nahm der Junge immer all diese Begeisterung?

Zwei weitere Stücke waren Aller Augen warten auf dich Herre und Vater unser von Heinrich Schütz. Sie schienen in irgendeiner Weise zusammenzugehören. Jedenfalls sangen wir sie immer hintereinander weg wie ihrer Zeit Wirf dein Anliegen auf den Herrn und Verleih uns Frieden. Aller Augen warten auf dich Herre war besonders, weil es merkwürdig alt klang und weil es vom Essen handelte. Das hatte es beim Chor noch nicht gegeben. Zumindest bei Gottesmusik nicht. Vater Unser war besonders, weil es das Vaterunser war, nur eben in Liedform. Es war schon sonderbar, einen Text, den man so oft geistesabwesend mitgebrabbelt hatte, auf einmal singen zu müssen. Ob ich die einzelnen Textpassagen beim nächsten Gottesdienst wohl in die richtige Reihenfolge würde bringen können? Wohl kaum.

Neben der Tatsache, dass sie beide irgendwie besonders waren, einte die Stücke, dass sie zu Herrn Kaiser passten. Sie waren recht unterkühlt und doch, eine gewisse weltfremde Begeisterung für das, was man tat, war da. Und so sehr mir Frau Siebenkittel und ihre Probenkommentare fehlten: Irgendwie war es doch ganz schön, nach so vielen Jahren einmal etwas völlig anderes zu singen.