Freizeitbewältigung
Perlen von Holstein
Februar 2006
Unser Chorleiter hatte eine erstaunliche Gemeinsamkeit mit meiner Mutter. Auch er schien es als seine Lebensaufgabe zu betrachten, ‹sinnvolle› Nutzungsmöglichkeiten für meine Freizeit zu finden. Er hatte das Frühjahrsprobenwochenende wiederbelebt und das Sommerprobenwochenende zur Probenwoche ausgebaut. Doch war noch alles nicht vollbracht. Dem Ganzen fehlte noch eine Institution, die den Wahnsinn eines zünftigen Probenmarathons so richtig auf die Spitze trieb. Diese kam in Form des Probentages. So zumindest nannte Herr Kaiser das. David und ich sagten dazu Acht-Stunden-Probe. Genau das war es nämlich: Eine Probe, die von zehn bis achtzehn Uhr ging. An meinem schönen Sonnabend.
Die altbewährten Laugenbrezel von der Schnellbäckerei am U-Bahnhof im Rucksack, schleppte ich mich die Hallerstraße entlang.
Es war ein trister, spätwinterlicher Tag, der keinen Schnee kannte. Die Bäume standen ohne Laub und die Straßen waren um diese Uhrzeit völlig leergefegt. Nur die am Wegrand parkenden Autos zeugten von menschlichem Leben. Die Sonne wurde von den Glasfassaden der Gewerbebauten reflektiert und hüllte alles in ein steriles, unnatürlich wirkendes Licht. Fast ein wenig wie in dem Killerspiel Act of War. Es fehlte nur, dass dicke Rauchschwaden einem die Sicht versperrten, weil auf der Straße mal wieder irgendwo irgendetwas brannte.
Erst kurz vor der Jugendmusikschule verließ mich das Gefühl, mich durch eine Geisterstadt zu bewegen. Ich traf meinen alten Freund David.
«Na», sagte ich, «freust dich schon auf acht Stunden Probe?»
«Hehe, total», erwiderte er.
«Hach, was wird das schön. Acht Stunden auf den ollen Holzstühlen zu sitzen und hier zu sein und zu singen. Acht Stunden, die man auch sinnvoll am Computer hätte verbringen können. Acht Stunden!»
Ich veranschaulichte ihm die Probendauer, indem ich acht Finger hoch hielt.
David stampfte einmal kräftig auf den Boden und grinste sardonisch.
Er konnte einem das Bevorstehende glatt erträglich machen.
In der Aula der Fremdsprachenschule angekommen, stellte ich die Dose mit den Brezeln auf den großen Buffettisch. Es war schwer, noch einen Platz zu finden, er war bereits reichlich gedeckt. Große Schüsseln, riesige Töpfe und fette Torten reihten und stapelten sich an- und aufeinander. Manches konnten die Knaben unmöglich alleine hierher getragen haben.
Meine Güte, wer sollte das denn alles essen?
Die erste Stunde verlief undramatisch. Herr Kaiser erfreute uns mit einer nagelneuen Einsingübung.
Das gefiel mir durchaus. Zumindest textlich. Musikalisch enthielt es für meinen Geschmack ein paar zu viele Töne, die irgendwie nicht ins Schema passen wollten. Zumindest für eine Einsingübung. Von der etwas überdehnten Koloratur einmal ganz zu schweigen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Herr Kaiser sich das ausgedacht hatte. Wahrscheinlich hatte er es irgendeinem Stück entnommen. Es war schwer zu sagen, ob dieses Stück vor fünf Jahrzehnten oder vor fünf Jahrhunderten komponiert worden war.
Bei O Nata Lux von Thomas Tallis, dem ersten Werk des Tages, lag die Sache eindeutiger. Man konnte sie regelrecht vor sich sehen, die gotische Kathedrale, in der diese Töne ursprünglich erklungen waren.
So gesehen hatte ich meinen Spaß. Das war aber natürlich nichts, mit dem man hausieren gehen konnte. Demonstrativ sah ich auf die Uhr und zeigte David mit den Fingern, dass es noch sieben Stunden waren. Mir wurde erst jetzt bewusst, wie schnell die Zeit vergangen war. Das war der Effekt von langen Proben: Einzelne Stunden kamen einem plötzlich unglaublich kurz vor. Viel kürzer als in der regulären Freitagsprobe.
