Das Tor des Hades
Perlen von Holstein Folge 126
Bushaltestellen können nichts dafür, wenn sie in hässlichen Gegenden liegen. Auch hässliche Gegenden haben schließlich das Recht auf einen Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr. So gesehen war es unfair, die Haltestelle BAB-Auffahrt Waltershof als eine der hässlichsten mir bekannten zu bezeichnen. Sie lag einfach nur in einer unsagbar hässlichen Gegend. Einer Gegend, in der man sich eigentlich nur aufhielt, wenn man wie ich an besagter Haltestelle saß.
Zu meiner Vorderen lagen die namengebende Autobahnauffahrt, zu meiner Linken ein Stahl- und ein Klärwerk, zu meinem Rücken mehrere Logistikzentren. Die freigebliebenen Flächen waren mit Grün bedeckt. Es ließ die Gegend jedoch eher noch trostloser erscheinen. Besonders an einem grauen Tag wie diesem.
Nur noch drei Tage. Dann würde es stattfinden, das Gespräch mit meinem Vertrauenslehrer und meinen beiden Klassenkameradinnen. Dem alleinigen Wunsch der beiden entsprechend am Mittwoch in der ersten großen Pause. Ich hatte protestiert – Mittwoch hatte ich erst ab der dritten Stunde Unterricht.
«Denkt ihr, ich hab’ Bock, euretwegen früher zur Schule zu kommen?», hatte ich gesagt.
«Denkst du, wir haben Bock, wegen dir länger in der Schule zu bleiben?», hatte die gute Bullin erwidert. Das nämlich hätten die beiden gemusst, wenn das Gespräch, wie von mir gefordert, in der zweiten großen Pause stattgefunden hätte. Ein Szenario, das einen schon einmal vergessen ließ, dass man eigentlich die gute Bullin war, nicht die böse Bullin.
Statt weiter mit mir zu diskutieren, hatten die beiden dem Abgesandten unseres Vertrauenslehrers schöne Augen gemacht. Einmal mehr hatten sie ihren Willen bekommen.
«Also Mittwoch, erste große Pause. Ist das okay für dich, Lennart?», hatte die gute Bullin mit süßlicher Stimme gefragt. Sie hatte offensichtlich in ihre Rolle zurückgefunden.
Ich war aufgestanden und gegangen.
Ich lehnte mich gegen die kalte Scheibe des Wartehäuschens und lauschte meinem momentanen Ohrwurm, dem Titellied des Killerspiels Spellforce.
Eine Melodie voll süßen Weltschmerzes, den die von Zauberern und Elfen bewohnte Scheinwelt des dazugehörigen Spiels zu lindern versprach. Leider tat sie das nicht. Man war eigentlich ununterbrochen nur damit beschäftigt, dem nie versiegenden Fluss von Feinden Herr zu werden. Im Gänsemarsch strömten sie auf einen zu. Zeit, die Atmosphäre in sich aufzunehmen, blieb da nicht allzu viel.
Das galt mit Abstrichen auch für das so lang erwartete Age of Empires III. Landschaften und Hintergrundmusik boten die von mir ersehnte Naturidylle. Jedoch wurde man so schnell in Kämpfe verwickelt, dass man davon nicht viel hatte. Das Spiel war im Vergleich zu seinen Vorgängern stark beschleunigt und überdies versimpelt worden. Ich huschte nur so durch die beschaulich aussehenden Levels. Zeit für Erkundungsfahrten blieb wenig. Zu entdecken gab es ohnehin kaum etwas. Und die wenigen Gefahren, die in versteckten Winkeln lauerten, waren lachhaft. Wie sollte ich da in irgendetwas eintauchen?
Ein Motorengeräusch riss mich aus meinen Gedanken. Zwergos Auto kam in der Haltebucht zum Stehen. Ich stand auf und stieg ein. Drinnen saßen neben Zwergo unser Chorleiter Herr Kaiser und Imanuel. Unser gemeinsames Ziel war die Stiftskirche Ramelsloh. Sie stand in einem Ort, der noch hinter Maschen lag. Wir hatten schon einmal dort gesungen, 1997 bei meiner ersten Weihnachtssaison mit dem Knabenchor. Meine Mutter und ich hatten uns damals mit öffentlichen Verkehrsmitteln, also mit einem zweistündlich verkehrenden Bus, dorthin durchgeschlagen. Ansonsten erinnerte ich mich eigentlich nur daran, wie ich mich mit Vinzent nach dem Konzert über unsere schmerzenden Füße unterhalten hatte.
