Der Bruch
Perlen von Holstein Folge 93
Oktober 2003
Nicht nur in den Geschäften, auch im Chor hatte Weihnachten dieses Jahr früh angefangen. Herr Kaiser hatte nicht wenigen von uns einen lange gehegten Wunsch erfüllt und das Repertoire für die schönste Zeit des Jahres komplett über den Haufen geworfen. Das hatte es erforderlich gemacht, dass wir nicht wie sonst erst zwei Wochen vor Beginn der Weihnachtssaison, in Maschen, mit den Proben anfingen. Und so übten wir bereits seit September Weihnachtslieder.
Natürlich hatte Herr Kaiser nicht alle Stücke abgeschafft. Es ist ein Ros entsprungen und In dulci jubilo waren uns erhalten geblieben. Letzteres wohl schon alleine deshalb, weil wir sonst das alljährliche Konzert in St. Jacobi hätten umbenennen müssen. Wir sangen allerdings nicht den altvertrauten Satz von Michael Praetorius, sondern einen von Johann Sebastian Bach.
Den Namen Michael Praetorius hatte ich noch nie irgendwo anders gelesen als auf einem der Notenblätter unseres Weihnachtsprogrammes. Jemanden von ihm schwärmen hören hatte ich erst recht nicht. Dennoch hatte ich seinen Satz immer gemocht. Den Namen Johann Sebastian Bach hatte ich in meinem Leben schon ganz häufig gelesen. Und ins Schwärmen geriet ständig irgendwer über ihn. Dennoch mochte ich seinen Satz definitiv nicht. Der Meister bewies eindrucksvoll, dass Musik auch nach einem großen Durcheinander klingen konnte, wenn alle Stimmen gleichzeitig sangen. Besonders die Bass-Stimme hielt niemals still, sondern bewegte sich permanent auf und ab. Was daran so toll sein sollte, sollte mir mal einer erklären. Wobei: Eigentlich wollte ich es gar nicht wissen. Eigentlich interessierte es mich überhaupt nicht. Warum sangen wir nicht einfach weiter den Satz von Praetorius? Der hatte auch ohne Schwärmereien seinen Zweck immer mehr als erfüllt.
Besser gefielen mir da doch die Stücke, die komplett neu waren, besonders In The Bleak Midwinter. Beim Singen fühlte man sich wirklich ein wenig, wie wenn man in einer klaren Winternacht friedlich durch den Schnee spazierte. Die Weihnachtsferien waren da, die Klassenarbeiten und die Konzerte vorbei, und alle Sorgen waren fürs Erste dahin. Für zwei Wochen schien die Welt stillzustehen. Kurz, es war wie das Killerspiel Battle Realms: Winter of the Wolf. Ich hatte es letzten Dezember gespielt und mich an den herunterrieselnden Schneekristallen niemals satt sehen können. Sie hatten den Erkundungsreisen zwischen dem Schlachtengetümmel einen irgendwie heimeligen Touch verliehen.
Ja, Weihnachten begann dieses Jahr früh und trotzdem: Für mich würde es ausfallen. Herr Kaiser hatte mir vor Kurzem mitgeteilt, dass es das mit der Alt-Stimme bald auch schon wieder gewesen sein würde. Die Zeit war gekommen, nicht mehr lange und ich würde Bass sein. Oder Tenor, wenn es nach dem Mann ginge, der unseren Chor jetzt leitete.
Ich war froh darüber. Mit fünfzehn Jahren wollte ich nun doch allmählich kein Knabe mehr sein. Andere kamen schließlich schon mit dreizehn in den Stimmbruch. Und mit sechzehn oder gar siebzehn Jahren noch mit greller Kinderstimme zu sprechen zu müssen, war etwas, das ich mir gar nicht vorstellen wollte. Ich bot den lieben Mitschülern ja weiß Gott schon genug Angriffspunkte.
Außerdem würden die Proben am Dienstag und Donnerstag für mich bis auf Weiteres ausfallen. Endlich hätte ich auch an Werktagen genügend Zeit für all meine Killerspiele.
Anders als meine Mutter mir früher erzählt hatte, kam der Stimmbruch jedoch nicht einfach von einer Sekunde auf die nächste, inmitten eines ergreifenden Solos. Der Zeitpunkt seines Eintretens war ein Stück weit vorhersehbar. Und Herr Kaiser hatte gutes Vertrauen, dass ich ein letztes Konzert noch schaffen würde. Es fand in einer hässlichen Neubau-Kirche in irgendeinem gutbürgerlichen Viertel Hamburgs statt.
Als meine Mutter und ich dort ankamen, waren Marc und Herr Kaiser bereits da.
«Ach, Lennart», sagte Marc, «dass ich es tatsächlich noch erleben werde, dass du zu uns in den Männerchor kommst.»
«Naja, wenn ich dann aber wirklich einen Anzug tragen muss, trete ich aus», erwiderte ich.
Marc lachte.
«Ach, Lennart», sagte er, «weißt du denn nicht, dass die Kündigungsfrist hier zwanzig Jahre beträgt.»
«Das ist mir neu.»
«Du warst eben auf der letzten Vorstandssitzung nicht dabei, als Ulrich und ich das beschlossen haben, was, Ulrich?»
Ulrich, also Herrn Kaiser, war gar nicht zum Lachen zumute.
«Also, Lennart, du wirst doch aber zumindest mal ausprobieren wollen, ob dir so ein Anzug nicht vielleicht doch steht, oder?»
Er schien tatsächlich zu glauben, dass meine Ankündigung ernst gemeint gewesen war. Aber wie hatte jemand, der erst seit einem halben Jahr hier war, diesen Insider-Witz auch verstehen sollen. Er hatte ja nicht miterlebt wie Christian damals vor dem Chorwettbewerb in den Stimmbruch gekommen war. Frau Siebenkittel hatte ihm zwar letztlich doch nichts abgeschnitten. Wirklich über den Verlust seiner Alt-Stimme hinweggetröstet hatte ihn das aber nicht. Noch jahrelang war er zu allen Konzerten im roten Pullover erschienen. Frau Siebenkittel hatte ihm das durchgehen lassen. Niemand war schließlich so traurig darüber gewesen wie sie, dass er kein Knabe mehr gewesen war.
Ob Herr Kaiser es ebenso dulden würde, wenn jemand einfach weiter den roten Pullover trug? Ich konnte es mir nur schwer vorstellen. Normverstöße gleich welcher Art passten einfach nicht zu ihm oder einem Chor, den er leitete. Doch das störte mich nicht. Ich würde mich ohne Zweifel in einem Anzug komisch fühlen, doch tat ich das in meinen gegenwärtigen Chorklamotten seit geraumer Zeit ebenso.
Mein letztes Konzert als Knabe verlief unspektakulär. Wir sangen Jauchzet dem Herren, Aller Augen warten auf dich, Herre und den Aaronitischen Segen, die Leute klatschten, nach einer Stunde war alles überstanden.
Ich machte mir nicht die Mühe, mich von meinen Chorkameraden groß zu verabschieden. Ich wollte nach Hause an meinen Computer, zu Deus Ex und zu Zero Hour. Es war ja kein Abschied auf Dauer. Wie lange dauerte ein solcher Stimmbruch schon? Drei Monate allerhöchstens. Außerdem würde ich zumindest zwei meiner Sangesbrüder schon in drei Tagen wiedersehen, denn: Vollständig befreit von wöchentlichen Chorterminen war ich nicht.