Das galt natürlich auch die nächsten beiden Stunden. Als diese jedoch verronnen waren, machte sich in meinen Stimmbändern allmählich ein Brennen bemerkbar. Auch fiel mir das ununterbrochene Sitzen immer schwerer. Und wenn ich es so recht bedachte, hatte unser Chorleiter da eben gerade einen Einsatz gegeben. Und wenn unser Chorleiter uns einen Einsatz gab, dann hatte ich darauf zu reagieren. Genau das hatte ich eben gerade aber nicht. Ich konnte von Glück reden, dass Herr Kaiser es wohlwollend übersehen hatte.
So konnte es nicht weitergehen. Ich brauchte ein wenig Ablenkung und ich wusste, woher ich sie bekommen würde.
Herausfordernd grinsend blickte ich auf die Uhr und hielt David meine gespreizte rechte Hand entgegen. «Fünf –», sagte ich, «Fünf, David.»
«Alter, ich werd’s dir jetzt gleich mal zeigen mit deinem ‹Fünf›», erwiderte er. Dann demonstrierte er mir, wie er mir jeden Finger einzeln abbeißen würde.
Welch heftige Reaktionen man durch etwas so simples wie eine Zeitansage doch hervorrufen konnte. Die Anzahl der noch verbleibenden Reststunden war eben manchmal mehr, als man jemals hatte wissen wollen. Warum aber war die Uhr dann eigentlich erfunden worden? Es war doch in den allermeisten Fällen so, dass sie die Qualen bloß verstärkte. Aber vielleicht war es ja auch das, vielleicht wollte der Mensch sich auch einfach hin und wieder selbst ein wenig geißeln können.
Die Ansage, dass jetzt die große Mittagspause wäre, riss mich aus meinen Gedankengängen.
Max-Frederick und ich standen neben dem Buffet gegen einen Tisch gelehnt und kauten auf den von uns selbst mitgebrachten Speisen herum. Ich auf meinen Laugenbrezeln, er auf seinem Kuchen. Ein Blick in die Runde verriet, dass jeder irgendwie nur das aß, was er selbst angeschleppt hatte. Das wäre wohl an sich völlig in Ordnung gewesen, hätte es sich dabei nicht in manchen Fällen um eine für zwanzig bis dreißig Personen ausgelegte Menge gehandelt.
Der Anblick der Massen schien leider auch bei niemandem so rechten Hunger oder Appetit zu wecken, den meisten stand der Sinn nach Zerstreuung, so auch Max-Frederick.
«Ey», sagte er und kramte seinen MP3-Player hervor, «Kennst du die Wise Guys»
«Ja, klar!», antwortete ich. David hatte mir auf der Fahrt nach Darmstadt mit einigen ihrer skurrilen Lieder Sternstunden bereitet.
«Ey, hier, hör mal», sagte Max-Frederic reichte mir einen seiner Ohrenstöpsel dar, «Die haben voll so ’ne geile Techno-Verasche gemacht. Das musst du echt mal hören!»
Gemeinsam lauschten wir für einige Minuten den zunehmend absurder werdenden Klängen. Wir lachten uns über sie tot. Das rief Laurence auf den Plan.
«Hallo», sagt er. Dabei stellte sich in greifbare Nähe vor uns.
Sogleich ging es ihm an den Kragen. Max-Frederick kniff ihm in die Wange. Er tat es in einer Weise, die schmerzhaft aussah. Wohl deshalb riss sich der Junge los und rannte davon. Max-Frederick rannte hinterher. Eine Stimme in meinem Kopf sang Wer sich selbst erhöhet, der soll erniedrigt werden.
Tatsächlich sollte Laurence seine wiedergewonnene Freiheit nur kurz genießen können. Max-Frederick holte ihn ein, packte ihn und kniff ihm erneut in die Wange.
«Haha», sagte ich, «Seine Wange ist inzwischen bestimmt voll ausgeleiert.»
Max-Frederick ließ seine hämische Hyänenlache erklingen.
«Hahaha, ja» sagte er, «Irgendwann kannst du seine Wange bestimmt wie ’nen Gummihandschuh so ganz lang ziehen und wenn du sie dann loslässt, macht es Patsch!»
