Teenage Mutant Choir Boys
Perlen von Holstein Folge 94
Januar 2004
Das Wort ‹Mutant› im Bezug auf einen Sänger im Stimmbruch hatte ich das erste Mal vor zwei Jahren gehört. Frau Siebenkittel hatte bei unserem Auftritt bei Sonntakte ein Interview gegeben und dabei von ‹unseren Mutanten› gesprochen, die heute leider nicht hier sein könnten. Ein Raunen war durch die Runde gegangen. Mit dem Begriff ‹Mutant› verband man ja nun gemeinhin etwas Anderes. Ich verstand darunter jene von der radioaktiven Strahlung verunstalteten Wesen aus dem Killerspiel KKND 2: Krossfire. Eines von ihnen hatte einen faustgroßen Mitesser im Gesicht, dem zum allem, was sein Wirt sagte, ein böswilliger Kommentar einfiel.
Natürlich hatte ich das Naheliegende geglaubt: dass es sich bei der Verwendung des Wortes ‹Mutant› im Bezug auf einen Sänger im Stimmbruch um einen Witz Frau Siebenkittels handelte. Sie war schließlich für eigenwillige Wortschöpfungen und -umdeutungen bekannt.
Dann aber hatte Herr Kaiser bei seinem Probedirigieren erzählt, dass er für die Stimmwechsler einen Mutantenchor schaffen wolle. Damit wollte er dem Problem begegnen, dass viele Sänger, die in den Stimmbruch gingen, nie wieder aus ihm zurückkehrten. Zumindest nicht in den Chor. Allzu vielen wurde wohl im Stimmwechsel erst richtig bewusst, für was man seine kostbare Freizeit alles verwenden könnte, wenn man nicht dauernd zur Probe rennen müsste. Zudem konnten schon einmal einige Monate vergehen, bis die neue Männerstimme einsatzfähig war. Und dann galt ganz schnell: Aus den Augen, aus dem Sinn.
Doch damit war nun Schluss. Mit dem Stimmbruch von David, Moritz Von Und Zu, nicht zu verwechseln mit Türschubser-Moritz, und mir hatte der Mutantenchor den regulären Betrieb aufgenommen.
Wir drei waren von Beginn an mit eher verhaltenem Optimismus an die Sache herangegangen. Alle Stimmwechsler vor uns hatten Wochen und Monate den Chor schwänzen dürfen und wir durften das nun also nicht? Zu allem Überfluss hatte sich dann auch noch schnell herausgestellt: Die Bezeichnung Mutantenchor war dreister Etikettenschwindel. Zumindest, was den Wortteil Chor anbelangte.
Die dieswöchige Mutantenchorprobe begann, wie alle bisherigen Mutantenchorproben begonnen hatten. David, Moritz Von Und Zu und ich saßen auf der knallbunten wie unergonomischen Sofaecke vor dem Seminarraum und warteten. Eigentlich warteten wir nicht. Eigentlich hofften wir darauf, dass die Probe heute aus irgendeinem Grunde ausfallen würde.
Doch Herr Kaiser kam. Überpünktlich, wie immer.
Ich machte eine beschwörende Geste in seine Richtung und flüsterte: «Herzinfarkt, Herzinfarkt, Herzinfarkt –»
David machte mit: «Schlaganfall, Schlaganfall, Schlaganfall –»
Herr Kaiser hörte wohl, was wir sagten. Er verstand sicher auch, um wen es ging, doch er ging nicht darauf ein.
«Wollt ihr dann mal langsam reinkommen?», sagte er nur.
Dann schloss er den Raum auf. Wir trotteten ihm hinterher.
Das Spielchen, Herzinfarkt zu flüstern und beschwörende Gesten zu machen, kannte ich von einem Klassenkameraden. Einem der immer gerne mit mir die Zeit verbrachte, wenn nicht gerade große Pause war. Er hatte unseren Lateinlehrer mit dem Spielchen bedacht, als dieser die Zettel der heutigen Klassenarbeit verteilt hatte. Einen Herzinfarkt hatte der Mann nicht bekommen. Das war auch gar nicht nötig gewesen. Wir hatten dieses Mal keine Sechs, sondern immerhin eine Fünf minus geschrieben.
