Das Ende aller Sorgen

Perlen von Holstein Folge 127

Der Tag des Gesprächs war gekommen. Viel eher als nötig brach ich zur Schule auf. Ich wollte auf jeden Fall vor meinen beiden Schulkameradinnen da sein. Das tat ich wirklich nicht gerne, schließlich bedeutete es, dass ich noch früher hatte aufstehen müssen. Die Alternative aber wäre gewesen, zuzulassen, dass die beiden noch ein letztes Mal unkontrolliert auf unseren Vertrauenslehrer einwirkten. Das galt es um jeden Preis zu vermeiden. Die letzte Partisanenaktion der beiden lag ja gerade einmal zwei Tage zurück.

Die beiden waren zu unserem Vertrauenslehrer gegangen und hatten kundgetan, dass sie das alles nicht mehr wollten. Sie glaubten nicht mehr, dass ich vorhatte, sie umzubringen. Von daher könnte man das Verfahren ihretwegen sofort einstellen. Woher diese Kehrtwende kam, wussten wohl nur sie. Vielleicht hatten sie allmählich erkannt, dass sie im Begriff waren, sich einen Feind fürs Leben zu schaffen. Und wer wusste schon, wofür ich nicht noch einmal nützlich sein könnte. Wahrscheinlich aber war das nur ein weiterer Versuch, mich in Sicherheit zu wiegen. Warum sonst war es das erst Mal, dass ich von einer ihrer Aktionen sofort erfuhr? Unser Vertrauenslehrer hatte sie abblitzen lassen. Welche Begründung er dabei anführte, wusste ich nicht genau. Sinngemäß hatte er den beiden wohl mitgeteilt, dass man gewisse Dinge eben zu Ende durchziehen musste. Er musste das im Hinblick auf einige vergangene Schul-Amokläufe auf jeden Fall. Was sie ihm über mich erzählt hatten, war ja nun einmal eine ernste Angelegenheit.

Der Raum, in dem das Gespräch stattfinden sollte, war natürlich abgeschlossen. Ich ließ mich auf den Boden sinken und kramte mein Buch hervor: Die weiße Löwin. Der inzwischen dritte Kurt-Wallander-Krimi, den ich las. Während ich mich an den plastischen Schilderungen einer weiteren Mordtat erfreute, kreisten meine Gedanken um eine Hoffnung. Die Hoffnung, dass unser Vertrauenslehrer vor meinen beiden Klassenkameradinnen hier aufschlüge. Natürlich geschah das nicht. Die zwei ließen in der Tat nicht lange auf sich warten.

«Hallo, Lennart», hörte ich sie sagen.

Sie stellten sich direkt vor mich.

«Na, was liest du da, Lennart?», fragte die gute Bullin.

Ich reagierte nicht. Dabei war die Versuchung, ihr etwas aus dem Buch vorzulesen, durchaus groß. Es wäre sicher amüsant gewesen zu erleben, was sie da dann wieder hineininterpretiert hätte. Amüsant und leider auch gefährlich.

«Er redet nicht mit uns», sagte die gute Bullin.

Die folgenden zehn Minuten herrschte Stille. Dann endlich kam unser Vertrauenslehrer. Er schloss den Raum auf und lud uns ein, ihm hinein zu folgen. Ich ging als erstes und suchte mir einen Platz aus. Die beiden setzten sich mir gegenüber. Ich vermied es, sie anzusehen.

Unser Vertrauenslehrer machte die Sache kurz. Er legte kurz dar, dass er mich nicht für einen potentiellen Gewalttäter hielt. Die Sache würde deshalb folgenlos bleiben, sie sollte sich nur nach Möglichkeit nicht wiederholen. Die beiden Grazien bat er, mich künftig in Frieden zu lassen.

«Es ist natürlich lieb von euch, dass ihr dem Lennart ein wenig den Tag versüßen wollt, er möchte aber eben lieber in Ruhe gelassen werden», sagte er, «Seid deswegen nicht traurig. Versüßt stattdessen doch einfach mir den Tag, dann sind wir alle glücklich und zufrieden. Okay?»

«Okay», sagten sie. Wie sich nicht einmal herausstellen musste, ohne es zu meinen.

‹Dumm gebor’n, nix dazugelernt und auch das wieder vergessen›, hätte Opa Max gesagt. Und der musste es wissen. Er war schließlich Lehrer gewesen.

Und so war die Sache zu einem relativ glimpflichen Ende gekommen. Mein Ruf in der Schule war noch mehr ruiniert, in allen anderen Punkten aber waren die beiden gescheitert. Sie hatten sich wahrscheinlich sogar selbst mehr geschadet als mir. Eine Sache war schließlich klar: Was auch immer passierte, ich würde mich an diese Aktion erinnern. Erst recht, wenn sie sie schon längst vergessen haben wollten. Man konnte fast meinen, dass die Welt vielleicht doch ein wenig gerecht war.

