Männer-WG

Perlen von Holstein Folge 110

«Na los, Lennart. Kommste rein, kannste rausgucken», sagte Imanuel.

«Das hier ist also unser Zimmer?», fragte ich.

«Ja, nee, das ist das Zimmer der Knaben – Mensch, natürlich ist das hier unser Zimmer. Komm rein.»

Ich trat durch die Verandatür. Mein Blick fiel als erstes auf die Matratze, die in der Raummitte auf dem Boden lag.

«Ja, also», sagte David, «das hier ist leider nur ein Sechserzimmer. Wir haben uns aber gedacht, dass du natürlich bei uns schlafen willst, deswegen haben wir gefragt, ob wir für dich hier noch eine zusätzliche Matratze organisiert bekommen. Und ja, das war möglich. Deshalb liegt die jetzt da unten und ist sozusagen dein Schlafplatz.»

«Na, dann», sagte ich und warf meine Tasche und meinen Rucksack daneben. Dann setzte ich mich hin und kramte die Gegenstände hervor, die in den kommenden fünf Tagen mein Leben bestimmen würden: Meinen Discman, eine Ausgabe der PC PowerPlay und meinen Wecker.

«Boah, geil», sagte Philipp, «ich werde dann nachher, wenn du nicht hinguckst, wieder bei deinem Wecker auf Snooze drücken.»

«Das kannst du auch machen, wenn ich hingucke, Philipp», ich hielt ihm den Wecker entgegen, «Hier.»

Er streckte den Zeigefinger aus und drückte auf Snooze.

Meinen Wecker besaß ich nun seit bestimmt fünf Jahren. Ich hatte ihn von meinem großen Bruder geerbt, der ihn von meinem Großvater bekommen hatte. Mein großer Bruder hatte ihn an mich weitergereicht, nachdem mein Großvater ihm beim nächsten Besuch einen besseren Wecker gegeben hatte. Wie das im Hause Schuett mit Gebrauchsgegenständen eben so lief. Was nun Philipp an der Schlummer- oder Snooze-Taste so faszinierte, war wohl Folgendes: Das Wort Snooze stand nicht etwa in kleinen, dezenten Buchstaben auf oder neben dem Knopf. Es prangte von der Vorderseite des Weckers als wäre es der Name der Herstellungsfirma: «S – N – O – O – Z – E». Zudem klang es bei näherer Überlegung unglaublich komisch. Es war, um genau zu sein, mal wieder eines jener Wörter, über die man desto mehr lachen musste, je länger man über sie nachdachte.

Philipp war also einmal mehr zum Lachen zumute. Es verstand sich von selbst, dass er bald dazu überging, die hygienischen Zustände unseres Zimmers zu thematisieren.

«Boah, Siff!»

Unrecht hatte er damit nicht. Zwar waren die Wände dieses Mal eher moderat verdreckt, dafür war der Boden voller hereingetragener Erde. Die Krönung war aber das Bad, das zu unserem Zimmer gehörte. Hier hatte es sich ein Hirschkäfer gemütlich gemacht. Ich war mir nicht sicher, ob er lebte. Er bewegte sich nie auch nur einen Millimeter. Näher ergründen wollte ich es allerdings auch nicht. Zudem waren die Fliegen viel lästiger. In großer Zahl schwirrten sie im Raum umher. Der Teufel wusste, wo die alle herkamen. Zum Glück war ich im Kampf gegen solcherlei Ungeziefer geschult.

«Also», sagte ich, «um eine Fliege zu erwischen, muss man sich ihr ganz langsam mit der flachen Hand nähern. Wenn man nämlich die Hand nur langsam bewegt, merkt sie nicht, dass sie ihr immer näher kommt. Am besten ist auch, wenn man von hinten kommt. Hinten haben Fliegen nämlich keine Augen. Ist man dann nah genug dran, muss man ganz schnell zuschlagen. Wann der richtige Moment dafür ist, hat man mit der Zeit drauf. Das muss man ein bisschen üben.»

Philipp nahm eine Badelatsche aus seiner Tasche, holte aus und schlug eine der Fliegen tot. Max-Frederick quittierte es mit hämischer Hyänenlache.

«Ey, geil, lass mich auch mal», sagte er.

Er riss Philipp die Badelatsche aus der Hand und ging in Position. Mit Adleraugen sondierte er die Decke.

Der Schlag kam so schnell, dass die Fliege ihn wohl nicht einmal mehr mitbekam. Mit voller Wucht wurde sie gegen das Gebälk gedrückt. Als Max-Frederick die Badelatsche wegzog, sahen wir, was er angerichtet hatte: Die Fliege war nicht einfach nur vollkommen plattgedrückt worden. Es schien, als wäre sie einen Millimeter im Holz versunken.

