Kraft durch Einfalt
Perlen von Holstein Folge 112
Oktober 2005
Es gab eine Menge, das David und mich einte. Nichts jedoch einte uns so sehr wie unsere Unlust auf Proben und andere Chortermine. Und der Chortermin, der uns bevorstand, war umfangreich. Zehn Tage würde sie dauern, unsere Mailand-Fahrt, die eigentlich keine Mailand-Fahrt war. Von den zehn Tagen würden wir nur einen in Mailand verbringen und uns ansonsten in Bayern, Hessen und der Schweiz aufhalten. So gesehen war die Bezeichnung der Reise eine Mogelpackung. Das war mir jedoch ziemlich egal, mein Problem war das altbekannte: Zehn Tage würde mein Computer Hunderte von Kilometern von mir entfernt sein. Und wenn ich dann wiederkäme und unser Haus wäre zwischendurch von einem Meteoriten pulverisiert worden? Dann hätte ich nicht einmal mitbekommen, wie alles, was mein Leben ausmachte, vernichtet worden ist.
Ein Schmerz, den nur mein alter Kumpel David nachvollziehen konnte.
«Na», begrüßte ich ihn, «freust du dich schon auf morgen? Auf die Reise?»
Ich sprach das Wort Reise in einer Weise aus, die keinen Zweifel daran ließ, dass ich seine Verwendung im Bezug auf einen Chortermin als schweren Missbrauch empfand. David sprang dementsprechend sofort darauf an.
«Boah, hör auf, ey. Ich hab’ da echt so kein Bock drauf.»
Ich kicherte.
«Auf was?», sagte ich, «Auf die Reise?»
«Ey, nee, lass mal stecken.»
«Die Reise», sagte ich nochmal. Dann zeichnete ich mit dem Finger einen Blitz in die Luft und imitierte das Geräusch des Donners. Ein Einfall, den ich aus dem Film 7 Zwerge – Männer allein im Wald übernommen hatte. Da war jedes Mal ein einschlagender Blitz gezeigt worden, wenn jemand ‹in jener Nacht› gesagt hatte.
David war sogleich Feuer und Flamme.
«Haha», sagte er, «die Reise» Er zeichnete ich mit dem Finger einen Blitz in die Luft und imitierte das Geräusch des Donners.
Doch auch wenn er über das uns Bevorstehende nun doch ein wenig schmunzeln konnte, ihm optimistischer entgegen sehen wollte er nicht. Für mich Grund genug, ihn die ganze Probe daran zu erinnern.
«Und morgen geht es dann auf die Reise.»
David warf mir einen finsteren Blick zu.
«Noch einmal schlafen, dann geht sie los, die Reise.»
David biss geräuschvoll die Zähne zusammen.
«Hach, ja! In Freude auf die Reise.»
David schlug mit der Faust auf seine Mappe.
Den letzten Nachhauseweg vor der Reise nutzten wir dann aber, um auf andere Gedanken zu kommen. Zuerst philosophierten wir darüber, wie es wäre, wenn der Ursprung allen Seins Baustellenabsicherungen wären. Dann debattierten wir, ob es wohl noch Wälder gäbe, wenn diese in der Realität ähnlich schnell abgeholzt wären wie in dem Killerspiel Warcraft 2.
Am nächsten Morgen saßen wir beide auf der Rückbank eines Reisebusses der Firma KDE-Reisen. Schon als ich das Gefährt aus der Ferne gesehen hatte, hatte ich es mir nicht verkneifen können: «Oh, der Bus von KdF-, ähm, KDE-Reisen.»
Diesen Satz hatte ich vorhin nacheinander in Gegenwart Philipps, Max-Fredericks und Davids wiederholt. Verstanden hatte diesen Witz keiner, was mich nicht daran hinderte, ihn kultivieren zu wollen.
Jetzt aber wollte ich in Ruhe meine Killerspiel-Zeitschrift lesen, den Gamestar. Dazu schaltete ich die Lampe über meinem Sitz an.
«Ey, nee, lass mal aus», sagte David, «Ich möchte noch ein bisschen pennen.»
Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen. Ich schaltete die Lampe über seinem Sitz ebenso an. David vergaß sofort alle Müdigkeit. Er schnellte nach oben und löschte mit einem Handgriff beide Lampen. Kaum, dass seine Hand wieder unten war, streckte ich meine nach den Schaltern aus. David packte sie. Ich schlängelte mich mit der anderen Hand an seinen Armen vorbei und schaltete beide Lampen wieder an. So ging das noch eine ganze Zeit, bis uns das Spiel zu langweilig wurde.