Spätestens, wenn ich übermorgen zur Probe kam, würde die Weihnachtsstimmung einsetzen.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Wie ungerecht die Welt zu denen ist, die ihre Regeln nicht verstehen, musste Anton Bruckner in seinem Leben weit mehr als einmal erfahren. So hatte er einmal ein Verfahren anhängig, weil er eine seiner Klavierschülerinnen ‹lieber Schatz› genannt hatte. Chef-Chauvi Richard Wagner hätte sich krumm und schief gelacht, hätte man versucht, ihm aus einer solchen Anfänger-Avance einen Strick zu drehen. Doch war Anton Bruckner nun einmal Anton Bruckner und wer Anton Bruckner einen Strick aus etwas drehen wollte, dem gelang das auch. Die Sache ging dann aber doch glimpflich aus.


Zu Beginn des großen Weihnachtskonzerts in St. Jacobi war noch immer keine Weihnachtsstimmung da. Sie sollte auch im Laufe des Konzerts nicht mehr kommen. Gleich zu Beginn erlitt zum sicher zehnten Mal in diesem Jahr ein Sänger auf der Bühne einen Schwächeanfall. Sam, ein Knabe in der ersten Reihe, brach aber nicht einfach zusammen. Er kippte nach vorne vom Podest herunter. Mit blutendem Kinn wurde er aus der Kirche getragen. Ob er sich etwas gebrochen hatte, erfuhren wir nicht. Wir sahen ihn nie wieder.

Es sollte das letzte Mal in meiner Chorlaufbahn gewesen sein, dass ein Knabe auf der Bühne einen Schwächeanfall erlitt. Die Gründe mochten sein, dass zwei Mahnern endlich Gehör geschenkt wurde. Imanuel setzte sich damit durch, dass der Traubenzucker abgeschafft wurde, Herr Kaiser damit, dass die Knaben fortan nicht mehr den Helden zu spielen versuchten.

Es war mir äußerst unangenehm, das Publikum eines Weihnachtskonzertes miterleben lassen zu müssen, wie ein blutender Junge aus der Kirche getragen wurde. Man konnte fast froh sein, dass so wenig gekommen waren. Zwar waren die Bänke in der Kirchenmitte fast voll, die Seitenplätze jedoch waren komplett leer geblieben. Vorbei waren die Zeiten, in denen wir in St. Jacobi vor vollem Hause gesungen hatten. Oder war es mir damals – berauscht von Farbe, Freude und Festlichkeit – nur so voll vorgekommen?

Nein, in Weihnachtsstimmung würde ich heute nicht mehr geraten. Weder durch unsere Stücke noch durch die Lesung. Letztere übernahm in diesem Jahr ein gewisser Rolf Becker, laut meiner Mutter ein Alt-Linker. Der Inhalt der von ihm vorgelesenen Weihnachtsgeschichte war dementsprechend. Sie handelte von einem russischen Bauern, der sich nach seinem Ableben vor dem Jüngsten Gericht verantworten muss. Zunächst sieht es schlecht für ihn aus. Die Liste der ihm vorzuhaltenden Dinge ist lang. Dann aber hält er eine lange Rede über die Widrigkeiten, denen ein Mensch seines Standes tagtäglich begegnen muss. Die eine oder andere Sünde zu begehen, ist dabei unvermeidlich. Auf diese Weise gelingt es ihm, die Obersten zu überzeugen und ins Paradies zu gelangen.

Von der Aussage her fand ich die Geschichte großartig. David und ich unterhielten seit einiger Zeit immer häufiger über soziale Ungerechtigkeit, Kommerz und solche Dinge. Das taten wir natürlich auch jetzt im Advent. Gesellschaftliche Probleme verschwanden über Weihnachten schließlich nicht einfach. Von daher konnte man sie auch bedenkenlos bei einem Weihnachtskonzert thematisieren. Nur sollte man sich dabei bitte kurz fassen. Die Geschichte, die Rolf Becker vorlas, war eine dreiviertel Stunde lang. Ein Zeitraum, den wir auf den Podeststufen in Quasi-Hockstellung sitzend verbringen durften. Den Schmerzen in meinen Steißbeinen nach zu urteilen kein besonders gesundheitsförderndes Unterfangen.


Auch in den folgenden Tagen sollte ich nicht in Weihnachtsstimmung kommen. Nicht beim Heiligabendgottesdienst und auch nicht, als Herr Kaiser schließlich doch ‹Es kommt ein Schiff, geladen› sagte.

Ich war enttäuscht, aber nicht allzu frustriert. So schnell würde mich schon keiner ein weiteres Mal zum Vertrauenslehrer zerren. Die Weihnachtsstimmung würde im nächsten Jahr wieder da sein. Ganz bestimmt.