«Hahaha, guck mal», sagte Max-Frederick. Seine hämische Hyänenlache war ansteckend. Wir alle lachten mit ihm.

Philipps Badelatsche wurde an diesem Abend noch mindestens zehn Fliegen zum Verhängnis. Damit waren sie fürs Erste beseitigt. Der Siff aber war noch da. Besonders Philipps Bett war schwer davon betroffen. An Schlaf war so natürlich nicht zu denken. Immer wieder veränderte Philipp ruckartig die Liegeposition.

«Scheiß-Sand!», sagte er, «Scheiß-Siff!»

Dann richtete er sich auf und fing an, mit den Fäusten auf seine Matratze einzuschlagen. Eine doch recht heftige Reaktion, wie ich fand. Andererseits hatte ja schon Opa Max gewusst: ‹Wer nie im Bette Brötchen aß, weiß nicht, wie Krümel pieksen.›

David, Imanuel und ich hielten uns die Bäuche vor Lachen.

«Sa-a-and –», flüsterte ich, «Sa-a-and – Er kriecht dir in alle Poren – und – Körperöffnungen.»

Philipp machte eine so heftige Bewegung, dass er beinahe die Bettdecke herunter katapultiert hätte. Der Saal tobte.

Das Maschen-Gefühl war auf der Hinfahrt auch deshalb so stark gewesen, weil ich davon ausgegangen war, dass eine Probenwoche eben genau das sein würde: Ein siebentägiges Maschen. Dem war glücklicherweise nicht so. Anderenfalls wäre der Chor wohl auch wegen Verstoßes gegen das Jugendarbeitschutzgesetzes verklagt worden. Die Dauer der Mittagspausen war vergleichsweise großzügig: Zweieinhalb statt der seit Herrn Kaiser üblichen eineinhalb Stunden.

Ich hatte vorgehabt, diese Zeit zu nutzen, um die anderen an den Inhalten meiner Killerspiel-Zeitschrift, der PC Powerplay, teilhaben zu lassen. Doch Philipp hatte so seine Probleme mit ihr. Grund dafür war ein Mitglied der Redaktion.

«Boah, ey, Simon Fistrich, die fette Qualle. Ey, guck dir mal an, wie fett der ist. Und was für eine Scheiße der in seinen Kommentaren die ganze Zeit schreibt.»

Das war etwas, was mir bisher noch gar nicht aufgefallen war. Es mochte damit zusammenhängen, dass ich mir aus dem Äußeren der Redakteure von Killerspiel-Zeitschriften wenig machte. Entscheidend war ja nun eigentlich, was sie schrieben. Wobei ich bis jetzt auch nie untersucht hatte, ob da qualitative Unterschiede bestanden. Ich hatte noch nicht einmal darauf geachtet, ob ein Redakteur besonders häufig meine Meinung vertrat. Dennoch pflichtete ich meinem alten Freund natürlich bei.

«Ja, haha, das ist wirklich der bescheuertste Typ überhaupt»

Nun wollte ich aber doch langsam mal auf den Inhalt der Zeitschrift zu sprechen kommen: F.E.A.R. Es war ein Horrorspiel, womit ich prinzipiell wenig anfangen konnte. Aber es war von Monolith, dem Entwickler meines Leib- und Seele-Killerspiels No One Lives Forever. Also musste es einfach der nächste große Kracher sein. David jedoch war wenig angetan.

«Ach, F.E.A.R? Haha, und nächstes Jahr kommt dann Fünf, oder was?»

Geradezu verständnislos reagierte Imanuel.

«Oh Gott, ey! Ihr immer mit euren Computerspielen, mit denen ihr den ganzen Tag verbringt. Bei uns in der Klasse ist auch so einer, der redet über nichts anderes. Und wie der darüber redet! ‹Ey, bei mir auf dem Server gestern, da waren lauter so Boons, die haben das einfach nicht geschafft, zu defusen, ey.›»

Ich gelangte zu dem Schluss, dass es wohl das Beste war, die Zeitschrift wegzupacken.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Den Nachfolger von F.E.A.R. Fünf zu nennen wäre Carl Philipp Emanuel Bach und seinen Zeitgenossen wohl tatsächlich in den Sinn gekommen. Die Sequels der Sammlung Musikalisches Allerley nannte man doch tatsächlich Musikalisches Mancherley und Musikalisches Vielerley. Die Idee, mit immer neuen Aufgüssen Kasse machen zu wollen, ist eben doch älter als die Filmindustrie.