«Ey, komm, ich will jetzt wirklich pennen», sagte David.
«Ich will aber lesen», erwiderte ich.
«Kannst du das nicht auch bei ausgeschaltetem Licht machen.»
«Nee, das ist mir zu dunkel.»
Wir einigten uns schließlich darauf, dass die Lampe über meinem Sitz ein- und die über seinigem ausgeschaltet sein sollte. So konnte ich lesen und er schlafen. Die Sache hatte allerdings einen Haken: Zwischen den beiden Lampen war ein Service-Knopf angebracht. Drückte man ihn, fing er an, rot zu leuchten. Man konnte ihn also ebenso ein- und ausschalten.
«Was machen wir mit dem?», fragte ich.
«Der kann doch auch ruhig aus sein», entgegnete David, «Oder brauchst du den zum Lesen?»
«Ich würde eher sagen, der schließt sich der Seite an, die stärker ist. Und das ist natürlich An.»
Dabei drückte ich auf den Service-Knopf, der sogleich in provozierendem Rot zu leuchten begann. Sofort entbrannte unser Konflikt vom Neuen. Dieses Mal ging es nicht um die Lampen, sondern um den Service-Knopf. Weil das eine Auseinandersetzung ohne jeden Sinn war, verloren wir jedoch rasch die Lust an ihr.
So kam ich schließlich doch zum Lesen und David schließlich doch zum Schlafen. Aber nicht für lange. Bald darauf nämlich setzte sich der Bus von KdF-, ähm, KDE-Reisen in Bewegung. Die Fahrt begann.
«Sagt der Zivilisation auf Wiedersehen, Kinder», rief Philipp. Es war schön zu wissen, dass ich zumindest diese Äußerung hatte kultivieren können.
Marc trat nach vorne und nahm das Mikrofon in die Hand. Er wünschte uns alibihaft einen guten Morgen, wies uns alibihaft daraufhin, dass wir angeschnallt sein mussten und ermutigte uns alibihaft, rechtzeitig Bescheid zu geben, wenn uns übel wurde. Dann kam er zu seinem eigentlichen Anliegen.
«Ihr wisst, dass es da so ein paar Fragen gibt, die nicht gestellt werden!»
Und schon ging es los.
«Ist es noch weit?», fragte ich.
«Wie lange dauert es noch?», fragte Philipp.
«Kann ich mal aufs Klo?», fragte Max-Frederick.
Marc jedoch ließ uns auflaufen.
«Das dürften dann alle gewesen sein», sagte er.
Szenen einer Reisebusladung voller quengelnder Knaben stellten sich jedoch nicht ein. Die ersten Stunden der Fahrt verliefen unspektakulär. David und ich hörten reihenweise Ärzte-Lieder, zwischendurch legte jemand den Film Muppets – Die Schatzinsel ein. Gleich zu Beginn des Streifens durften wir einmal erleben, wie Marc sich einmal so richtig totlachte. Ursächlich war folgender Dialog:
«Ein blinder Pirat!»
«Politisch korrekt hätte das jetzt lauten müssen: ‹Ein sehbehinderter Pirat!›»
David und ich konnten darüber durchaus auch ein wenig schmunzeln. Die psychedelischen Szenen zu dem Lied Kajütenkoller fanden bei uns dennoch weit mehr Anklang. Immer wieder amüsierten wir uns darüber.
Ansonsten aber verlief die Fahrt wie gesagt unspektakulär. Das einzig Aufsehenerregende war, dass David und ich die Rückbank räumen mussten, um Platz für Choranzüge zu schaffen. Wir bekamen die beiden Sitze auf der rechten Seite in der vorletzten Reihe zugewiesen.
Hier saßen wir nun schon einige Stunden, als ich merkte, dass ich mich allmählich nicht mehr zu beschäftigen wusste. Der Gamestar war ausgelesen, sämtliche noch nicht vollständig totgespielten Ärzte-Lieder gehört. Da fiel mir die kleine Auseinandersetzung wieder ein, die David und ich zu Fahrtbeginn gehabt hatten. Sie war zuletzt ohne jeden Sinn gewesen. Und genau deswegen hatte ich jetzt so richtig Lust, sie wieder aufflammen zu lassen.
