Lichte Momente
Perlen von Holstein Folge 117
Ich erwachte davon, dass irgendwo in der Ferne ein Wecker klingelte. Es dauerte eine Weile, ehe ich begriff, dass es sich bei ihm nicht um irgendeinen Wecker handelte. Es war mein Wecker, der unter dem Bett in meinem Rucksack lag und fröhlich vor sich hinpiepte. Warum er das tat, konnte ich mir nicht so recht erklären. Ich jedenfalls hatte ihn nicht scharfgeschaltet. Vermutlich war es so, dass er zwischen irgendwelchen anderen Gegenstände eingequetscht und aktiviert worden war. Das würde auch erklären, warum er ganz offensichtlich zur Unzeit klingelte: Zwar drang bereits die Sonne durch die Vorhänge hinein, doch war um mich herum alles sichtlich um Schlaf bemüht. Das Piepen störte also nicht nur mich, sondern auch die neunundzwanzig Leute, die sich außer mir noch in diesem Raum befanden.
Meine Lage war äußerst brenzlig. Ich schlief ungewöhnlicherweise in der oberen Etage des Bettes. Herunterzusteigen und den Wecker zum Schweigen zu bringen wäre zeitintensiv, geräuschintensiv und würde mich als denjenigen entlarven, der dreißig Menschen um den Schlaf gebracht hatte. Ich tat also besser daran, einfach liegen zu bleiben und abzuwarten. Ich wusste: Das Klingen des Weckers würde im Laufe der folgenden drei Minuten immer schriller werden, am Ende aber doch verstummen. Wenn bis dahin niemand die Geduld verloren hätte, wäre ich fein raus. Meine Mutter hatte mich schließlich schon als Kind gelehrt, dass das einzig relevante Gebot das elfte war. Und das lautete noch immer: ‹Lass dich nicht erwischen!›
Anderthalb Stunden später waren langsam alle aufgestanden.
«Sagt mal: Wessen Wecker war das da vorhin eigentlich?», fragte Gaming-Max.
«Ja, wem dieser Wecker da vorhin gehört hat, würde mich allerdings auch mal interessieren», sagte Nathanael. Es war erstaunlich, wie viel Gewaltbereitschaft man in so eine schnurrig-nasale Stimme legen konnte.
Ich wühlte in meinem Rucksack herum und tat, als würde ich mich kein bisschen angesprochen fühlen.
Von Italien würden wir heute abermals nicht viel sehen. Heute war Ausflugstag und sämtliche Ausflugsziele lagen in der Schweiz.
Wir fuhren zunächst zur Alprose-Schokoladenfabrik. In ihrem Inneren ging es größtenteils grau und steril zu. Das überraschte mich in meinem inzwischen ja doch recht fortgeschrittenen Alter wenig, die Knaben umso mehr. Den ganzen Rundgang lang fragte ich mich, ob wir wohl Eintritt hierfür bezahlt hatten. Man begnügte sich schließlich nicht damit, uns zu erklären, wie Schokolade hergestellt wurde. Man stellte auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit heraus, warum die hier hergestellte besonders schmackhaft war. Wie praktisch, dass die Führung in einem Shop endete, der alles bot, was das Schlemmerherz begehrte.
Erinnerungen an das Ferienprogramm der Hamburgischen Electricitäts-Werke kehrten wieder. In Zusammenarbeit mit Nestlé hatte man unter anderem das Seminar Schokolade selber machen angeboten. Meine Mutter hatte mich und meine kleine Schwester dort hingeschickt, überzeugt, dass wir uns darüber freuen würden. Wir hatten uns auch gefreut, bis wir bei dem Seminar angekommen waren. Mit unseren dreizehn und elf Jahren waren wir die mit Abstand ältesten Teilnehmer gewesen. Und bevor wir überhaupt nur ein Stück Schokolade gemacht hatten, waren wir zunächst einmal mit einem Film über die Produktvielfalt der Nestlé-Schokoladenerzeugnisse aufgeklärt worden. Danach hatte ein schnittiger Mittfünfziger die Bühne betreten und gefragt: «Was für Schokoladenprodukte von Nestlé kennt ihr denn so?»
