Leben und Ansichten von Max-Frederick, Haudegen

Perlen von Holstein Folge 133

Mai 2006

Mir war im Grunde schon immer bewusst gewesen, wie wenig Lust Max-Frederick auf Chortermine hatte. Er hatte dies schließlich schon zu Zeiten offen Kund getan, als wir noch allen Erwachsenen brav erzählt hatten, wie gerne wir zum Knabenchor gingen. Es erstaunte mich von daher selbst ein wenig, dass ich erst vor einigen Wochen auf den Einfall gekommen war, mir einen Jux daraus zu machen. Doch lohnte es sich nicht, sich darüber zu ärgern. Max-Frederick und ich würden ja schon noch einige Jahre im gleichen Chor singen. So lange würde ich noch Gelegenheit haben, ihm zur Begrüßung immer wieder die gleiche Frage zu stellen.

«Na, Max, Bock?»

«Hehe, nee!»

Ein Späßchen, das ich wahrlich nicht mehr missen wollte. Max-Fredericks sarkastisches Lachen vermochte schließlich jeden, dem er wohlgesinnt war, in gute Laune zu versetzen.

Heute aber würde ich bewusst auf es verzichten. Meine Frage an Max-Frederick war nämlich eine ganz andere.

«Na, Max, freust du dich schon auf Lüneburg?»

Max-Frederick sah mich verwundert an.

«Hä, wieso Lüneburg?»

War es möglich? Wusste er wirklich noch nicht Bescheid?

«Ja, Max», sagte ich, «wir fahren morgen mit dem Chor nach Lüneburg. Das ganze Wochenende, das weißt du, oder?»

Ich konnte sehen, wie sie sich langsam in Luft auflöste: die in Max-Fredericks Pupille eingebrannte Reflexion des Monitors, den die nächsten drei Tage anzustarren er die Absicht gehegt hatte.

«Nee –», flüsterte er. Es klang wie ein Flehen. Wie ein Nicht-Akzeptieren-Können einer Wahrheit, von der man letztlich ganz genau wusste, dass sie vor allem eines war: die Wahrheit.

«Doch», sagte ich.

Max-Frederick jedoch war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um mir noch wirklich zuzuhören.

«Nee –», flüsterte er wieder und schrie dann: «Oh, nee, ey!»

Er stand auf, stieß seinen Stuhl weg und verließ den Raum. Minuten vergingen, ehe er wiederkam. Wo auch immer er gewesen war, er schien sich dort beruhigt zu haben. In der Sache aber war er hart geblieben.

«Ey, ich komm da nicht mit, Mann», sagte Max-Frederick, von seinen eigenen Worten offensichtlich überzeugt.

Ich staunte dann logischerweise nicht schlecht, als ich ihn am nächsten Tag vor dem Reisebus traf.

«Hä, ich dachte, du kommst nicht mit», sagte ich.

«Öhm, ja, doch», erwiderte er. Seine Worte klangen gelassen, beinahe gleichmütig. Es war wohl keine innere Überzeugung, die ihn heute hierher getrieben hatte. Max-Frederick hatte wohl eher in einer hitzigen nächtlichen Debatte mit seinen Eltern den Kürzeren gezogen.

So sehr Max-Fredericks Unlust mich erheiterte, so wenig teilte ich sie. Ich freute mich riesig auf unseren Ausflug in die mittelalterliche Rotklinker-Idylle von Lüneburg. Vor allem, weil das Wetter sich so wunderbar hierfür eignete: Es war ein herrlicher sonniger Frühlingstag. Einer, den wir ruhig hätten in einem Lied besingen können. Wirklich schade, dass unsere Reise nur so kurz sein würde. Gerade einmal von Sonnabendmorgen bis Sonntagnachmittag sollte sie dauern.

Das hatte Laurence’ Eltern nicht davon abgehalten, ihrem Sohn so viele Lebensmittel mitzugeben, dass man meinen konnte, ein Krieg stünde bevor: Einen ganzen Trolley-Koffer voll mit Knoppers zog der Junge hinter sich her. Dieser Trolley-Koffer war wohlgemerkt fast so groß wie der Junge selbst. Meine Güte, seine Eltern meinten es wirklich gut mit ihm.