Max-Frederick probierte es sogleich aus. Laurence’ Wange erwies sich jedoch als zäher als er gedacht hatte. Sein gellendes Gelächter lockte zudem weitere Knaben an.
«Scheiß-Knaben!», rief Max-Frederick, «Vergiften, erschießen, überfahren!»
Ich johlte. Die Knaben meldeten in gewohnter Weise Protest an.
«Scheiß-Männer!»
Da ließ Max-Frederick von Laurence ab und stürmte auf sie zu.
Hals über Kopf ergriffen sie die Flucht. Sie achteten nicht darauf, wohin sie liefen und rannten direkt in die Arme von Pascal. Der packte einen von ihnen am Nacken und drückte ihn auf den Boden.
«Haha, Scheiß-Kinder», sagte er. Er grinste breit in meine Richtung.
Eine Äußerung, über die man sich aus seinem Munde schon wundern konnte. Zwar war er mittlerweile nicht nur Tenor, sondern auch rund eineinhalb Köpfe größer als ich, doch änderte das nichts an den Tatsachen: Er selbst war erst zwölf und damit nicht oder nur unwesentlich älter als diese Knaben.
Wir konnten übrigens alle von Glück reden, dass die Aula der Fremdsprachenschule groß genug für alle unsere kleinen und großen Auseinandersetzungen war. Verlassen durften wir sie nicht. Draußen auf den Gängen lauerte nämlich ein finsterer Geselle: der Hausmeister der Fremdsprachenschule. Der hatte mit seinem Kollegen aus der Handelsschule Kellinghusenstraße gemein, dass er unseren Chor auf den Tod nicht ausstehen konnte. Er beschränkte sich allerdings nicht darauf, Knaben, die seinem Büro zu nahe kamen, von dort zu verscheuchen. Wen er einmal ausgemacht hatte, den verfolgte er bis in unseren Probenraum. Und das nicht nur in den Pausen. Wenn es einen Vorfall gab, der in seinen Augen sofortige Klärung verlangte, dann platzte er auch schon einmal mitten in der Probe herein.
Zuletzt war dies geschehen, als ein Knabe beim Indoor-Fußballspielen eine Blumenvase zerdeppert hatte. Da war der Hausmeister hereingekommen und hatte Herrn Kaiser nach draußen zitiert. Der hatte dem Missetäter die Chance gegeben, sich freiwillig zu stellen. Ein Knabe namens Florian hatte sich gemeldet.
«Dann sagst du deinen Eltern noch heute Abend, dass sie in der Fremdsprachenschule anrufen sollen und anbieten, dass sie das bezahlen», hatte unser Chorleiter gesagt.
Der Terror des Hausmeisters war weitergegangen.
Nach der Pause sah es zunächst so aus, als ob ich die vier Stunden, die noch folgen sollten, schon irgendwie überstehen würde. Da ich nichts Heißes, Fetthaltiges, sondern eben nur meine eigenen Brezeln gegessen hatte, blieb das sonst für diese Uhrzeit so typische Suppenkoma aus. Ich war hellwach. Und doch wurde es ein zunehmend schwerer, sich auf das konzentrieren zu müssen, für das ich eigentlich hier war.
Sollte Herr Kaiser etwa ausnahmsweise einmal recht haben? War Singen, wenn man es richtig betrieb, geistig und körperlich anstrengend; gar ein Hochleistungssport? War sein wildes Dirigieren im Grunde eine Verbeugung vor dem, was wir hier Woche für Woche zwei Stunden lang hergaben? Es würde erklären, warum er es gerade besonders ekstatisch trieb.
Junge, Junge, der Mann sollte mal besser aufpassen, dass er nicht gleich mit der rechten Hand dem Vorhang zu nahe kommt. So fest der auch in seiner Verankerung hängen mochte, unser Chorleiter würde es zweifellos fertigbringen, ihn mit einer geschwinden Bewegung herunterzureißen. Die Gardinen hier waren groß und schwer, eine alleine sollte ausreichen, Herrn Kaiser mehrfach einzuwickeln. Nähmen wir jetzt einfach mal an, das geschähe im Lauf des Falles ganz von selbst, dann hätte unser Chorleiter sich selbst eingerollt und sähe aus wie einer, der den Don gekränkt hat. Und dann hätten wir ihn aber ausgelacht. Dann hätte er auf ewig das Gesicht verloren und wäre der Mann, der diesen Chor jetzt eben leitet. Das war definitiv etwas, das ihm nicht zu wünschen war. Also, Herr Kaiser: Hände weg von den Vorhängen!