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Mit der lateinischen Sprache auf Kriegsfuß zu stehen, kommt in den besten, ja, in den allerbesten Familien vor. In einem Schulheft von Johann Sebastian Bachs Erstgeborenem Wilhelm Friedemann finden sich – neben rotzfrechen Lehrer-Karikaturen – interessante Übersetzungen lateinischer Sprichwörter. Aus «Sua veritati est acritudo», «Der Wahrheit eignet eine Säuerlichkeit», machte er «Die Wahrheit reucht in die Nasen wie die Zwiebel», aus «Sui nihil cum amaricino», «Der Sau ist’s nichts mit Majoran» «Die Sau hat lieber Koth als Palsam». Ob es sich hierbei um Scherze, Verballhornungen oder schlicht Fehlübersetzungen handelt: Der Autor kann es nicht sagen. Er hat von dem Lateinischen kein Wort verstanden.
Dem Lateinunterricht entstammte auch der Zettel, den ich jetzt hervorholte. Darauf war eine Zeichnung von einer Menschenmenge zu sehen, die von herabfallenden Fünfen erschlagen wurde. Mein Klassenkamerad hatte sie auf meinen Vorschlag hin gemalt, nachdem unser Lehrer geäußert hatte: «Es wird Fünfen hageln, hört ihr? Es wird Fünfen hageln!»
Wir hatten das noch ein wenig weitergesponnen.
«Ja, und dann stell dir vor», hatte ich gesagt, «zwischen den ganzen Fünfen kommt ganz langsam eine Eins auf jemanden herabgesegelt, und der freut sich schon: ‹Juhu, ich hab ’ne Eins!› Und kurz bevor sie seinen Kopf berührt, wird er auch von einer Fünf erschlagen.»
Mein Klassenkamerad hatte daraufhin den Zettel umgedreht, zu einem Heftchen gefaltet und eine kleine Bilderserie gemalt. Die erste Seite zeigte eine Eins. Blätterte man um, wurde sie von einer herabfallenden Fünf erschlagen. Blätterte man noch mal um, wurde jene von einer herabfallenden Sechs erschlagen. Wir beide hatten uns krumm und schief gelacht.
Ich musste das Bild unbedingt David zeigen.
Der stürzte sich begeistert darauf und begann sogleich, mit Filzstift noch einige Ergänzungen vorzunehmen. Von dem, was Herr Kaiser vorne an dem Whiteboard trieb, bekamen wir so natürlich nicht viel mit. Dementsprechend perplex war der gute David, als der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, ihn fragte: «David, was für ein Intervall ist das?»
Zeit, meinem Sangesbruder zur Hilfe zu eilen.
«Quinte – Quinte –», hustete ich.
David und Moritz kicherten.
«Lennart, würdest du den anderen beiden bitte nicht immer alles vorsagen?», sagte Herr Kaiser.
«Jaja –», erwiderte ich.
Doch kaum, dass der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, David die nächste Frage gestellt hatte, ging das Spielchen wieder los.
«F-Dur – F-Dur –», hustete ich.
David und Moritz kicherten. Herr Kaiser stand einige Sekunden stumm da und schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte. Was wir vorzuschlagen gehabt hätten, wusste er hingegen sehr wohl, doch er tat es nicht. Er machte weiter seine Noten- und Intervalllehre. Das Problem war: David konnte nichts davon und er wollte es auch nicht können. Moritz konnte den Bass-Schlüssel lesen und das genügte ihm auch. Ich konnte nach Jahren des Klavierunterricht alles und war hier eigentlich völlig fehl am Platze.