Marc allerdings schlug angesichts dieses Reiseproviants die Hände über dem Kopf zusammen. Wohl noch im Reisebus klappte er den Laptop auf und verfasste sein legendäres Süßigkeiten-Mitnahmeverbot. Zitat: ‹Die Knaben nahmen zum Teil Mengen mit, die jegliches Maß überschritten.›

Laurence hatte es geschafft, Einfluss auf den Inhalt von Marcs hoheitlichen Schreiben zu nehmen. Damit war ihm gelungen, woran ich gescheitert war, wenn auch nur ganz knapp. Marc hatte mir letztes Jahr nämlich fest versprochen, die Packliste in Packplan umzubenennen. Er hatte dieses Versprechen wohl aber nicht absichtlich gebrochen, sondern es lediglich vergessen. Dabei war er letztes Jahr in Maschen regelrecht euphorisch gewesen.

«Von dem Ausdruck Packplan bin ich wirklich begeistert, Lennart. Fast so sehr wie davon, dass du den gelesen hast.»

Ausschlaggebend dafür war gewesen, dass ich meinen Sitznachbarn Jürgen darauf hingewiesen hatte, dass er mich nach der Uhrzeit nicht zu fragen bräuchte. Es hätte doch schließlich im Packplan gestanden, dass wir alle eine Armbanduhr zum Chorwochenende mitnehmen sollten. Das hatte ich natürlich nicht aus Pflichtbewusstsein gesagt, sondern um im Recht zu sein. Gelesen hatte ich den Packplan nämlich nicht, eher flüchtig angesehen. Und das mit der Armbanduhr war mir fast unweigerlich ins Auge gesprungen. Es hatte dort schließlich im Fettdruck und mit eingeklammertem Ausrufezeichen gestanden. Tatsächlich hatte ich eine Armbanduhr mitgenommen. Allerdings nicht aufgrund dieser Anweisung, sondern schlicht, weil ich immer eine mit mir führte.


Unser erster Tag in Lüneburg verlief ganz in meinem Sinne. Unser Konzert würde erst morgen stattfinden. Angesichts dessen fand selbst Herr Kaiser, dass eine zweistündige Probe am Abend für heute genügen würde. Die übrige Zeit verbrachten wir damit, die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. Wir schlenderten durch Straßen voller schiefer Giebelhäuser, besuchten einen hölzernen Kran und ein Museum über den Salzbergbau samt künstlichem Bergstollen. Die gelieferten Erklärungen waren mir etwas zu kindgerecht, doch das Flair der Stadt entsprach meinen Erwartungen.

Max-Frederick hatte nicht vor, sich davon die schlechte Laune verderben zu lassen. Wobei, wirklich schlecht gelaunt war er nicht. Nur eben in Kampfeslust. Das zeigte sich, als wir vom Museum zurück zum Bus gingen. Wir liefen einen breiten, kurorthaften Bürgersteig entlang. Ein Knabe gesellte sich zu uns.

«Ey, Lennart», sagte er, «deine Mutter ist so fett, sie piept beim Rückwärtsgehen.» Und: «Deine Mutter ist so fett, sie hat eine eigene Postleitzahl.» Und: «Deine Mutter ist so fett, dass zwei andere fette Frauen in einer Umlaufbahn um sie kreisen.»

Ich ging nicht darauf ein. Ich konnte weiß Gott über vieles lachen. Deine-Mutter-Sprüche gehörten nicht dazu. Es sei denn natürlich, sie kamen aus dem Mund von Max-Frederick.

«Ey», rief er dem Knaben zu, «deine Mutter ist so fett, selbst Bill Gates kann ihr das Fettabsaugen nicht bezahlen.» Und: «Neulich wollte ich mit dem Auto an deiner Mutter vorbeifahren. Hat der Sprit nicht gereicht.»

«Hahaha! Geil, Max», sagte ich.

Der Knabe war vernichtend geschlagen. Doch obwohl er definitiv zu jung war, um das erste Age of Empires noch zu kennen, hatte er die darin vorgelebte Tapferkeit durchaus verinnerlicht. Die computergesteuerten Gegner geben hier bekanntermaßen niemals auf. Selbst wenn man mit Ausnahme eines Gebäudes all ihre Besitztümer in Schutt und Asche legt, reagieren sie auf Friedensangebote noch immer ziemlich brüskiert. Sie schreiben dann: ‹Deine lächerlichen Angebote werden mich nicht davon abbringen, dein Reich zu zerschmettern!›

Nicht weniger trotzig reagierte der Knabe, der doch tatsächlich eine Gegenoffensive startete. Er versuchte, bei mir einen Gehfehler zu machen. Ein seit Jahren populärer Schabernack, der wie folgt ausgeführt wird: Man läuft neben jemandem her und stellt ihm im Gehen ein Bein. Anders als beim guten alten Beinhaken ist es dabei jedoch nicht das Ziel, sein Opfer zu Fall zu bringen. Man möchte es lediglich ein wenig ins Straucheln bringen, also einen Gehfehler machen lassen.

