Des Kaisers neuer Knabenchor
Perlen von Holstein Folge 100
Es war Herrn Kaisers ewiges Trauma.
«Wisst ihr, damals bei Frau Siebenkittels Abschiedskonzert: Zwei Männerreihen. Könnt ihr euch vorstellen, wie ich da gestaunt habe? Noch nie habe ich einen Knabenchor mit so vielen Männern gesehen. Und dann komme ich zu meiner ersten Probe mit den Männern und meine erste Frage lautete: ‹Ja, wo sind die denn alle hin?› Und dann stellte sich heraus, dass die meisten von denen schon lange gar nicht mehr im Chor mitgesungen haben, sondern nur bei dem Auftritt noch einmal dabei sein wollten.»
Und das war erst der Beginn des langen Leidensweges des Ulrich Kaiser gewesen. Er hatte nun nämlich nicht glauben sollen, dass die Männer, die bei seiner ersten Probe dabei waren, bei der zweiten oder dritten auch noch dabei sein würden. Ich selbst war ein wenig schockiert darüber, wie sehr sich die Männerreihe in den vergangenen zwei Jahren gelichtet hatte. Jonas, Klaas und Löning waren verschwunden. Türschubser-Moritz war verschwunden. Andrej war verschwunden. Guido war verschwunden. Genau genommen waren von den Männern, mit denen sich Annika und Andrea in Amerika vergnügt hatten, noch zwei Personen übrig: Zwergo und Morle.
Kaum anders sah die Situation bei den Knaben aus: Neben Philipp, Frans und Gaming-Max konnte ich noch vier, vielleicht fünf weitere bekannte Gesichter aufzählen. Das war anders als bei den Männern nicht unbedingt dramatisch. Mehr oder minder sangeswütige Knaben gab es schließlich wie Sand am Meer. Sollte heißen: Die Reihen waren mit lauter Knirpsen gefüllt, die ich noch nie im Leben gesehen hatte. Einige sahen so jung aus, dass ich mich fragte: Waren die überhaupt schon auf der Welt gewesen, als ich in den Knabenchor eingetreten war?
Gleichwohl es viele mehr oder minder sangeswütige Knaben gab, war es natürlich eine beachtliche Leistung, diese alle zu mobilisieren. Herr Kaiser konnte mächtig stolz sein auf sich und seine Rekrutierungsmethoden. Seine Ankündigung, jeder Schulklasse in ganz Hamburg einen Besuch abzustatten, hatte er tatsächlich wahr gemacht. Und der Erfolg hatte selbst hartnäckige Zweifler wie meine Mutter verstummen lassen. Unser Chor erhielt viel Zulauf. So viel, dass aus einem Vorchor mittlerweile drei geworden waren. Einer für die ganz jungen, einer für die Schulanfänger und einer für die, die sich Hoffnungen auf den Hauptchor machen konnten. Ob diese Neuerung sinnvoll oder gar nutzbringend war, konnte man natürlich noch nicht absehen. Für meine Mutter Grund genug, Zweifel daran anzumelden.
«Der Kaiser mit seinen ganzen Vorchören, sowas habt ihr doch früher auch nicht gebraucht –»
Eher mit Belustigung zur Kenntnis nahm sie Herrn Kaisers Maßnahmen, einer Überfremdung des Chores durch die zahlreichen Neuzugänge vorzubeugen. Um sie von Anfang an zu integrieren, ließ er sie Steckbriefe ausfüllen. Diese hingen prominent an den Mappenschränken des Chores. Sie standen in der Jugendmusikschule unweit des Raumes, in dem der Mutantenchor probte. Hier mussten wir vor und nach jeder Probe hin. Mit Herrn Kaiser waren nämlich auch die Zeiten vorbei, in denen jeder seine Mappe selbst mitbrachte und befüllte. Stattdessen gab es nun Einheitsmappen, für deren Bestückung mit Noten die Mutanten zuständig waren.
«Bei solchen Sachen merkst du echt, dass der Kaiser aus der DDR kommt», sagte meine Mutter, «Diese Steckbriefe hingen da auch immer überall in den Heimen rum.»
Andere Neuerungen stießen bei ihr hingegen auf deutliche Skepsis. Allen voran das überarbeitete Logo und die dazugehörige Corporate Identity. Gelernt hatte sie diesen Ausdruck auf der jüngsten Vollversammlung. Zusammen mit dem Begriff Fundraising.