Dieses Mal war zumindest die Fahrt weniger entbehrungsreich. Keine halbe Stunde später trafen wir bei der Kirche ein. Wir stiegen aus und begaben uns zum Gemeindehaus. Auf dem Weg dorthin fiel mir auf, dass ich optisch ganz schön herausfiel. Herr Kaiser, Zwergo und Imanuel trugen teuer aussehende Mäntel. Ich trug eine Jacke mit dem Logo der Killerspiel-Marke EA Games.
Es war Zeit, dass ich unter meinesgleichen kam. Zum Glück war David bereits da. Wir unterhielten uns über die üblichen Themen.
Nach der Generalprobe machte ich hinter dem Altar der Kirche eine schauerliche Entdeckung. Ich rief David herbei. Er begutachtete meinen Fund.
«Alter, das ist ja richtig unheimlich», sagte er.
Vor uns stand ein Schrank. Er bestand aus dunklem Holz, sein Inhalt war unbekannt. Unheimlich war er jedoch nicht wegen seines Erscheinungsbildes, sondern wegen seines Standorts. Was bitte hatte dieser Schrank hier hinter dem Altar zu suchen?
David kannte eine Erklärung. Er sprach mit jener Stimme, mit der er auf der Fahrt nach Darmstadt die Stille beschrieben hatte.
«Der Schrank ist das Tor zur Erkenntnis», sagte er, «Nur durch den Schrank ist es uns möglich, die Ketten zu begreifen, die die Höhere Macht in Form von Sinnesorganen an uns gelegt hat. Hat man die Türen des Schranks jedoch einmal durchschritten, ist eine Rückkehr ausgeschlossen. Wer dies getan hat, der muss den Rest seines trostlosen Daseins in der wahren Realität fristen, in der wir Menschen nur als Sklaven und als Nahrungsmittel dienen.»
Den ganzen Weg zum Gemeindehaus lachten wir uns darüber krank. Dort angekommen, fügte David seiner Erklärung noch einige Ergänzungen hinzu.
«Und am nächsten Tag findet man einen Zettel auf seinem Bett: ‹So liegen Sie auf dem, was Sie für ein Bett halten. Sie haben also vergessen, dass Sie meine Pforten bereits betraten. Freuen Sie sich nicht zu früh, das «Erwachen» wird furchtbar sein. Gezeichnet: Der Schrank.›»
Wir lachten uns tot.
Was genau es war, das wir an dem Möbelstück so komisch fanden, konnte ich nur schwer sagen. Entscheidend war: Wir fanden es komisch. So komisch, dass wir uns immer noch darüber totlachten, als wir uns kurz vor Konzertbeginn im Vorraum der Kirche einfanden.
Die Orgel erklang.
Mein Lachanfall wurde stärker. Ich hatte es schon immer zum Schreien komisch gefunden, wenn versucht wurde, Dingen durch den Einsatz von Musik einen Wert anzudichten. Und wenn kurz vor unserem Einzug die Orgel erklang, geschah genau das. Es würde doch schließlich nichts weiter geschehen, als das wir hineintrotteten.
David lachte ebenso.
«Das ist der Klang des Todes», sagte er.
«In diesem Moment öffnet sich der Schrank», erwiderte ich.
«Hahaha, der kommt gleich, wenn wir reingehen, auf uns zugeflogen, öffnet sich und hinter seinen Türen ist so ein Dimensionsportal.»
David zeichnete einen Wirbel in die Luft.
Das fand nicht nur ich zum Schreien komisch, sondern auch Morle und Lukas. Allerdings aus anderen Gründen.
«Hahaha, wie der eine immer guckt, ob der andere lacht, bevor er selbst loslacht, hahaha», sagte Lukas.
Dabei war zumindest mein Lachkramp keineswegs gespielt. Er war derart real, dass ich ihn das ganze Konzert lang nicht in den Griff bekam. Beim Einziehen fiel es mir schwer, geradeaus zu laufen. Beim Singen schaffte ich es immer wieder etwa fünf Takte lang, meinen Lachanfall zu vergessen, indem ich mich auf die Musik konzentrierte. Dann dachte ich: ‹Puh, jetzt hast du es fünf Takte lang geschafft, deinen Lachanfall zu vergessen.› Sogleich fiel mir wieder ein, worüber ich eigentlich hatte lachen müssen und es ging erneut los. Am schlimmsten war es aber während der Sitzpausen. Ich war auf einer Bank seitlich des Altars platziert worden. Hier sah ich zwar nicht direkt auf den Schrank, dafür aber in Richtung Pascals, der mir gegenübersaß. Mit lässigem Grinsen deutete er immer wieder auf das Möbelstück. Ich konnte von Glück reden, dass ich hier hinten wenigstens lachen durfte. Solange dies lautlos geschah, merkte wohl keiner etwas. Auf dem Podest war das anders. Da musste ich irgendwie sicherstellen, dass mir niemand etwas ansah. Ein unmögliches Unterfangen.