Ich drückte den Service-Knopf.
«An-n-n-n», sagte ich, «An-n-n-n-n-n-n-n-n-n-n!»
David reagierte sofort. Er streckte seinen Finger nach dem Knopf aus und sagte: «Au-u-u-u-us, au-u-u-u-u-u-u-u-u-us.»
Und so ging es die folgende Viertelstunde hin und her.
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
Max-Frederick war so begeistert, dass er das Schauspiel mit seiner Digitalkamera filmte. Imanuel sah sich hingegen veranlasst, seine Position als Ansprechpartner der Erwachsenen zu verteidigen.
«Leute!», sagte er.
«Herrgott, es ist doch nur Spaß», erwiderte ich.
«Ihr könnt auch gerne Spaß haben, aber nicht in Gegenwart der Knaben.»
Wäre meine Laune dafür nicht viel zu gut gewesen, diese Mahnung hätte sie wohl verdorben. Das war Imanuel, wie man ihn seit dem Stimmbruch kannte. Immerzu meinte er, den Oberlehrer spielen zu müssen. Wies uns zurecht, wenn wir uns mal wieder den kleinen Laurence griffen. Der einzige Erfolg seiner Bemühungen war jedoch meist, dass wir uns in eine kurze Diskussion verwickeln ließen, bevor wir einfach weitermachten. Heute gönnten wir ihm nicht einmal das.
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
Unser Ziel war der Zorn eines ganz anderen Oberlehrers. Und jener steuerte auch bereits auf uns zu.
«Hört ihr bitte auf damit?»
«Jaja, Marc», erwiderte ich, «An-n-n-n, an-n-n-n-n-n-n-n-n-n-n!»
«Hört ihr jetzt bitte auf damit? Ich bin froh, dass es bei den Knaben gerade so gesittet zugeht, da braucht ihr sie jetzt nicht anzustacheln.»
«Okay, wir hören auf –», sagte ich. In Marcs Gesicht machte sich Zufriedenheit breit. Er ahnte wirklich nichts. «– und einigen uns darauf, dass die Seite gewonnen hat, die stärker ist. Und das ist natürlich An.» Mit herausforderndem Blick in Richtung David betätigte ich den Service-Knopf.
Schon ging es wieder los.
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
Ich hatte wirklich nicht die geringste Lust, mit dem Spiel aufzuhören. Es war schließlich tatsächlich so, dass ich verloren hätte, wenn das Licht im Service-Knopf dann aus wäre. Und verlieren wollte keiner. Verlierer waren Abschaum. Diese Lektion hatte ich spätestens in jenem Autorenn-Killerspiel gelernt, das mein Bruder vor acht Jahren aus der Bücherhalle ausgeliehen hatte. Wenn man dort verloren hatte, war man von einer leichtbekleideten Dame mit folgenden Worten begrüßt worden: ‹Puh, was stinkt denn hier so?›
Ein Erlebnis, das ich wirklich keinem gönnte. Am allerwenigsten mir selbst. Deshalb kämpfte ich weiter. Bis das Spiel schließlich doch zu langweilig wurde.
Ich setzte mich hin und widmete mich einer ganz anderen Angelegenheit: Gestern Abend hatte ich irgendetwas gegessen, das man vor langen Busfahrten nicht essen sollte. Zumindest nicht, wenn einem das eigene Leben lieb war. Doch nun war es zu spät. Ich beschloss, gegen die Folgen meines Tuns keinen Widerstand zu leisten. Ich spürte, wie das Sitzpolster unter mir warm wurde.
Max-Frederick bemerkte es sofort.
«Boah, wer hat hier eben einen fahren lassen?»
Er erhielt keine Antwort. Daraufhin nahm er jeden seiner direkten und indirekten Sitznachbarn ins Kreuzverhör. Besonders Gaming-Max wurde nicht geschont.
«Du –», sagte Max-Frederick, «Du bist das die ganze Zeit!».
«Nein, Mann, ich bin das nicht. Ich bin das wirklich nicht», erwiderte Gaming-Max.
«Doch, du bist das!»
Mich hingegen schien Max-Frederick irgendwie zu übersehen. Dabei saß ich gerade einmal drei Plätze von ihm entfernt. Für mich Grund genug, noch einige andere Düfte in die Welt zu setzen.
Max-Frederick reagierte prompt.