Dies versuchte, wie gesagt, der Knabe. Es misslang ihm jedoch, denn meine Beine waren deutlich kräftiger als seine. Außerdem war ja noch Max-Frederick bei mir, der sich das nicht zwei Mal sagen ließ. Er nahm meinen Platz ein und traktierte den Knaben mit einer Salve aus fünf Gehfehlern. Dazu gab er noch hämische Kommentare ab: «Tja, dumm gelaufen.»

Der Knabe konnte darüber nicht lachen, obwohl ich sicher war, dass auch er das Wortspiel verstanden hatte: Dumm gelaufen hieß in diesem Falle nicht nur, dass es für den Knaben dumm gelaufen war. Es brauchte auch zum Ausdruck, dass der Knabe selbst dumm gelaufen war. Er war schließlich gerade fünf Mal hintereinander ins Straucheln geraten.

«Haha, ‹dumm gelaufen›, wie geil», sagte ich.

Der Knabe zog sich zurück. Seine Tapferkeit entsprach wohl doch eher der der computergesteuerten Gegner von Age of Empires II. Von denen kapitulierten manche auch schon einmal, wenn mein Trebuchet ihr Dörflein nur anhustete. Max-Frederick grinste triumphierend. Und stürzte sich sogleich auf sein nächstes Opfer.

«Tscheiße! Tscheiße!», pöbelte er einigen entgegenkommenden Passanten zu. Sie waren davon sichtlich irritiert.

«Haha, das ist so geil», sagte Max-Frederick, «sich vor die Leute zu stellen und zu sagen: ‹Tscheiße! Tscheiße!› Die checken dann immer voll gar nicht, was los ist, und kriegen Angst, haha. Aber weißt du, was noch viel geiler ist: Links neben jemandem Fremdem herlaufen und ihn die ganze Zeit anzuschnauzen. Und wenn er dann irgendwas sagen will, zieht plötzlich irgendein Kumpel von dir rechts an ihm vorbei und antwortet dir. Und dann denkt der Fremde natürlich, du hast die ganze Zeit mit deinem Kumpel geredet und hält sich für bescheuert, hahaha.»

Ich fragte mich einen kurzen Augenblick, welches Verhältnis ich wohl zu Max-Frederick hätte, wenn er jemand wäre, den ich jeden Morgen auf dem Schulweg traf.


Mit dem Bus fuhren wir zu unserer Bleibe, der Lüneburger Jugendherberge. Wir trafen viel zu früh dort ein. Als wir alle Zimmer bezogen hatten, war es noch fast eine halbe Stunde bis zum Abendessen. Zeit, die Max-Frederick und ich im Foyer zubrachten. Zeit, die Max-Frederick ganz gerne ohne Knaben zugebracht hätte. Daraus wurde jedoch nichts. Einer mit Namen Akira gesellte sich zu uns. Akira war noch nicht lange im Hauptchor, Max-Frederick aber sehr wohl schon ein Begriff.

«Verpiss dich, Akira!», sagte er.

«Ach komm, der ist doch nicht so schlimm», sagte ich. Das entsprach tatsächlich meiner Auffassung. Akira zählte für mich zu jenen Knaben, die zwar laut, aber nicht unverschämt waren. Max-Frederick aber beharrte auf seiner Meinung.

«Ey, guck dir das Scheiß-Kind doch mal an, Alter. So wie der aussieht, heißt der doch bestimmt in Wirklichkeit Baghira.»

Ich wusste weder, was an dem Namen Baghira so schlimm war, noch, was jemanden für ihn qualifizierte. Dennoch lachte ich über die gewohnt kaltschnäuzige Bemerkung von Max-Frederick. Ich wollte ihn ja nun nicht im Stich lassen.

Akira lachte ebenso.

«Ey, jetzt verpiss dich endlich, Baghira!», sagte Max-Frederick, «Mann, ey, bald wird hier echt noch ein Kind erschossen.»

«Genau», erwiderte ich, «und dann singen wir: Ein Ki-ind erschossen zu Be-ethlehem.»

Max-Frederick klatschte in die Hände.

«Haha, geil», sagte er.

Dann sangen wir gemeinsam: «Ein Ki-ind erschossen zu Be-ethlehem, Be-e-e-e-ethlehem, das fre-euet si-ich Jeru-usalem, Alle-eluja-a, Alle-e-e-e-eluja.»

