Matinee im Fürstensaal

Perlen von Holstein Folge 134

Die Jugendherberge von Lüneburg war von ihrer Ausstattung her nicht besonders aufsehenerregend, doch bot sie, was eine Jugendherberge gefälligst zu bieten hatte: Ein Achterzimmer für uns Männer. Laut und lustig ging es an unserem einzigen Abend hier zu. Irgendwann jedoch wollten sich alle nur noch schlafen legen. Alle, außer einem: Meinem alten Freund David. Der hatte sich in der Zimmermitte auf einen Stuhl gesetzt. Er bedachte mich wieder mit jenen kalten Augen, die mich in Darmstadt und in Maschen das Fürchten gelehrt hatten.

«Jetzt mach endlich das Licht aus, Lennart», sagte Pascal.

«Nicht, solange David da sitzt und guckt», erwiderte ich.

David fuhr mit der Zunge über die Unterlippe.

«Du machst jetzt das Licht aus, Lennart!», sagte Pascal.

«Erst, wenn David da weggegangen ist.»

«Oh, hast du echt Schiss vor ihm? Jetzt mach das Licht aus!»

Mit Pascal war das so eine Sache. Mal misshandelte er, um mein Wohlwollen zu erregen, Knaben. Mal sagte er andauernd nur, dass ich die Fresse halten solle. Jetzt tat er definitiv das zweite.

«David, du gehst da jetzt weg», sagte ich.

David fuhr erneut mit der Zunge über die Unterlippe.

«Du hältst jetzt die Fresse und machst das Licht aus, Lennart!», sagte Pascal.

«Nein!»

Max-Frederick ließ seine hämische Hyänenlache erschallen.

«Hahaha, der hat wirklich Schiss vor David, hahaha.»

«Ich mach das Licht nicht aus, dann sehe ich nicht, was David macht», sagte ich.

«Dann siehst du es halt nicht. Ist doch scheißegal, Mann. Denkst du, der frisst dich auf, nur weil du ihn nicht siehst, oder was?», erwiderte Pascal.

Das allerdings war ein Argument. Letztlich war es egal, ob das Licht ein- oder ausgeschaltet war. Ich würde David nicht aufhalten können.

Ohne David aus den Augen zu lassen, tastete ich nach den Lichtschalter. Als ich ihn gefunden hatte, zählte ich leise bis zehn und betätigte ihn. David sprang vom Stuhl auf und rannte auf mich los. Ich stieß einen Schrei aus und schaltete das Licht wieder an.

Imanuel und Max-Frederick lachten. David fiel aus seiner Rolle heraus und lachte ebenso.

«Ach, Lennart, das ist so herrlich, wie man dich immer wieder wahnsinnig machen kann», sagte er.

«Ja, weißt du: Wenn du so guckst, kriegt man irgendwie sofort Schiss, Alter.»

Dann fing auch ich an zu lachen.


So aufregend wie der erste Tag in Lüneburg geendet hatte, begann der zweite. Es war Punkt sieben und wir alle lagen noch im Bett, als urplötzlich die Tür aufgerissen wurde. Herein kam die Mutter eines Knaben namens Felix.

«Guten Morgen!», sagte sie, «Ja, gibt es etwas Schlimmeres als jemanden, der morgens rein kommt und gute Laune hat?

Sie lief zur anderen Seite des Zimmers und riss die Vorhänge auf. Dann stürmte sie zurück zur Raummitte, wo eine Weingummi-Kirsche herumlag.

«Oh, eine Erdbeere», sagte sie, «Habt ihr etwa heute Morgen schon Bier getrunken?»

Zum ersten Mal seit fünfzehn Sekunden war es in unserem Zimmer komplett still. Niemand wusste etwas auf diese Frage zu antworten. Ich jedenfalls hätte nicht gedacht, dass eine herumliegende Erdbeere auf Bierkonsum hindeutete. Zudem war ich zwar schon seit einer halben Stunde wach, wollte aber trotzdem gerne noch ein wenig liegen bleiben. Ich konnte mir gut vorstellen, dass es den anderen genauso ging. Die Dame hatte sich so gesehen gerade ziemlich unbeliebt gemacht. Man konnte ihr nur raten, schleunigst den Rückzug anzutreten. Nicht meinetwegen oder wegen Pascal und David, sondern wegen Max-Frederick. Was der in Gedanken bereits mit ihr anstellte, konnte ich mir sehr gut vorstellen. Ich kannte ihn ja nun lange genug.

Beim Frühstück erhielt ich Bestätigung.

«Alter, was ist das denn für eine nervige Frau, ey! Kommt die einfach rein und labert irgendeine Scheiße», sagte er.

«Ach, komm, die ist doch cool», erwiderte ich. Jetzt, wo ich aufgestanden war, konnte ich über den Vorfall lachen.