«Milka», hatte ein etwa fünfjähriger Junge geantwortet.
«Nee, Milka ist von der Konkurrenz.»
Bei der anschließenden Arbeit in Kleingruppen hatte ich mich schließlich nicht mehr zurückhalten können.
«Was habt ihr denn in den letzten Tagen so gemacht?», hatte die Coachin, eine Studentin, gefragt.
«Ich habe gestern Schokolade von der Konkurrenz gegessen», hatte ich geantwortet. Sehr zum Gefallen meiner kleinen Schwester.
Die Erinnerung an diese ruhmreiche Tat konnte freilich nicht verhindern, dass ich mir heute drei Tafeln Schokolade zum Preis von acht kaufte. Schon Opa Max hatte ja gerne gesungen:
Unser zweites Ausflugsziel war Swissminiatur. Ich fand das unnötig. Es war schließlich gerade einmal vier Monate her, dass wir beim Sommerausflug des Chores alle zusammen in das Miniatur Wunderland gegangen waren. Auf dem Weg dorthin hatte Herr Kaiser sich einmal von einer ganz anderen Seite gezeigt. Wir hatten uns durch Straßen schlagen müssen, die für den Hamburger Marathon gesperrt worden waren. Als dann eine Schar von Läufern an uns vorbeigesaust war, hatte unser Chorleiter ihnen hinterhergerufen:
«Nicht gehen, laufen!»
Wir alle hatten uns köstlich darüber amüsiert. Es stellte sich natürlich die Frage, wie oft Herr Kaiser diesen Spruch früher selbst zu hören bekommen hatte. Ohne Zweifel war der Dresdner Kreuzchor auch in Sachen körperliche Ertüchtigung ganz vorne mit dabei gewesen.
Heute zeigte sich nicht Herr Kaiser von einer ganz anderen Seite, sondern Imanuel.
«Ey, wollen wir mal Fotos davon machen, wie wir uns so hinter diese Modellgebäude stellen und so tun, als wären wir solche Riesen, die sie kaputtschlagen wollen? So richtig godzillamäßig?»
Ich fand diesen Einfall etwas hausbacken, David wahrscheinlich ebenso. Wir machten das Spiel dennoch bereitwillig mit. Als wir fertig waren, war es auch schon an der Zeit, Mittag zu essen. Imanuel saß bei David, Max-Frederick und mir am Tisch.
«Wisst ihr», sagte er, «meine beste Freundin und ich, wir haben für die Konfirmation Klamotten bekommen, in denen wir so total versnobt aussahen. Ehrlich: Jeder, der uns gesehen hat, dachte, wir wären voll die Millionäre. Und dann sind wir einfach so aus Spaß ins Alterstal Einkaufszentrum zu so ’nem Juwelier gegangen und haben dem erzählt: ‹Ja, unsere Mutter hat demnächst Silberhochzeit und wir wollen ihr was schenken. Aber das muss wirklich etwas ganz Besonderes sein.› Naja, und dann zeigt er uns halt solche Perlenketten für irgendwie fünftausend Euro und wir gucken die so an und sagen: ‹Also nein, es soll jetzt schon etwas wirklich Besonderes sein.› Und dann holt der solche total krassen Armbanduhren, so richtig mit Diamanten verziert. Wir wieder: ‹Ja, die sind wirklich chic, aber für unsere Mutter muss es eben etwas richtig Besonderes sein.› Und das machen wir dann noch drei oder vier Mal und irgendwann geht er dann hinten zum Safe und holt so ein Collier heraus, das wirklich komplett aus richtig edlen Diamanten besteht. Wir dann so: ‹Ja, das ist was Besonderes. Können Sie die vielleicht bis Morgen für uns zurücklegen? Unser Butler James kommt dann und holt die ab.› Und der hat das denn echt gemacht. Der hat uns das wirklich alles geglaubt.»
