Teil des Ganzen
Perlen von Holstein Folge 105
Über den Effekt, den es hatte, wenn wir uns beim Singen von Harmonie zu Harmonie, von Akkord zu Akkord bewegten, konnte ich wirklich nur staunen. Man war nicht einer von vielen Sängern, sondern Teil eines mächtigen Klanges. Dieser veränderte sich durch das Mitwirken jedes einzelnen. Man konnte ihn also selbst beeinflussen und zugleich erleben, wie die anderen Stimmen auf ihn einwirkten. Zuweilen geschah dies auch im Wechselspiel: Eine Stimme legte einen Ton des nächsten Akkords vor, die anderen zogen nach. Man wusste wohlgemerkt, dass die anderen Stimmen nachlegen würden, natürlich tat man das. Und genau deswegen war einige Millisekunden lang eine Spannung da, die kaum zu ertragen war. Löste sie sich endlich, war es ein Gefühl, als hätte man den letzten Endgegner eines Killerspiels nach einem langem, harten Kampf besiegt. Doch bedeutete dieses Gefühl nicht, dass es nun vorbei war und man in die immerwährende Reizlosigkeit der Wirklichkeit zurückkehren musste. Der Klang blieb. Die nächste Spannung würde nicht lange auf sich warten lassen. Und war das Stück doch einmal zu Ende, konnte man es ja einfach wieder von vorne singen.
Ich genoss das alles so sehr, dass ich in gefahrlosen Probenmomenten die Augen schloss. So konnte ich mich ganz dem Klang hingeben. Dem Klang und den Harmonien, die ihn ausmachten. Es war schon merkwürdig, dass mir all die Jahre nie aufgefallen war, wie unsere Stücke erst durch das Zusammenwirken aller Stimmen ihre volle Wirkung entfalteten. Dafür hatte ich wohl Bass werden müssen. Im Sopran schließlich sang man eben die Melodie. Was die anderen Stimmen machten, brauchte einen da nicht zu interessieren. Und im Alt bekam man ständig nur die Fülltöne ab. Doch was interessierte mich das eigentlich noch? Ich war nun Bass und würde es bis an mein Lebensende bleiben.
Wir probten gerade Als Jesus Christus in der Nacht von Johann Sebastian Bach. Georg konnte das Stück nicht leiden, zumindest den Text nicht.
«Ich finde das so bescheuert: ’Da nahm er in die Hand das Brot und brach’s mit seinen Fingern.› Ja, mit was soll man ein Brot denn sonst brechen?»
Woher dieser in der Tat unnötige Zusatz rührte, war eigentlich recht schnell erklärt: Hier war offenbar der Versuch unternommen worden, einen Prosatext in ein Strophenlied zu pressen. Deswegen hatte man ihn so verändert, dass er ein Versmaß aufwies und sich die einzelnen Zeilen reimten. Für letzteres hatte man sich nicht gescheut, auch schon einmal auf die gute alte Brechstange zurückzugreifen. Da reimte sich Fingern auf Jüngern und verraten auf erstatten.
So gesehen: Ja, der Text war bescheuert. Die von Bach dazu geschriebene Musik aber war toll. Bei ihr nämlich gab es nicht nur einige Millisekunden lang eine Spannung, die gelöst und durch die nächste ersetzt wurde. Vielmehr glaubte man die ganze Zeit, dass die Spannung gleich gelöst werden würde, doch wurde sie mit jeder Harmonie nur immer stärker. Und so wusste man, obwohl man ein Strophenlied sang, zwischendurch gar nicht, wann es zu Ende sein würde.
Anmerkung in Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Der Satz «Ja, der Text ist bescheuert. Die von Bach dazu geschriebene Musik aber ist toll.» ist auf einen großen Teil des Schaffens des Meisters anwendbar. Dies gilt besonders für die Kantaten. Allzu blumenreiche Metaphern lassen an sich nachdenkenswerte Worte schnell unfreiwillig komisch wirken. Als Beispiel sei hier das erste Rezitativ von Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe wiedergegeben: «Die ganze Welt ist nur ein Hospital, wo Menschen von unzählbar großer Zahl und auch die Kinder in der Wiegen an Krankheit hart darniederliegen. Den einen quälet in der Brust ein hitzges Fieber böser Lust; der andre lieget krank an eigner Ehre hässlichem Gestank; den dritten zehrt die Geldsucht ab und stürzt ihn vor der Zeit ins Grab. Der erste Fall hat jedermann beflecket und mit dem Sündenaussatz angestecket.»
Ein Stück, das ich ebenso sehr mochte, war Gehe hin in deine Kammer. Darüber war ich selbst erstaunt, war es doch von Max Reger. Dessen Unser lieben Frauen Traum war der Inbegriff für die fragwürdigen Veränderungen, die Herr Kaiser an unserem Weihnachtsprogramm vorgenommen hatte. Mein Vater hatte es neulich meinen Großeltern wie folgt geschildert: «Wenn der Knabenchor in ein Altersheim kommt, um dort zu singen, dann erwartet das Publikum vor allem eines: dass jedes Jahr das gleiche gesungen wird. Die sind einfach in einem Alter, in dem wollen die keine großartigen Veränderungen mehr. Und dann kommt der Kaiser da an mit Max Reger. Ich weiß echt nicht, ob das noch lange laufen wird mit den Auftritten dort.»
An sich mochte mein Vater Max Reger natürlich. Nur nicht die Vokalmusik. Die war ihm nicht anspruchsvoll genug.
Beeinflusst von solchen Werturteilen, hatte ich Gehe hin in deine Kammer zunächst abgelehnt. Dieser Ablehnung hatte ich bei der Einzelstimmbildung Ausdruck verliehen.
«Also diese Stelle bei ‹Denn die Tür wird nach dir fest und eilend zugeschlossen› klingt irgendwie unruhig», hatte ich zu Herrn Kaiser gesagt.
«Das ist nicht unruhig, Lennart. Du singst das vielleicht einfach unruhig», hatte der erwidert.
Mit der Zeit aber hatte ich das Stück lieben gelernt. Sicher, die Tonfolge, die wir zu singen hatten, war gewöhnungsbedürftig. Die schrillen Klänge aber sorgten für eine ganz andere Art von Spannung als die vergleichsweise milden Reibungen von Innsbruck, ich muss dich lassen. Zudem sagte mir die Stimmung des Stückes zu. Es begann mit den Worten: ‹Gehe hin in deine Kammer, Gottes Volk, geh in das Grab.› Beim ersten Lesen hatte ich an eine Karikatur aus unserem Geschichtsbuch denken müssen. In dieser marschierten Truppen von Wehrmacht, SA und SS mit Standarten und in voller Montur in einen gigantischen Sarg hinein. Die Atmosphäre, die die dazugehörigen Töne verbreiteten, wollte durchaus zu diesem Bild passen. Ich musste an jene Art Killerspiel denken, in der man in die Rolle eines einfachen Soldaten schlüpft, an ein Medal of Honor: Allied Assault. Da wurde einem rasch klargemacht, dass es jeden jederzeit erwischen konnte. Und in der Tat: Es erwischte jederzeit irgendjemanden. Nur einen selbst erwischte es gottlob nie. Man konnte sich also der morbiden Faszination des allgegenwärtigen Todes aussetzen, ohne ihn selbst fürchten zu müssen. Genauso war das in Gehe hin in deine Kammer. Gottes Volk gehörte ich schließlich nicht an. Trotzdem konnte ich mich beim Singen fühlen, als würde ich dazugehören. Ich war Teil des Klanges und somit Teil der von ihm erzeugten Scheinwelt.