Vor erlauchtem Publikum
Perlen von Holstein Folge 124
Über fünf Jahre residierte die Staatliche Jugendmusikschule Hamburg nun schon in ihrem eigenen Gebäude. Zu verdanken hatte sie dies Michael Otto, dem Chef des Otto-Versandes. Unser Oberster, Herr Sobirey, befand, dass wir uns nach so vielen Jahren einmal wirklich erkenntlich zeigen mussten. Ein passendes Geschenk musste er zum Glück gar nicht erst suchen. Wem Musikpädagogik so sehr am Herzen lag, den würde schließlich nichts mehr freuen als zu hören, welche Früchte sie trug. Wer die besondere Ehre haben würde, für unseren Mäzen zu musizieren, stand ebenso außer Frage: Der Neue Knabenchor Hamburg war das Vorzeige-Ensemble der Jugendmusikschule; das Foyer des von Herrn Otto finanzierten Hauses war voll von unseren Rekrutierungsplakaten.
Eine Viertelstunde vor dem Auftritt lagen die Nerven blank. Herr Kaiser rügte David und mich heftig. Die Liste der Dinge, die er uns vorzuwerfen hatte, war lang. Und sie umfasste keineswegs nur unser jetziges Verhalten.
«Wisst ihr», sagte er, «am vergangenen Freitag, da war ich kurz davor, die Männerprobe euretwegen abzubrechen!»
Ich war außer mir vor Wut. Natürlich hatten David und ich bei der letzten Männerprobe unsere Späße gemacht. Doch keineswegs mehr als normalerweise. Der Zornesausbruch unseres Chorleiters war für mich nicht nachzuvollziehen. Vor allem, weil er sich nichts hatte anmerken lassen, sondern geduldig den rechten Zeitpunkt abgewartet hatte.
Ich wollte meinem Ärger bei Imanuel Luft machen. Der aber hielt es für angebracht, die Gunst der Stunde zu nutzen.
«Ja also, Lennart, da hat Herr Kaiser aber recht, dass ihr euch am Freitag total daneben benommen habt. Da waren auch die anderen Männer sauer auf euch.»
Ich kommentierte dies nicht weiter, sondern wandte mich an Zwergo.
«Ehrlich: In solchen Situationen fragst du dich, warum du überhaupt herkommst, wenn du ja doch nur andauernd für irgendwas zur Sau gemacht wirst», sagte ich.
«Hm», erwiderte Zwergo, «also wenn das so ist, Lennart, sollten wir vielleicht überlegen, ob du nicht besser aufhörst. So soll das ja nicht sein, dass jemand herkommt, obwohl es ihm schon längst keinen Spaß mehr macht.»
Eine Antwort, die mich doch etwas stutzig machte. Hatte ich behauptet, aufhören zu wollen?
Es war soweit, wir mussten unseren heutigen Konzertsaal betreten: Den Großen Studiosaal des Gebäudes der Jugendmusikschule. Drinnen angekommen, nahmen wir Platz, wo wir hier immer Platz nahmen: Auf den hinteren Stuhlreihen. Die Bühne war vorerst dem Vorchor Drei vorbehalten.
Er sang: «Es führt über den Main eine Brücke von Stein, wer darüber will geh’n, muss im Tanze sich dreh’n. Falalalala, falalala.»
Klänge, die meine Laune gleich deutlich besser werden ließen. Sicher, eine Brücke, die mich zum Tanzen zwang, wollte ich mir nicht einmal vorstellen. Tanzen war definitiv die einzige Form musikalischer Betätigung, für die ich mich nicht erwärmen konnte. Die Melodie jedoch hatte etwas. Man fühlte sich gleich in die märchenhafte Mittelalter-Welt von Age of Empires II hineinversetzt. Nur, dass wirklich einmal überhaupt niemand eine Waffe bei sich trug und auch gar nicht auf die Idee gekommen wäre, dies zu tun.
Wenn ich zuhause wäre, würde ich gleich erstmal nachsehen müssen, ob sich im Internet nicht eine Aufnahme von dem Lied finden ließ. Hören würde ich es anderenfalls ja leider nie wieder.