Es war wirklich erstaunlich wie anders der Text und wie anders die Musik einfach dadurch wirkte, dass man ein einziges Wort änderte. Normalerweise passte unsere Basslinie eigentlich nur zur dritten Strophe: ‹Die Kön’ge aus Sabah kamen dar, Gold, Weihrauch, Myrrhe brachten sie dar.› Ich sah dabei immer drei Gnome mit dicken Regenmänteln vor mir, wie sie mit einer Petroleumlampe über Berge und Hügel stapften. Jetzt tat es mir nicht so sehr die gesamte Basslinie an, sondern mehr die Töne bei der Wiederholung des Wortes Bethlehem. Sie brachten so wunderbar zum Ausdruck, wie herrlich man das eben Beschriebene fand. Und das war in diesem Falle nun einmal, dass ein Kind erschossen worden war.

Max-Frederick johlte, Akira war ebenso begeistert. Das motivierte mich dazu, auch noch für die anderen beiden Strophen des Liedes Alternativtexte zu erdichten. Jedes meiner Worte ließ Max-Frederick und Akira schallender lachen. Ich wusste: Altmeister Bach drehte sich in diesem Augenblick im Grabe um. Doch wie hatte mein Klarinettenlehrer einmal gesagt: ‹Hast völlig recht, Lennart, die Komponisten müssen sich doch ständig nur im Grab umdrehen bei dem, was heute alles mit ihrer Musik gemacht wird. Manchmal glaube ich, dass alle Elektronen nur Überreste von Komponisten sind, die sich wegen irgendwas im Grab umdrehen.›

music snippet

Beim Abendessen waren wir alle bester Laune, Max-Frederick, ich und die anderen Männer. Mehrmals sah Marc sich veranlasst, uns zur Ruhe zu ermahnen. Er biss auf Granit. Nach dem Essen rächte er sich dafür.

«Und wer baut jetzt die Stuhlreihen für die Probe auf?», fragte er, um dann mit Blick in unsere Richtung selbst zu antworten: «Ich finde, das könnt ihr mal machen.»

Seinem Blick nach zu urteilen, genoss er den Augenblick. Er schien ernsthaft zu glauben, dass es für uns sechzehn- und siebzehnjährige eine schlimme Strafe war, Stuhlreihen aufbauen zu müssen. Da irrte er sich gewaltig. Uns gegenseitig Lieder vorsingend, hievten wir die Stühle stapelweise zu ihren Plätzen. Binnen drei Minuten war alles hergerichtet.

Auf dem Foyer kam uns Marc entgegen. Er war offenbar überrascht, uns schon jetzt hier zu sehen.

«Sind die Stuhlreihen jetzt aufgebaut?», fragte er.

«Jaja», erwiderte ich im Vorbeigehen.

Nicht ganz die Reaktion, die Marc erwartet hatte.

«Sind die Stuhlreihen jetzt aufgebaut?», fragte er noch einmal. Diesmal mit hörbar aggressivem Unterton.

Nun langte es mir aber. Ich drehte mich um und blickte Marc direkt in die Augen.

«Weißt du, Marc», sagte ich, «in meinen Augen sind die Stuhlreihen jetzt aufgebaut. Was sie in deinen Augen sind, ist mir scheißegal!»

Bevor Marc irgendetwas erwidern konnte, gingen wir weiter. Als wir außerhalb seiner Hörweite waren, sagte David: «Alter, das hätte ich mich nicht getraut.»

Max-Frederick hingegen war begeistert.

«Geile Aktion, Lennart», sagte er, «Hast du gesehen, wie der geguckt hat? Hahaha.»

Bei der Probe dann jedoch durfte ich ihn einmal von einer völlig anderen Seite erleben. Wir probten Ubi Caritas von Maurice Duruflé. Ein Werk, das man einfach mögen musste. Alleine schon wegen des Abschnitts mit dem Text: ‹Congregavit nos in unum Christi amor.› Er war ganz nach meinem Geschmack. Es wurde hier nämlich endlich mal wirklich auf das Ende zugesungen. Verständlicherweise, ging es hier doch nicht um weniger als um die Liebe. Um Amor. Bei diesem Wort wurde der Bass geteilt, wodurch sich ein voller, wohliger Klang ergab. Etwas, auf das zu freuen, sich immer wieder lohnte.

«Ach, irgendwie liebe ich das Stück», sagte ich.

«Ja, das ist geil, was?», erwiderte Max-Frederick. In seinen Augen war ein seltsamer Glanz.

Dann tippte er einem vor ihm sitzenden Knaben auf die Schulter. Arglos drehte sich der Junge um.

«Boah, guck nach vorne!», sagte Max-Frederick.