«Alter, wer hat hier gerade eine Bifi aufgemacht?»
Dieses Mal musste er den Übeltäter nicht lange suchen. Ich wurde jedoch nicht belangt.
Derweil begann es draußen zu dämmern. Wir waren inzwischen mehr als acht Stunden unterwegs. Wären wir mit dem Zug gefahren, wir wären wahrscheinlich längst an unserem Ziel angekommen. Doch wir saßen in einem Bus. Irgendetwas sagte mir, dass wir noch sehr lange brauchen würden. Der Gedanke nahm mir die Lust an weiterem Schabernack. Ich setzte mich tiefer in meinen Sitz und lauschte meinen Gedanken. Bald kam mir jedes Zeitgefühl abhanden. Immer, wenn ich auf die roten Ziffern der Digitaluhr über der vorderen Sitzreihe blickte, war wieder eine Stunde vergangen. Eben noch war es neunzehn Uhr gewesen, jetzt war es schon zwanzig Uhr. Mir sollte das recht sein. Je schneller die Zeit verging, desto schneller waren wir da. Und je schneller wir da waren, desto baldiger würden wir wieder nach Hause fahren können. Nach Hause zu meinen Killerspielen.
Der Gedanke rief Erinnerungen an das ernste Gespräch zum Vorschein, das ein Klassenkamerad gestern mit mir zu führen versucht hatte. Völlig aufgebracht war er in mein Zimmer hineingekommen. Ich hatte ihm nicht so recht folgen können. Dabei hatte er sich ziemlich klar ausgedrückt. Grob zusammengefasst war Folgendes passiert: Zwei Mädchen aus der Parallelklasse waren zu ihrem Klassenlehrer gegangen und hatten ihm erzählt, dass ich gedroht hätte, sie umzubringen. Ihr Klassenlehrer hatte den Vorfall an den Vertrauenslehrer weitergeleitet und nun hatte ich irgendein Verfahren am Hals.
Ich hatte die ganze Sache eher amüsiert zur Kenntnis genommen. Ich kannte diese beiden Mädchen nur zu gut. Eine von den beiden wurde niemals müde, herumzukeifen, wenn ich lachte oder sang. Umgekehrt hatte sie es mir monatelang vorgehalten, dass ich sie einmal – wie einst Frau Siebenkittel unseren Max-Frederick – als meinen Sargnagel bezeichnet hatte. Erreicht hatte sie damit, dass ich umso leidenschaftlicher gelacht und gesungen hatte und mir noch viel gehässigere Schimpfnamen für sie hatte einfallen lassen. Gut möglich, dass mir dabei auch irgendeine direkte oder indirekte Morddrohung über die Lippen gekommen war. Direkte und indirekte Morddrohungen kamen mir beständig über die Lippen. Doch selbst der kleine Laurence wusste, wie ernst sie gemeint waren. Alleine die Vorstellung, dass zwei Menschen in meinem Alter sie für bare Münze nahmen, war vollkommen lächerlich; im Falle dieser beiden Grazien jedoch bezeichnend.
Jetzt, wo ich noch einmal über die Sache nachdachte, wurde mir klar, in welchen Schlamassel ich geraten war. Mein Klassenkamerad hatte mir nicht nur von der Aktion der beiden erzählt, sondern auch davon, welche Wellen sie bereits geschlagen hatte. In unserem Jahrgang und in dem Jahrgang über uns wusste bereits jeder Bescheid. Und auf wessen Seite die Masse stand, darüber musste ich nicht spekulieren. Ich wusste ja, wie es in der Schule zuging. Entscheidend war nicht, was man tat oder nicht tat, sondern wer man war. Und ich war eben ich, der Killerspiel-Spieler.
Von unserem Vertrauenslehrer hatte ich gleichfalls keine Vernunft zu erwarten. Noch zu lebhaft erinnerte ich mich an das Klassengespräch, das man mit uns nach dem Amoklauf von Erfurt geführt hatte über diese Killerspiele. Diskussionsführer war ein Lehrer gewesen, der wahrscheinlich nicht mal wusste, wie man einen Computer einschaltete. Ich würde also von Glück reden können, wenn ich nicht von der Schule flog.
Und so sehr ich mich schon jetzt freute, wieder nach Hause zu fahren: Momentan hoffte ich, dass wir irgendwo in der Pampa liegenbleiben und nie wieder von dort wegkommen würden.