Bella Italia

Perlen von Holstein Folge 118

Heute sollte mein Traum in Erfüllung gehen. Heute würde ich endlich Italien kennenlernen. Bereits am frühen Morgen brachen wir auf nach Mailand.

An sich war das keine Stadt, die besonders hoch in meinem Ansehen stand. Verantwortlich dafür war das Killerspiel Age of Empires II. Hier hatte ich die Stadt auf Befehl von Kaiser Barbarossa einnehmen sollen. Dies war mir auch gelungen, allerdings nicht unbedingt im Handstreich. Genau genommen war Mailand ein verfluchtes Wespennest gewesen. Doch gab es in Age of Empires II eine feindliche Stadt, die kein verfluchtes Wespennest war? Ich hatte eigentlich keinen Anlass, diese Negativerfahrung überzubewerten. Mailand würde mir schon gefallen. Italien war schließlich Italien.

Gebannt sah ich aus dem Fenster. Es dauerte nicht lange, bis ich zu der Erkenntnis gelangte: Irgendwie hatte ich mir das doch alles ganz anders vorgestellt. Mailand bestand nicht zu einhundert Prozent aus prachtvollen weißen Antikbauten, wie ich sie aus dem ersten Teil von Age of Empires kannte. Grau und braun waren die vorherrschenden Töne. Den einzigen Farbtupfer boten die Apotheken, die es buchstäblich an jeder Ecke gab. Sie buhlten mit kreuzförmigen LED-Tafeln um die Gunst der Kranken. Diese LED-Tafeln zeigten aber nicht einfach nur das Grüne Kreuz, welches außerhalb Deutschlands das gängige Apotheken-Logo darstellte. Sie unterhielten den Betrachter mit allerlei Animationen, die wie Bildschirmschoner daherkamen.

Das war ohne Zweifel witzig, versinnbildlichte aber geradezu, was Mailand eben nicht war: Das Italien, was ich aus meinen Killerspielen kannte. Ein Ort, an dem man fernab des eigentlichen Kriegsschauplatzes ein wenig zur Besinnung kommen konnte. Die Stadt war im Gegenteil unglaublich hektisch. Wo sich keine Autos, Busse oder Straßenbahnen entlang zwängten, traten sich Massen von Menschen gegenseitig auf die Füße.

Massen von Menschen umringten auch den Mailänder Dom, das einzige Ausflugsziel des heutigen Tages. Dies hing wahrscheinlich mit seinen Ausmaßen zusammen. Ein größeres Gotteshaus hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Die Länge des Mittelgangs hätte die Einrichtung einer Buslinie mit mindestens drei Stationen gerechtfertigt. Und um in der letzten Reihe erkennen zu können, was der Pastor vorne im Altarraum so trieb, würde man definitiv ein Fernglas benötigen. Wie man ihn verstanden hatte zu Zeiten, als es noch keine Mikrofone gegeben hatte, stand freilich auf einem ganz anderen Blatt.

Und genau das war mein Problem mit diesem Gebäude: Es war nicht so groß, weil es so groß sein musste. Weil Bedarf an einem so großen Gotteshaus bestanden hatte. Es war so groß, weil irgendwer vor aller Welt damit hatte prahlen wollen, was für ein großes Gotteshaus er gebaut hatte. Was er geschaffen hatte, war in meinen Augen jedoch kaum überwältigend, sondern schlicht neureich. Das wäre zu verschmerzen gewesen, hätte das Geld von dem oder besser: den Bauherren selbst gestammt. Davon war jedoch kaum auszugehen.

Ich hätte gerne unseren Hardcore-Christen Nathanael nach seiner Meinung zu dem Gebäude befragt. Der war aber nicht mit hineingekommen. Draußen vor der Tür hatte nämlich ein Schild darauf hingewiesen, dass Menschen mit ärmellosen Tops, kurzen Röcken oder kurzen Hosen das Betreten verboten war. Und Nathanael trug zu jeder Jahreszeit kurze Hosen. Er war wohl dennoch gläubiger als alle Eingelassenen zusammen.

Beim Besuch des Mailänder Doms war ich noch fest davon ausgegangen, dass unser Konzert hier stattfinden würde. Einfach, weil wir in New York, San Francisco und San Diego auch in den großen Kathedralen aufgetreten waren. Wozu nahm man auch die Strapazen auf sich, fremde Länder zu bereisen, wenn nicht, um an den dortigen Top-Adressen zu singen? Chiesa Cristiana Protestante war keine Top-Adresse. Es war die Kirche der deutschen Gemeinde von Mailand. Sie war in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil des Mailänder Doms. Die Wände waren kahl, die Kirchenbänke schlicht und die Orgel machte einen höchst zweckmäßigen Eindruck. Die deutsche Gemeinde von Mailand lebte hier dennoch über ihre Verhältnisse. Zumindest, wenn man nach der Größe des Publikums urteilte. Zwar waren die Bänke recht gut gefüllt, doch stammten rund zwei Drittel der Zuhörer ganz bestimmt nicht aus Mailand. Es waren nämlich dieselben Leute, die in St. Johannis-Harvestehude auch immer auf Kirchenbänken saßen: Die Eltern unserer Knaben. Sie hatten tatsächlich den weiten Weg nach Mailand auf sich genommen, um denselben Chor zu hören, den sie zuhause auch immer hörten. Nun ja, andere Menschen flogen in die Dominikanische Republik, um dort deutschen Schlagern zu frönen. Und ich hätte, wenn ich nur gekonnt hätte, selbst im fernsten Ausland noch die gleichen Killerspiele gespielt wie in meinen privaten Gemächern.