Der Vorchor Drei hatte zu Ende gesungen. Nun waren wir an der Reihe. Erst auf der Bühne sah ich, was das für ein erlauchtes Publikum war, vor dem wir heute singen sollten. Neben Michael Otto saß mit überschlagenen Beinen Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust. Er war mir ein Begriff, seitdem er 1997 das erste Mal um das Amt des Bürgermeisters kandidiert hatte. Nirgendwo war man von seinen Wahlplakaten verschont geblieben. ‹Es muss sich viel ändern. Ole von Beust›, hatte auf ihnen gestanden. Erst nach einigen Wochen hatte er geäußert, wie er diese Veränderungen herbeiführen wollte: ‹Jeder Stadtteil erhält seine eigene Polizeistation›. Ob er dieses Versprechen umgesetzt hatte, als er 2001 dann tatsächlich Erster Bürgermeister geworden war, ich wusste es nicht. Jedenfalls saß er neben Michael Otto.
Die beiden sahen uns an, als würden sie sagen wollen: ‹Sie haben fünfzehn Sekunden, mich von Ihrer Idee zu überzeugen. Die Zeit läuft jetzt.› Steinern waren ihre Minen. Man konnte meinen, dass das hier nicht nur für uns ein Pflichttermin war.
Ihre Minen blieben unseren ganzen Auftritt über steinern. Von Beust wechselte einmal das überschlagene Bein, ansonsten zeigte bis zum abschließenden Applaus niemand im Publikum irgendeine Regung. Niemand außer Herrn Sobirey, der zwar ebenso still dasaß, aber durchaus elektrisiert wirkte.
Nachdem wir fertiggesungen hatten, gingen wir nach draußen. Die anderen durften nach Hause gehen, auf mich wartete noch ein zweiter Auftritt. Seit einem Jahr war ich nun Mitglied im Bläserorchester der Jugendmusikschule. Seine Philosophie unterschied sich eklatant von der des Knabenchors. Wer hier mitspielen wollte, der durfte mitspielen. Egal, ob er drei Monate oder drei Jahre Unterricht hatte, ob er angehender Virtuose oder völlig untalentiert war. Chefdirigent Detlef konnte es nicht oft genug wiederholen: «Und wenn ihr mal einen Ton nicht spielen könnt, dann spielt ihn trotzdem. Ist doch viel besser, als wenn ihr dann gar nicht spielt.» Dementsprechend stand keine allzu komplizierte Literatur auf dem Programm. Meist spielten wir Final Countdown, ein Beatles- und ein Star-Wars-Medley. Geprobt wurde nur alle drei Monate, dafür dann ein ganzes Wochenende lang und in immer anderer Besetzung. Das von uns gebotene Klangergebnis war immer gleich: So feurig wie falsch.
Im Bläserorchester war jedes gängige Blasinstrument rund zwanzig Mal vertreten. Dazu kamen noch zwei Schlagzeuge und einige eher unübliche Blasinstrumente. Wir waren mit anderen Worten viel zu viele, um in den Großen Studiosaal zu passen. Chefdirigent Detlef vereinbarte deswegen mit uns, dass wir Michael Otto und Ole von Beust einen klingenden Empfang bereiten würden, wenn sie ebenjenen Saal verließen. Zu diesem Zwecke brachten wir uns im Foyer der Jugendmusikschule in Stellung.
Ole von Beust ließ nicht lange auf sich warten. Kaum, dass ich mich mit meiner Klarinette zu den anderen Instrumentalisten gesellt hatte, kam er auch schon aus dem Großen Studiosaal heraus. Wir kamen jedoch gar nicht zum Spielen. Er richtete sogleich das Wort an uns.
«Ich würde euch jetzt ja noch sehr gerne singen hören, aber ich muss jetzt leider weg. Als Bürgermeister hat man immer viel um die Ohren, müsst ihr wissen.»
Dann ließ er sich von seinen Leibwächtern zum Hinterausgang führen. Michael Otto ließ sich gar überhaupt nicht mehr blicken. So spielten wir für Herrn Sobirey und alle, die sonst noch im Gebäude waren.