Aus der Ferne hörte ich plötzlich seine Stimme. Sie klang aufgebracht. Und wenn mich nicht alles täuschte, sprach sie mit mir. Ich lauschte genauer.
«Lennart, kannst du mal bitte aufhören, ständig zu pennen?»
Tatsächlich, Herr Kaiser sprach zu mir.
«Jaja», antwortete ich.
Um mich Gelächter.
Was war das aber auch für ein sonderbares Lied, das wir da sangen, dieses Mit Lust tät ich ausreiten von Johannes Brahms. Es handelte von einem Menschen, der in den Wald reitet und dort drei wohlgestaltete Vögel singen hört, die man sich in der zweiten Strophe dann urplötzlich als Frauen vorzustellen hat. Was sollte das? Es war natürlich eben so, dass in allen Volksliedern sowohl Liebe, als auch Landschaften und überdies Vögel vorkommen sollten. War der Dichter von diesem also einfach nicht im Stande gewesen, das alles nachvollziehbar zu vermengen? Nein, so etwas hätte ein Johannes Brahms nicht vertont, da steckte mehr dahinter. Bestimmt ging es in irgendeiner Form um menschliche Fortpflanzung, darum ging es laut meinem Deutschlehrer in Gedichten letztlich immer. Und das Wörtchen ‹Lust› gleich zu Anfang ließ die ganze Geschichte, wenn man es mal von dem Standpunkt aus betrachtete, in einem völlig anderen Licht erscheinen. War der Mann etwa von Anfang an darauf aus gewesen, im Wald auf Frauen zu treffen und deshalb überhaupt erst losgeritten? Das wäre doch mal beinahe realistisch.
In der siebten Stunde spitzte sich die Lage immer weiter zu. Meine Stimmbänder fühlten sich an, als würden sie unentwegt von einer winzigen Apparatur zusammengedrückt und wieder auseinandergezogen werden. Und dieser große fiese Muskel unterhalb des rechten Schulterblattes tat das, was er bei langem, ausgedehntem Sitzen am allerliebsten tat: Mir Schmerzen bereiten.
Die Punkte und Striche auf meinem Notenpapier indes waren quietschfidel. Sie begannen einen wilden Bändertanz zu unserer Musik zu vollführen. Beeindruckend, zu welch anmutigen, ja, aufreizenden Bewegungen die fähig waren. Das sah man ihnen so überhaupt nicht an. Warum aber taten die das und dann auch noch zu Cantate Domino, welches zwar beschwingt, ja wohl aber immer noch geistlich war? Waren die ernsthaft verrucht genug, zu diesen heiligen Klängen jemanden verführen zu wollen? Um wen aber ging es ihnen? Der einzige, der sie sah, war doch ich.
Der Gedanke ließ mich erschauern. Ich richtete meinen Blick auf Herrn Kaiser. Ich versuchte, mich irgendwie auf die Probe zu konzentrieren. Kurz darauf die große Überraschung.
«Okay, Leute, das war’s für heute. Ihr dürft nach Hause gehen», sagte unser Chorleiter.
Es war gerade einmal ziebzehn Uhr.
Ich erhob mich, taumelte einige Meter vorwärts und ließ mich auf die Knie sinken. David kam herbei und half mir auf. Es war vorbei, wir hatten es überstanden.
«Wem gehört der Kuchen hier?», hörte ich Marc fragen. Ich drehte mich um. An dem Buffet war sich in den letzten Stunden doch noch reichlich bedient worden. Dem riesigen Ding, was Marc in der Hand hielt, hatte sich dem äußeren Anschein aber nur ein einziger Mensch erbarmt. Lediglich eine winzige Ecke war daraus herausgeschnitten worden. Wessen Mutter allen Anlass hatte, ganz furchtbar niedergeschlagen zu sein, durften wir nun alle sehen: Laurence ging auf Marc zu und nahm die Dose mit dem Kuchen entgegen.
So etwas machte seine Mami also für ihn. Mann, hat die ihren Jungen lieb. Das war ja kein Wunder, dass der so verzogen war.