Dennoch ließ Herr Kaiser mich in der Einzelstimmbildung und hier im Mutantenchor erbarmungslos stapelweise Zettel mit Intervallübungen ausfüllen. Er selbst hatte sie gemacht und auf buntem Papier ausgedruckt. Mein Klarinettenlehrer war begeistert davon. Erst neulich hatte ich ihm wieder einen ganzen Haufen für seine Söhne mitbringen müssen. Ich hingegen konnte mich nur wenig dafür erwärmen, mich auf der Fähre statt mit meiner Killerspielzeitschrift mit Herrn Kaisers Zetteln befassen zu müssen. Mit ihrem staubtrockenen Inhalt auf farbenfrohem Grund erinnerten sie mich irgendwie an eine CD mit Lernsoftware, die mal bei uns zuhause herumgelegen hatte. «Schreiben – Rechnen – Spielen» hatte auf deren Hülle gestanden. Darüber war ein Clown abgebildet gewesen, dessen Lachen reichlich gequält gewirkt hatte.
Immerhin füllte ich meine Zettel überhaupt aus. Davids beließ seine meist in ihrem jungfräulichen Zustand. Was sollte der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, auch machen? Uns einen Brief für unsere Eltern mitgeben?
Eineinhalb Stunden dauerte der Mutantenchor jedes Mal. Eine Stunde davon war inzwischen vorüber. Wir machten eine Pause. David, Moritz Von Und Zu und ich unterhielten uns über die gleichen Themen, über die wir uns zuvor auch schon unterhalten hatten. Herr Kaiser öffnete das Fenster. Sperrangelweit. Mitten im Januar. Schnell hatte sich eine arktische Kälte im Raum breit gemacht.
«Fenster zu, es ist kalt!», brüllte ich an niemanden gerichtet.
Herr Kaiser fühlte sich trotzdem angesprochen.
«Ja, Lennart, also das kann man auch anders sagen –», sagte er. Dann schloss er untertänigst das Fenster.
Die Pause war zu Ende, doch der Spaß ging jetzt erst so richtig los. Moritz holte seine beiden Bücher hervor. ‹Fear Street› stand auf ihnen in betont gruseligen Lettern, darunter der jeweilige Buchtitel: ‹Schulschluss› oder ‹Sonnenbrand›.
David lief zur Höchstform auf.
«Sonnenbrrrand», flüsterte er, «Sonnenbrrrand» Dabei machte er eine vom Satan besessene Miene und rollte unheilvoll das R.
Ich kam aus dem Kichern nicht mehr hinaus. Dabei hatte David noch nicht gar nicht den gesamten Ambitus seiner mutierenden Stimme eingesetzt. Das tat er erst, wenn der wirklich absurd komische Titel an der Reihe war. Ich wartete nur drauf, doch David schien mich noch ein wenig auf die Folter spannen zu wollen. Schließlich aber war es so weit.
Nun gab es endgültig kein Halten und keine Noten- und Intervalllehre mehr. Als das letzte Woche passiert war, war Herr Kaiser mehrere Minuten nach draußen gegangen. Heute aber blieb er standhaft. Seine Geduld sollte sich auszahlen. Zehn Minuten später hatte die Sache an Witz verloren. Zumindest für diese Woche. Was nicht bedeuten sollte, dass wir jetzt konzentriert mitgearbeitet hätten. Im Gegenteil: Wir hatten jetzt erst recht ein Ziel vor Augen.
«Da am Ende des Stücks gehört ein Schlussstrich hin», sagte ich, «Apropos Schlussstrich: Können wir heute wieder früher Schluss machen, Herr Kaiser?»
«Wenn ihr jetzt ruhig und konzentriert mitarbeitet, können wir darüber nachdenken, Lennart – Also, David, was ist das für ein Intervall?»
«Terz – Terz –», hustete ich.
David und Moritz kicherten. Herr Kaiser blickte resigniert.
Zwanzig Minuten lang mussten wir uns immer neue Andeutungen einfallen lassen, bis er endlich klein beigab. Auch diese Woche machten wir wieder fünf Minuten eher Schluss.
«Also dann: Geht», sagte Herr Kaiser, «Geht mit Gott, aber geht.»