Was Fundraising war, konnte ich mir in etwa denken. Das hieß, dass man tat, was der Programmierer eines Killerspiels gemacht hatte, von dem ich einst eine Testversion besessen hatte. In jener Testversion war nach einiger Zeit folgende Nachricht auf dem Bildschirm erschienen: «Wenn Sie diesen Text hier lesen, bedeutet das, dass der Entwickler dieses Spiels noch keinen Pfennig für seine Arbeit bekommen hat.» Dabei war es auch geblieben, denn der Entwickler dieses Spiels hatte fürwahr einen grottenhässlichen, sterbenslangweiligen Spielspaßkiller abgeliefert.
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Welche Methoden des Fundraising letztlich auch immer zum Einsatz gekommen sein mögen, wir haben dabei noch eher die Würde bewahren können als einst der große Thomanerchor. Dessen Sänger mussten in vergangenen Jahrhunderten durch Leipzig vagabundieren, um mit ihrem Gesang Brot und das Gehalt der Lehrer zu finanzieren.
Unter dem Ausdruck Corporate Identity konnte ich mir sowohl eine ganze Menge als auch überhaupt nichts vorstellen. Und das war vermutlich auch ganz im Sinne des Erfinders. Unsere Corporate Identity war wohl das Blau, das nun all unsere Flyer, Plakate und sonstigen Schriftstücke bestimmte. Blau war auch das neue Logo. Zumindest größtenteils. Sein Herz bildeten noch immer die scheinbar handschriftlichen drei roten und zwei schwarzen Striche. Nur, dass die roten Striche jetzt purpurn und die schwarzen jetzt weiß waren. Das war schon ein etwas seltsamer Einfall. Die Striche nämlich hatten nach meiner Auffassung nicht nur stilisierte Notenlinien, sondern vor allem auch einen stilisierten Neuen Knabenchor Hamburg darstellen sollen. Drei Reihen mit Knaben in roten Pullovern, zwei Reihen mit Männern in schwarzen Anzügen. Diese beiden Farben hätten sich aber wohl nicht mit dem Blau verstanden, das, wie gesagt, unser Logo nun größtenteils ausmachte. Es war den fünf Strichen in Form eines türförmigen Rechteckes unterlegt, dessen Sinn sich mir nicht so recht erschloss. Doch was verstand ich schon von Kunst?
Derartige Veränderungen waren freilich oberflächlicher Natur. Sie verblassten angesichts derer, die Herr Kaiser selbst durchgemacht hatte. Diese waren so grundlegend, wie nur irgendetwas und der eigentliche Grund dafür, dass der Chor, in den ich nun zurückkehrte, nicht mehr der war, den ich verlassen hatte. Das Höchstmaß an Höflichkeit war aus Herrn Kaisers Äußerungen verschwunden. Stattdessen herrschte jetzt ein raues Regiment. Machte der Mann etwa einigen Knaben vor, was sie beim Singen falsch gemacht hatten, sagte er nicht mehr: «Ich übertreibe, ich übertreibe.» Vielmehr setzte er nun schon einmal nach: «Nein, nein, ich übertreibe nicht. So singt ihr wirklich!» Das anfängliche Gelächter der Knaben wich dann auch schnell betretenem Schweigen.
Gleiches geschah, wenn es jemand einzelnem gelang, den Unmut seines Kaisers auf sich zu ziehen.
«Florian, da hinten steht kein Chorleiter. Hier schon.»
Tumultartige Szenen, wie sie noch vor wenigen Monaten im Mutantenchor bunter Alltag gewesen waren, schienen plötzlich undenkbar. Auch mir blieb ob der unverhofften Kompromisslosigkeit des Mannes, der unseren Chor jetzt leitete, die Spucke weg.
«Nein, Lennart, wir singen jetzt nicht Adeste fideles, wir singen die Messe.»
Ich war zu überwältigt davon, um ihn darauf hinzuweisen, dass nicht er sang, sondern wir. Und während der Probe ein wenig in der Chormappe zu stöbern würde ja wohl noch erlaubt sein.
Aber nein, natürlich war es das nicht. Herr Kaiser nämlich war nicht mehr der Mann, der unseren Chor jetzt leitete. Herr Kaiser war jetzt unser Chorleiter.