Imanuel wurde von Marc nach draußen bestellt, um über irgendeine wichtige Angelegenheit zu sprechen. Es war nämlich so: Obwohl Imanuel ein Jahr jünger als Max-Frederick und zwei Jahre jünger als David und ich war, war er der Ansprechpartner der Erwachsenen. Zum einen, weil sie ihn dazu machten, zum anderen, weil er sich dazu machte. Uns war inzwischen ein Themenwechsel gelungen. Statt über Killerspiele redeten wir nun über Filme.

«Ey, ihr kennt doch bestimmt Star Wars: Episode II», sagte Frans.

«Kennen? Den habe ich auf DVD», erwiderte ich. Wie immer, wenn ich guter Dinge war, überschlug ich bei dem Wort DVD die Stimme. David fand Gefallen daran. Wieder und wieder ahmte er mich in einer Art Sprechgesang nach.

«D-V-D – D-V-D – D-V-D –»

Das gefiel Frans so gut, dass er mit einstimmte.

«Haha, du bist so ein Mitläufer», sagte ich. Bei dem Wort Mitläufer überschlug ich abermals die Stimme. Für David eine Steilvorlage.

«Mit-Läufer – Mit-Läufer – Mit-Läufer –»

«Haha, weißt du, David», sagte ich, «in der ersten Klasse, da sollte sich jeder von uns mal auf so eine Leiter setzen, die in der Mitte des Klassenraums stand. Und dann fragte unser Lehrer so Sachen wie: ‹Wie hoch ist der Eiffelturm?› Und wenn man keine Antwort kannte, sagte er: ‹Denk dir was aus!›. Eigentlich sollten wir das nämlich gar nicht wissen, sondern da irgendeinen Scheiß erzählen. Das hatte er irgendwie von Käpt’n Blaubär. Und, naja, ich habe in der ersten Klasse eigentlich nur Scheiße gebaut, weil ich Lesen und so schon konnte. Und als er dann sagte: ‹Denk dir was aus!› habe ich das immer wieder nachgeäfft: Denk dir was aus – Denk dir was aus – Denk dir was aus –›»

David hatte möglicherweise zugehört, auf jeden Fall aber weiter meine Art, Mitläufer zu sagen, nachgeahmt. Weil er noch immer nicht damit aufhörte, ging es jetzt wild durcheinander.

«Mit-Läufer!» «Denk dir was aus!» «Mit-Läufer!» «Denk dir was aus!»

Frans hatte die ganze Zeit zusammen mit David ‹Mitläufer› gesagt. Das fand er jetzt, wo ich ‹Denk dir was aus› sagte, nicht mehr chic.

«Ey, ich brauch’ jetzt auch was Eigenes», sagte er.

«Sag doch wieder DVD», erwiderte ich.

Weil wir alle drei aber längst wieder vergessen hatten, wie ich vorhin das Wort DVD ausgesprochen hatte, sagte Frans es einfach irgendwie. Damit war unser Sprechgesangchor dreistimmig.

«Mitläufer!» «D-V-D!» «Denk dir was aus!» «D-V-D!» «Mitläufer!» «Denk dir was aus!»

So ging das etwa zehn Minuten, bis Imanuel hereinkam.

«Ey, was ist denn mit euch schon wieder los?», fragte er.

Statt zu antworten, machten wir einfach weiter.

«Mitläufer!» «D-V-D!» «Denk dir was aus!»

Imanuel sah ein, dass ihm keine Möglichkeit blieb: Er musste mitmachen.

«Halt die Klappe –», sagte er immer wieder. «Halt die Klappe – Halt die Klappe – Halt die Klappe –»

Damit war unser kleines Pattern komplett:

music snippet

Was für ein Geniestreich. Das dachten sich wohl auch die herbeikommenden Knaben, die sogleich begeistert mit einstimmten.

Zusätzlich zu den verlängerten Mittagspausen gab es einen probenfreien Nachmittag. An dem durften wir natürlich nicht einfach so machen, was wir wollten. Wo wären wir da auch hingekommen? Stattdessen wurde ein gemeinsamer Kanuausflug unternommen. Ich konnte da nur mit Missmut herangehen. Nur zu gut erinnerte ich mich daran, wie wir vor drei Jahren bei einem Schulausflug über die Elbe gepaddelt waren. Eine steife Brise hatte geweht. Die Seeverhältnisse waren entsprechend gewesen. Für meine Bootsgenossen war jedoch nicht das die Ursache für unser langsames Vorankommen gewesen, sondern alleine ich.

