Nun fanget an
Perlen von Holstein Folge 128
Januar 2006
Das Neue Jahr war da und bescherte uns bereits von der ersten Probe an frische Stücke. Nun fanget an hieß eines davon. Es war von Hans Leo Hassler, einem Komponisten, von dem ich noch nie gehört hatte. Seinen Namen aber fand ich aber sogleich sympathisch. Wenn jemand, dessen erster Vorname Hans lautete, mit zweitem Vornamen Leo hieß, das hatte schon irgendwie was. Zudem erwies sich einmal mehr, dass für Komponisten mit bemerkenswerten Namen galt: Nomen est omen. Denn: Nun fanget an passte ganz vorzüglich zu einem Menschen, der Hans Leo Hassler hieß. Es war das Werk eines Partylöwen.
‹Drum schlagt und singt, dass all’s erklingt, helft unser Fest auch zieren›, lautete der Text des letzten Abschnitts.
David, Max-Frederick und ich hatten unsere helle Freude daran. Das Wörtchen schlagt verschaffte uns Gelegenheit, das Piratenbass-Timbre unserer Stimmen so richtig zur Geltung kommen zu lassen. Allzeit sangen wir es im vollen Fortissimo.
Der Text des ersten Abschnitts gefiel mir durchaus ebenso: ‹Nun fanget an ein gut’s Liedlein zu singen, lasst Instrument’ und Lauten auch erklingen›. ‹Instrument’ und Lauten›. Das erinnerte irgendwie an jenen altvertrauten Witz: ‹Tourneebus verunglückt. Die Musiker und der Schlagzeuger kamen mit dem Schrecken davon.› Gemeint war es aber wohl anders. Laut Wikipedia hatte die Laute in der Renaissance schließlich als die Königin der Instrumente gegolten.
Unser Chorleiter fand es zum Schreien komisch, dass ich Nun fanget an als ein Partylied betrachtete. Er sagte jedoch nicht, als was ich es stattdessen empfinden sollte. Außerdem konnte man sie bei den altmodischen Klängen des Stückes doch direkt vor sich sehen: Hans Leo Hassler und seine Spießgesellen, wie sie in den umständlich anzuziehenden Gewändern jener Tage im Dorfkrug saßen. So blieb ich bei meiner unreifen Betrachtungsweise.
Etwas irritiert war Herr Kaiser von meiner Frage, ob bei dem ebenfalls neuen Lied Ach Elslein liebes Elselein mein eine Elster oder eine Person namens Else angesprochen wurde. Ich war mir da wirklich nicht ganz sicher. In Liedern vergangener Tage wurden schöne Vögel nicht weniger häufig besungen als schöne Frauen. Wie sollte man da noch unterscheiden können?
An sich aber gefiel mir das Stück. Seine tragische Geschichte schien irgendeinem Märchenwald entsprungen zu sein. Entsprechend schlicht waren die Gemüter und unmittelbar die Emotionen. Besonders schätze ich die Abwärtsbewegung gleich zu Anfang. In der ersten Strophe kam sie auf die Worte ‹Elselein mein›, in der zweiten auf ‹Schme-e-erzen›. Sie zu singen fühlte sich an, wie sein gesamtes Herz auf einmal auszuschütten.
Eine besondere Überraschung war, dass wir in diesem Jahr auch Es führt über den Main sangen. Herr Kaiser hatte einen vierstimmigen Satz davon gefunden, sodass es jetzt nicht mehr nur dem Vorchor Drei vorbehalten war. David konnte das nicht gutheißen. Das lag zum einen am Text, zum anderen an der Musik.
«Ey, diese eine Strophe mit dem Mädchen ist ja wohl mal voll pädophil, ey. Von wegen: ‹Fasst ihr Röckchen geschwind, und sie tanzt wie der Wind›», sagte er.
So gesehen hätte er es eigentlich gutheißen müssen, dass wir Bässe nicht den Text zu singen hatten. Wir sangen nur Bomm. Damit widersetzte sich Herr Kaiser dem Willen des Komponisten, der sich wünschte, dass wir Hm sangen. Wir sangen in den Proben häufig weder das eine, noch das andere, sondern Schrumm. Das war vor allem deshalb witzig, weil Herr Kaiser es nicht bemerkte. Er, der nach eigenen Angaben alles bemerkte.
Derlei Späße vermochten jedoch nicht an Davids Meinung zu dieser Musik zu rütteln. Eine Linie singen zu müssen, die nur vier verschiedene Töne enthielt, das war ihm einfach zu stumpf. Ich fand, dass er damit nicht ganz unrecht hatte. Trotzdem freute ich mich riesig über das unverhoffte Wiedersehen mit dem Lied. Meine Versuche, eine Aufnahme davon zu bekommen, waren erfolglos gewesen. Die wenigen Einspielungen, die es gab, waren nicht mit Knabenchor. Sie waren mit Schlagersänger und Synthesizer. Das war bei so etwas nun wirklich fehl am Platze. Ich hatte mich deshalb beinahe schon damit abgefunden, bis ans Ende meiner Tage von meinen Erinnerungen an das Lied zehren zu müssen, wenn ich es hören wollte. Jetzt aber würde ich es für mindestens ein Jahr singen. Was dann sein würde, wusste niemand, aber das war mir erst einmal egal.
Es war wirklich ein Jammer, dass es so wenig Tondokumente von unserem Chor gab. Über Weihnachten hatte ich gelegentlich die Aufnahme unseres Weihnachtsprogrammes von 1998 gehört. Um mir die Basslinie der heute noch gesungenen Stücke einzuprägen. Und um mich in einen nostalgischen Rausch versetzen zu lassen. Ansonsten war von der Vergangenheit außer einigen Chorfotos kaum etwas geblieben. Von unserem Amerika-Programm gab es keine Aufnahme. Dabei hätte ich viel darum gegeben, noch einmal Nun ist alles überwunden zu hören. Mit O Heiland, reiß die Himmel auf und Wie soll ich dich empfangen würde es mir in einigen Jahren genauso gehen. Aufnahmen hatten wir davon ebenso keine gemacht. Um mir wenigstens ein bisschen etwas von ihnen erhalten zu können, hatte ich mir Kopien von den Noten angefertigt. Das Klangerlebnis würden sie freilich nicht ersetzen können.
Die Aufnahme unseres Weihnachtsprogrammes war nicht die einzige Klassik, die ich derzeit hörte. Mein Jahr im Männerchor hatte mir gezeigt, in welch einzigartige Gemütszustände einen derartige Musik versetzen konnte, wenn man sie nur ließ. Deshalb hatte ich mir Aufnahmen der Beethoven-Sinfonien beschafft, die ich noch aus Kindestagen kannte. Ich hörte sie nie vollständig – man musste es ja nicht gleich übertreiben. Jedoch die Sätze, die ich hörte, hörte ich oft mehrmals hintereinander. Ich war wirklich gespannt, was ich in diesem Jahr wieder an Klangerlebnissen kennen lernen würde.