Gleich beim ersten Stück gab es eine böse Überraschung: Der Strom fiel aus und mit ihm sämtliche Lampen. Herr Kaiser ließ sich davon nicht beirren. Statt den Takt zu schlagen, schnippte er ihn nun. Er tat das so demonstrativ unbeeindruckt, dass das Publikum beinahe zwangsläufig lachte.

Der Sicherungskasten befand sich praktischerweise recht nahe am Eingang. Nachdem das Stück zu Ende gesungen war, rannte einer hin und schaltete den Strom wieder ein. Es sollte im Laufe des Konzerts noch zwei weitere Ausfälle geben.

Es war noch ein Stück bis zur Pause, als ich etwas bemerkte. Die Luft hier in der Kirche ähnelte doch verdammt der in unserem Reisebus. Ich musste es wissen, immerhin hatte ich in den vergangenen sechs Tagen bestimmt dreißig Stunden in dem Gefährt zugebracht. So unangenehm wie hier war mir diese Art von Luft dort aber nie erschienen. Es mochte damit zusammenhängen, dass mir nicht speiübel gewesen war. Das war jetzt anders. Nicht mehr lange und ich würde damit in die Annalen der Chorgeschichte eingehen, dass ich dem Knaben vor mir auf den roten Pullover gekotzt hatte.

Das war etwas, was es zu verhindern galt. Ich fuhr mit dem Finger in meinen Kragen und versuchte, ihn zu weiten. Zwergo bemerkte das.

«Ist alles okay, Lennart?», fragte er.

«Ja», antwortete ich.

«Möchtest du dich nicht vielleicht lieber hinsetzen?»

«Ähm, doch.»

Ich stieg vom Chorpodest herunter und setzte mich in die erste Publikumsreihe. Eine weibliche Person kam herbeigerannt. Ich konnte nicht sicher sagen, ob sie älter oder jünger als ich, ob sie Mädchen oder Frau war. Was sie nun sagte, machte die Einordnung nicht unbedingt leichter.

«Möchtest du was zu trinken?», fragte sie.

«Nein –», antwortete ich.

«Möchtest du einen Keks?»

«Nein –»

Sie ließ von mir ab.

Jannis’ Zusammenbruch beim Konzert in Albertinen war lange Jahre ein einmaliges Ereignis geblieben. Seit einigen Monaten aber häuften sich auf der Bühne die Schwächeanfälle. Woran das lag, vermochte niemand zu sagen. Herr Kaiser konnte es nur immer wieder gebetsmühlenartig wiederholen: «Wenn ihr merkt, dass ihr einen Schwächeanfall habt: Spielt nicht den Helden! Es ist besser, sich für ein bis zwei Stücke hinzusetzen. Danach seid ihr vielleicht schon wieder fit. Wenn ihr aber erst mal zusammengebrochen seid, fallt ihr für das ganze Konzert aus. Damit ist niemandem geholfen, am allerwenigsten euch selbst. Also: Spielt nicht den Helden!»

Marc hatte den Schwächeanfällen indes den Kampf angesagt: Vor jedem Auftritt verteilte er Traubenzucker. Geholfen hatte das bislang nicht.

Mein Schwächeanfall war insofern nicht besonders aufsehenerregend gewesen. Bemerkenswert war allenfalls, dass es das erste Mal einen Mann getroffen hatte und nicht einen Knaben.

Im Pausenraum wurde ich umringt.

«Was war denn los, Lennart?», fragte Philipp.

«Keine Ahnung. Irgendwie habe ich mich plötzlich gefühlt, als würde ich im Bus sitzen und gleich kotzen müssen», erwiderte ich.

«Glaubst du denn, dass du jetzt wieder mitsingen kannst, Lennart?», fragte Herr Kaiser.

«Ich denke schon.»

Unser Chorleiter wandte sich nun an alle: «Seht ihr, Leute, wenn man sich hinsetzt, statt den Helden zu spielen, kann man ganz schnell wieder mitsingen.»

Zwergo trat an mich heran: «Lennart, es ist schön, dass es dir wieder besser geht. Aber wenn dir gleich wieder schlecht werden sollte oder so, setz dich einfach wieder hin und bleib dann auch sitzen, okay?»

«Okay.»

Marc drückte mir eine ganze Packung Traubenzucker in die Hand.

«Nimm lieber noch ein paar.»

Davon konnte Imanuel mir nur abraten.

«Lennart, nimm die Dinger bloß nicht. Guck mal, was auf der Verpackung steht! Davon bist du zwanzig Minuten hellwach und dann sind alle Körperreserven verbraucht und du bist danach erst recht total kaputt und klappst zusammen. Ich habe Marc gesagt, dass er sich nicht wundern soll, dass die Knaben auf der Bühne umkippen, wenn er ihnen andauernd das Zeug gibt. Der kapiert das aber irgendwie nicht.»

Ich warf einen genaueren Blick auf die Verpackung. Tatsächlich, dort stand es: ‹Wirkungsdauer: zwanzig Minuten.› Ich genehmigte mir dennoch sämtliche darin enthaltene Traubenzuckerbonbons. Und tatsächlich: Die zweite Hälfte das Konzerts ging ganz ohne weitere Schwächeanfälle vonstatten.