Als Marc den Schuppen mit den Kanus aufsperrte, legte ich keinen Eifer an den Tag. Ich wartete, bis alle sich das Boot ihrer Wahl genommen hatten, ehe ich selbst mit anpackte. Zusammen mit Gaming-Max schleppte ich es zum Steg herunter.

«Ey, guck mal, was da steht», sagte ich, «Das Boot ist angeblich für maximal drei Personen geeignet. Da passen doch locker fünf rein!»

«Tja», sagte Gaming-Max, «das richtet sich nach amerikanischen Maßstäben. Du weißt doch, wie fett die da alle sind.

Ich lachte. Er hatte wohl recht. Unter der Angabe über die maximale Traglast des Boots stand es: ‹Made in the U.S.A.›

Während wir gingen, sang Gaming-Max Passagen aus Wurstwasser von Mundstuhl: «Trink das Wasser dieser Wurst, denn es löscht den Todesdurst. Unsr’e Ehre, unsr’er Stolz, ja! Denn wir sind Wurstwasser –»

Am Steg kam es zu Verzögerungen, weil einige Knaben sich nicht trauten, in ihr Kanu zu steigen.

«Wenn eine Möse da wäre, wären sie schon längst oben, Private», sagte Gaming-Max. Ein eher freies Zitat aus dem Film Full Metal Jacket.

Ich lachte so heftig, das sich beinahe das Kanu fallenließ. Wenn es Gaming-Max’ Ziel gewesen war, meine Stimmung aufzuhellen, so war ihm dies vortrefflich gelungen.

Meine Bootsgenossen waren Philipp und Max-Frederick. Max-Frederick hatte nach einer einmal mehr erfolgreichen Fliegenjagd heute gute Laune.

«Na, Oma, alles fit im Schritt?», sagte er zu einer betagten Dame, die den Bach entlang wanderte. Sie tat, als würde sie es nicht bemerken. Damit war sie bedeutend schlauer als der Fahrer der Yacht, die uns bald darauf entgegenkam.

«Schönes Boot haben Sie», sagte Max-Frederick.

«Danke, Mann», antwortete der Fahrer.

«War ’n Scherz.»

Phillipp und ich kicherten, der Fahrer blieb stumm.

Max-Fredericks komödiantische Einlagen lenkten uns nicht vom Rudern ab. Wir waren zwar nicht die ersten, doch wir kamen gut voran. Das änderte sich auf der Rückfahrt.

«Ey, wisst ihr worauf ich jetzt richtig Bock habe?», sagte Philipp.

«Na?», fragte Max-Frederick.

«Da hinten mal voll in das Schilf reinzufahren.»

«Nein, das werden wir nicht», sagte ich. Für mein Empfinden schwankte das Kanu schon beim Geradeausfahren bedrohlich genug. Würden wir nun irgendwo gegenstoßen, würde unser Boot unweigerlich kentern. Und es gab auf dieser Welt kaum etwas, das ich mehr hasste, als nass zu werden.

Damit stand ich offenbar aber ziemlich alleine dar.

«Genau, lass mal machen», sagte Max-Frederick.

«Nein!», schrie ich, «Nein! Nein!»

Wir fuhren in das Schilf. Als wir gegen das Ufer preschten, gab es eine kleine Erschütterung, doch das Boot kenterte nicht. Für mich kein Grund zur Erleichterung, denn nun kamen Max-Frederick und Philipp auf noch mehr dumme Gedanken.

«Ey, jetzt lass mal ganz heftige Kurven fahren.»

«Nein!», schrie ich, «Nein! Nein!»

Wir fuhren ganz heftige Kurven.

«Und jetzt lass mal voll das Boot der Knaben dahinten rammen.»

«Nein!», schrie ich, «Nein! Nein!»

Wir rammten das Boot der Knaben dahinten.

So ging es die folgende halbe Stunde. Unablässig ließen sich Max-Frederick und Philipp waghalsige Manöver einfallen. Meinen lauten Einwänden dagegen schenkten sie insofern Beachtung, als dass sie umso genüsslicher die Stunt-Tauglichkeit unseres Kanus auf die Probe stellten. Die Fahrt endete damit, dass wir mit voller Wucht gegen den Steg krachten.

«Ey, nächstes Jahr müssen wir auf jeden Fall wieder zusammen fahren», sagte Philipp.

«Nein, sagte ich, «ganz bestimmt nicht.»

Wir fuhren im nächsten Jahr wieder zusammen.