Max-Frederick krümmte sich vor Lachen.
«Oh, Mann, hahaha!», sagte er, «Ich hätte das gar nicht durchgehalten, Mann. Ich hätte die ganze Zeit lachen müssen!»
«Ja», sagte Imanuel, «danach haben wir auch gelacht. Aber in dem Moment war ich auch so in dieser Rolle drin, da konnte ich nicht lachen. Außerdem hat das so einen Spaß gemacht, den Typen zu verarschen, das wollte ich nicht verderben.»
«Naja, Imanuel», sagte ich, «dir glaubt man aber sowas auch, weil du es wirklich so drauf hast, einen auf arrogant zu machen. Wie war das noch? ‹Hallo? Mein Niveau, dein Niveau›?»
Imanuel führte es noch einmal vor: «Hallo? Mein Niveau», er hielt die Hand in die Luft, «dein Niveau», er legte die Hand auf die Tischplatte, «Distanz!», er wedelte mit der Hand herum.
«Genau das», sagte ich.
«Ja, das ist gut, was? Noch besser ist aber: Wenn ich mich auf dein Niveau herablassen wollte, dann müsste ich mich auf den Boden legen und dort ist es mir eindeutig zu dreckig.»
«Ja, das passt zu dir.»
«Also Imanuel, am arrogantesten ist es ja immer noch, wenn du wieder anfängst mit: ‹Leute!›», sagte David.
«Sage ich das wirklich so oft?», erwiderte Imanuel.
«Ähm, ja?», sagte ich.
«Oh, könnt ihr mir einen Gefallen tun und mich schlagen, wenn ich das wieder sage? Das ist ja wirklich total bescheuert.»
Ich zweifelte ein wenig daran, dass Imanuel sich das ‹Leute!› tatsächlich abgewöhnen würde. Wahrscheinlich wären alle guten Vorsätze über Bord geworfen, wenn er sich mal wieder aufspielen musste. Spätestens. Andererseits hatte er vorhin gegen Marc aufbegehrt.
«Na, Marc, wer bin ich?», hatte er gefragt. Dabei hatte er in der Weise Marcs die Augen aufgerissen und mit dem Zeigefinger auf eine Person gedeutet.
Eine Form von Meuterei, die Marc nicht über Gebühr ernst genommen hatte. Nicht über Gebühr hatte ernst nehmen können.
«Also Imanuel, das hätte ich von dir jetzt aber nicht gedacht», hatte er gesagt. Dann hatte auch er sich heute mal von einer ganz anderen Seite gezeigt.
«Wenn einer aus dem D-Zug speit – was man ihm keinesfalls verzeiht! – und wird vorübergehend blind, so herrschte starker Gegenwind.»
Diese Worte hatte Marc mit solch einem charmantem Überlegenheitsgefühl vorgetragen, dass wir einfach hatten lachen müssen. Ich hatte darüber hinaus befunden, dass das Gedicht auf jeden Fall Bestandteil meines Repertoires werden musste.
«Wie war das jetzt?», hatte ich gesagt, «‹Wenn einer aus dem D-Zug spuckt –›»
«Ja, ja, ja, du kriegst das auch noch hin, Lennart», war Marc mir ins Wort gefallen. Dann hatte er noch einen draufgelegt: «Wenn einer eine Maid vertrimmt und ihr dazu die Unschuld nimmt, wirft er sie danach auf den Dung, so ist das Vergewaltigung.»
Wieder hatte sein charmantes Überlegenheitsgefühl für Lacher gesorgt. Und mir war tatsächlich einmal nichts darauf eingefallen. Es war fürwahr ein Tag, an dem sich jeder von einer ganz anderen Seite zeigte.