Der Kaiser ganz privat
Perlen von Holstein Folge 88
Jannis war kein Knabe gewesen, mit dem ich besonders viel zu tun gehabt hatte. Dennoch brachte sein Weggang für mich eine Änderung mit sich. Seit einiger Zeit hatte ich zusammen mit ihm und Max-Frederick vor der Donnerstagsprobe Stimmbildung gehabt. Max-Frederick hatte, gelinde gesagt, nicht viel für Jannis übrig gehabt. Er hatte ihn, um genau zu sein, als ziemlich behindert betrachtet. Wann immer er konnte, hatte er zum ihn Opfer seiner Späße gemacht. Der Junge hatte meist wenig entgegenzusetzen gehabt.
Weil ich selbstredend auch wenig für jemanden übrig hatte, der so erwiesenermaßen behindert war, hatte ich Max-Frederick zur Seite gestanden. Die Gegenattacken waren meistens gegen mich gerichtet gewesen, doch hatte ich mir keine Sorgen zu machen brauchen: Was witzig und wer behindert war, hatte noch immer Max-Frederick bestimmt. Und ich hatte heilfroh sein können, nicht mehr derjenige zu sein, der hier als behindert eingestuft wurde. Zur Strafe für dessen Versuche, an der von ihm festgeschriebenen Ordnung zu rütteln, hatte Max-Frederick Jannis oft sein Kickboard weggenommen.
Den Rauswurf von Jannis betrachtete Max-Frederick selbstredend als die beste Führungsentscheidung, die jemals getroffen wurde. Doch hatten wir jetzt nicht etwa zu zweit Stimmbildung. Ich hatte alleine Stimmbildung. Max-Frederick kam aus irgendwelchen Gründen nicht mehr.
Die wöchentliche Stimmbildung gehörte nicht zum Standardportfolio der Chormitgliedschaft. In deren Genuss kamen Knaben, deren Eltern sich diesen Luxus leisten konnten. Meine Mutter leistete ihn sich, weil es ursprünglich geheißen hatte, dass Frau Siebenkittel auch weiterhin für ihn zuständig sein würde. So zumindest hatte es damals in dem Brief gestanden, in dem sie uns über ihren Fortgang informiert hatte. Es war jedoch anders gekommen. Herr Kaiser hatte nicht nur den Chor, sondern auch die Stimmbildung übernommen.
Die Stimmbildung bei Frau Siebenkittel war ähnlich einmalig gewesen wie die Proben. Das mit der richtigen Atemtechnik etwa hatte sie einem schon einmal am lebenden Objekt demonstriert.
«Lenni-Löwe, fass mir mal auf den Bauch und fühl mal, wie tief ich beim Singen atme – Jetzt musst du Einsfünfzig bezahlen, weil du mir auf den Bauch fassen durftest.»
Die Stimmbildung bei Herrn Kaiser bot derartiges nicht. Dafür erlebte man, dass der Mann nicht nur höflich, sondern auch freundlich sein konnte. Väterlich freundlich, um genau zu sein. Er erinnerte mich damit immer ein wenig an Werner von Croy. Der hatte einem im Einführungslevel von Tomb Raider IV stets mit vom Herzen kommender Jovialität erklärt, wie all die tödlichen Fallen zu überwinden waren, die in dem Killerspiel lauerten. Er hatte zu diesem Zeitpunkt ja nicht ahnen können, dass er einem nur wenig später selbst nach dem Leben trachten würde.
Natürlich ging es in der Stimmbildung nicht ganz so aufregend zu. Trotzdem tat Herr Kaiser etwas für ihn Untypisches: Er lachte. Nicht über mich, sondern über das Stück, was er mich singen ließ: So oft ich meine Tabakspfeife von Johann Sebastian Bach.
«So oft ich meine Tabakspfeife mit gutem Knaster angefüllt, zu Lust und Zeitvertreib ergreife, so gibt sie mir ein Trauerbild. Und füget diese Lehre bei, dass ich derselbigen ähnlich sei.»
Herr Kaiser lachte bereits darüber. Und mit jeder Strophe, die danach kam, lachte er noch mehr. Der Höhepunkt war für ihn die vorletzte:
«Wie oft geschieht’s nicht bei dem Rauchen, dass, wenn der Stopfer nicht zur Hand, man pflegt den Finger zu gebrauchen, dann denk’ ich, wenn ich mich verbrannt: O, macht die Kohle solche Pein, wie heiß mag erst die Hölle sein?»
«Ach, das ist so toll, wie er den verarscht», sagte Herr Kaiser.
Ich verwunderte mich der Rede. Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass das Wort verarscht in seinem aktiven Wortschatz überhaupt vorkam. Ich fragte mich zudem, was genau er eigentlich meinte, wenn er sagte: verarscht. Wenn man fürchtete, in die Hölle zu kommen, war die Frage, wie heiß es dort war, doch durchaus berechtigt. Und es gab doch bestimmt eine Menge Situationen, in denen man daran denken musste. Warum also nicht beim Rauchen der Tabakpfeife. Ich dachte beim Spielen meiner Killerspiele auch über alle möglichen Dinge nach. Genau genommen gab es für mich kaum eine bessere Gelegenheit zu sinnieren, als beim entspannten Durchrennen virtueller Katakomben. Woher wollte Herr Kaiser also wissen, ob das Stück nicht ernst gemeint war? Es klang mit seiner Moll-Linie doch sehr danach und war zudem von Bach. Und Musik von Bach war, anders als Musik von Mozart, doch eigentlich immer ernst gemeint.
Wahrscheinlich hatte der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, einfach nur einen etwas seltsamen Humor.