Von guten Mächten wunderbar geborgen

Perlen von Hostein Folge 92

Herr Kaiser hatte das Chorwochenende genutzt, um unser Repertoire ein wenig zu erweitern. Eines der neuen Stücke war Frühlingsfeier von Felix Mendelssohn Bartholdy. Ungewöhnlich daran war auf den ersten Blick allenfalls gewesen, dass es zwar von Mendelssohn, aber kein Gotteslied war. Doch warum sollte sich ein Mensch, der sich für Gott begeistert, nicht auch für den Frühling begeistern? Das hatten vor hundert Jahren schließlich alle Menschen getan. Natürlich: Inhaltlich war Schreckliches zu befürchten, das war mir von Anfang an bewusst gewesen. Doch war ich hier Anderes gewohnt?

Schnell war allerdings klar gewesen: An jenem Tag, an dem Mendelssohn dieses Lied komponiert hatte, hatte er eine Messlatte gesetzt. Die Messlatte hinsichtlich dessen, was in der Musik an Absurdität eigentlich möglich war.

«Süßer gold’ner Frühlingsta-a-ag, innige-es E-entzücken. We-enn mir je e-ein Li-ied gelang, sollt es heut’, sollt es heut’ nicht glücken?»

«Was ist das denn für ein Kack?», sagte Max-Frederick, doch jemand anders hatte ihm längst die Show gestohlen.

Philipps Gesichtsausdruck zeugte, harmlos ausgedrückt, von maßlosem Entsetzen. Fassungslos starrte er das Notenblatt an. Die Zehennägel hatten sich ihm soeben offenbar nicht einfach aufgerollt. Die hatten sich abgelöst, waren davongekullert und vom Erdkreis geplumpst.

Er ließ noch einmal Revue passieren, was wir da gerade gesungen hatten: «‹Süßer gold’ner Frühlingstag, inniges Entzücken. Wenn mir je ein Lied gelang, sollt’ es heut’ nicht glücken?› Wie bescheuert ist das denn, alleine: ‹nicht glücken›!»

Eine solche Steilvorlage nicht zu nutzen, wäre eine Schande gewesen. Ich sang los: «Süßer gold’ner Frühlingsta-a-ag, innige-es E-entzücken –»

«Oh, nein, hör auf!»

«We-enn mir je e-ein Li-ied gelang –»

Philipp hielt sich die Ohren zu. Ich kicherte. Mit welcher Intensität er Personen und Dinge hassen konnte, es war einfach nur herrlich. Den Aaronitischen Segen von Helmut Duffe, das erste Stück, das wir unter Herrn Kaiser gesungen hatten, mochte er übrigens ebenso wenig.

Mit tiefster Verachtung sprach er den Namen des Meisters aus, der das Werk komponiert hatte. Man musste bemerken, dass er sich dafür ausgesprochen gut eignete. Es folgte die obligatorische Verballhornung des Textes: «Der Herr quäle dich – Er zersäge dich –»

Das griff ich nur zu gerne auf: «Der Herr lasse seine Atombombe-e fallen über dir – Sei dir nicht gnädig. Der Herr schicke seine Streitkräfte auf dich, gönn dir keinen Frieden. Amen.»

Philipp jauchzte und frohlockte. Dann sprach er noch einmal den Namen des Meister aus, der das Werk komponiert hatte. Mit welcher Intensität er Personen und Dinge hassen konnte, es war einfach nur herrlich. Es war wohl nicht geboten, offen auszusprechen, dass ich dem Herrn Duffe für das Stück eigentlich ganz dankbar war. In meiner gegenwärtigen Lebenssituation sprach es mich irgendwie an. Das war merkwürdig, ansonsten waren diese Gotteslieder für mich ja nur die Geschichten und das Geschwätz von vor dreihundert Jahren. Es hing vielleicht damit zusammen, dass der Aaronitische Segen von Helmut Duffe nicht dreihundert Jahre alt, sondern von 2001 war. Ein Jahr, in dem – zumindest in der Schule – die Welt noch in Ordnung gewesen war. Das war sie schon lange nicht mehr. Die Lage hatte sich sogar noch weiter verschlechtert.

Seit einigen Wochen schon lauerten mir auf dem Schulweg drei Schüler der benachbarten Gesamtschule auf. Entkommen konnte ich ihnen nicht. Der einst vorhandene Direktzugang zu unserem Gymnasium war vor einigen Jahren abgerissen wurden. Ich musste Tag für Tag das Revier der Gesamtschüler durchqueren. Ein Spießrutenlauf, bei dem ich schon ins Gebüsch und um ein Haar in den Straßengraben befördert worden war. Für die Dauer einer Viertelstunde verwandelte sich die Welt in einen gefährlichen, feindseligen Ort. Einen, an dem ich den Launen der Stärkeren auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Einen, der mit der Lebenswirklichkeit, die man in Nachrichten und Fernsehdokumentationen sehen konnte, nichts gemein hatte. Der aber doch das wahre Leben zu sein schien, die wahre Wirklichkeit, die wahre Stadt, in der ich lebte und die ich als meine Heimat empfand. Sie war für mich immer ein Hort der Zivilisation gewesen. Was mir widerfuhr, durfte einem hier doch gar nicht geschehen. Allen Menschen, die ich sonst hier traf und kannte, waren derartige Verhaltensweisen völlig fremd. Und genau deshalb würden sie mir nicht helfen können. Dieses wahre Leben war etwas, das sie gar nicht kannten und auch gar nicht kennen wollten. Ich war ganz alleine.

Die übrigen mehr als dreiundzwanzig Stunden des Tages blieben von den Zusammenstößen mit den Gesamtschülern ganz und gar unberührt. Meine Gedanken kreisten dennoch ständig darum. Sie taten das auch, als ich am U-Bahnhof Hallerstraße ein Plakat sah. Darauf war eine Frau zu sehen, wie sie alleine durch eine Menschenmenge lief. Darüber stand der Text des Aaronitischen Segens: Der Herr segne dich, er behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.»

Ich wusste, dass mir diese Worte auf dem Revier der Gesamtschüler nicht viel nützten. Doch galt das für meine Killerspiele und die Musik, die ich hörte, gleichermaßen. Sie halfen trotzdem, mir vorzustellen, dass alles ganz anders wäre. Und das war schön.

Derartige Gedanken waren keine, von denen ich Philipp erzählen konnte. Wenn er gewusst hätte, was ich eigentlich war, mein Name wäre von ihm mit noch viel mehr Verachtung ausgesprochen worden als der Helmut Duffes.