Es war nämlich nicht nur der Schrank, der lustig war. Auch unsere Stücke waren zum Teil einfach nur urkomisch. Das ging schon bei unserem ersten Stück los, Nun sei willkommen, Herre Christ. Wir sangen es nicht auf der bekannten Melodie, sondern auf einer aus dem Mittelalter. Sie klang durch und durch ernst und bedeutungsvoll. Und genau deswegen war es so unglaublich komisch, wenn es dann in der zweiten Strophe hieß: ‹Nun ist Gott geboren, unser aller Trost, der der Hölle Pforten mit seinem Kreuz aufstoßt.› Ich stellte mir dabei immer vor, wie Jesus mit einem Kreuz unter dem Arm auf eines der großen Holzportale zulief, die im Killerspiel Age of Mythology den Weg in den Tartaros versperrt hatten. Nicht unbedingt komisch, aber zumindest sonderbar war, was folgte: ‹Die Mutter hat geheißen Maria, wie in allen Christenbüchern geschrieben steht.› Was sollte das sagen? Ich konnte auch irgendetwas schreiben und es zu einem Buch binden lassen.
Irgendwie komisch war auch die dritte Strophe von Wie soll ich dich empfangen. ‹Als mir das Reich genommen, wo Fried und Freude lacht, da bist du mein Heil kommen und hast mich froh gemacht›, hieß es dort. Wir sangen das häufig in der Probenpause und hoben bei den Wörtern Reich und Heil die Hand zum Gruß. Gleichermaßen verfuhren wir mit dem zweiten Vers der vorletzten Strophe von O Heiland, reiß die Himmel auf. Er lautete doch tatsächlich: ‹Ach komm, führ uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland.›
Eigentlich wäre ich angehalten gewesen, mich von meiner besten Seite zu zeigen. Oben auf der Empore nämlich saß neben meinem Vater auch mein großer Bruder. Und der war bekanntermaßen kritisch. Auch und besonders bei Dingen, von denen er nicht sonderlich viel verstand. Ich konnte mich schon darauf einstellen, dass es ihm nicht gefallen haben würde. Irgendeine Begründung hierfür würde ihm schon einfallen. Irgendeine Begründung fiel ihm immer ein. Noch zu gut erinnerte ich mich an sein vernichtendes Urteil, nachdem er vor sieben Jahren den Aufnahmearbeiten der plattdeutschen Weihnachts-CD beigewohnt hatte.
Ich fragte ihn deshalb auch gar nicht, wie es ihm gefallen hatte. Das brauchte ich auch nicht. Er erzählte es ganz von selbst. Mein großer Bruder war begeistert. So sehr, dass er überlegte, zu unserem Hauptkonzert in St. Jacobi zu kommen. Mein Vater war ebenfalls schwer angetan, besonders von O Heiland, reiß die Himmel auf.
«Da lässt Herr Kaiser euch aber wirklich ein schweres Stück singen. Vor allem die vorletzte Strophe, mit dem Bass als Cantus Firmus, das ist ja schon was für Profis.»
Ich hatte meinem Vater schon mehrmals von O Heiland, reiß die Himmel auf erzählt. Er hatte mir immer nicht so ganz glauben wollen, wie schwer das Stück war. Schön, dass er sich endlich selbst davon hatte überzeugen können. Auch in einer anderen Sache war er mit mir einer Meinung, wenn auch aus anderen Gründen.
«Den Schütz habt ihr nicht gut gemacht. Der klang sehr schwerfällig. Eigentlich merkwürdig, dass Herr Kaiser den nicht kann. Der hat doch im Dresdner Kreuzchor mitgesungen, dachte ich.»
War Also hat Gott die Welt geliebt also gar nicht schwerfällig? Sangen wir es nur so? Es musste wohl so sein. Wenn es um Klassik ging, irrte mein Vater nie.