«Ey, nee, die ist scheiße. Alleine, wie die immer meint, uns hier herumkommandieren zu müssen. Als wären wir irgendwelche kleinen Kinder. Die ist echt schlimmer als Marc und Herr Kaiser zusammen. Und Marc und Herr Kaiser haben hier, anders als die, wenigstens was zu sagen.»

«Ey, komm, die hat’s total drauf», sagte Imanuel, «Die erinnert mich voll an so eine Haushälterin, die wir mal hatten. Weißt du, die kam mal bei meinem Bruder morgens rein, als er eigentlich erst zur zweiten Stunde Schule hatte und noch länger hätte schlafen dürfen. Und dann kommt sie halt rein, reißt die Vorhänge auf und brüllt so: ‹Guten Morgen, auch für dich scheint heut die Sonne!› Und er hat in der Nacht nackt geschlafen und lag dann auch noch ohne Decke da, weil es so heiß war. Und als er sie dann sieht, schreit er sie so an: ‹Raus! Und die Tür nicht vergessen!›»

Max-Frederick gestand ein, dass dies eine lustige Geschichte war, seine Meinung zu Felix’ Mutter änderte sich deshalb aber nicht. Sie verschlechterte sich im Laufe des Tages sogar eher noch, denn in der Tat: Die Dame scheute sich nicht, das Kommando zu übernehmen, wenn sie es für nötig erachtete. Damit würde der gute Max-Frederick sich bis auf Weiteres abfinden müssen. Wie man so hörte, hatte sie hier nämlich keineswegs nichts zu sagen. Sie war seit Kurzem Mitglied im Vorstand und mischte selbigen gerade kräftig auf.


Unser Auftritt fand im Fürstensaal des Lüneburger Rathauses statt. Es war den Plakaten nach zu urteilen nicht weniger als eine Matinee. Eine solch hohe Veranstaltung in einem solch hohen Saal konnten wir natürlich nicht alleine gestalten. Wir bestritten sie gemeinsam mit der Altonaer Singakademie und ihrem künstlerischen Leiter Igor Zeller. Die Altonaer Singakademie wäre in der ersten halben Stunde an der Reihe, der Neue Knabenchor Hamburg in der zweiten.

Von der Altonaer Singakademie hatte ich noch nie gehört. Das war wohl ein Grund, sich zu schämen. Wenn ein Chor nicht Chor hieß, sondern Singakademie, musste das schließlich etwas heißen. Ich fand, dass das etwas hochtrabend, geradezu angeberisch klang. Vor allem, weil Hamburg-Altona mir eher für einen hässlichen Busbahnhof, ein überlaufenes Einkaufszentrum und ein vom Abriss bedrohtes Schwimmbad bekannt war als für hohe Sangeskunst. Doch war es ja durchaus möglich, dass mir bislang nur etwas entgangen war. So unmäßig viel hatte ich mich in den vergangenen Jahren ja nun nicht mit klassischer Musik beschäftigt.

Die Altonaer Singakademie war ein Chor mit deutlich sichtbarem Damenüberschuss. Ihr Leiter Igor Zeller hingegen war männlich. Was nicht bedeuten sollte, dass er schweigsam gewesen wäre. Er war im Gegenteil überaus redselig. Zu allem gab es eine umfangreiche Einführung. Zu den Stücken, zur Altonaer Singakademie und zu Igor Zeller. Der Mann gab sich dabei durchaus eloquent. Sein Schwiegersöhnchen-Charme wusste manchen Zuhörerinnen gewiss zu gefallen. Leider es insgesamt betrachtet alles ein wenig zu viel des Guten. Vor allem, weil der Mann auch während der Stücke keine Ruhe gab. Wohl um den Damenüberschuss zu kompensieren, sang er mit. Man hörte deutlich – sollte deutlich hören – dass er um Längen besser singen konnte als sein Chor. Der klang, um es mit Frau Siebenkittel zu sagen, reichlich jallerig. Der Applaus war dann auch eher verhalten.

Herr Kaiser hatte die ganze Zeit stumm dagesessen. Auch jetzt sagte er nichts. Er gab uns ein Zeichen, zum Podest zu gehen, wartete, bis wir alle unseren Platz eingenommen hatten, und betrat dann selbst die Bühne. Hier sagte er ebenso nichts. Er machte einen Einsatz und ließ uns unsere Lieder singen: Innsbruck, ich muss dich lassen, Nun fanget an, Es führt über den Main und so weiter. Der Applaus nach jedem Stück war demonstrativ tosend.

Ich hatte allen Grund, mich darüber zu freuen. Gleich nämlich würden wir das Publikum richtig begeistern. Gleich würden wir zum ersten Mal Am Traunsee von Carl Isenmann zur Aufführung bringen. Mit meiner Begeisterung für die Naturbeschreibungen dieses Stücks hatte ich nicht nur alle anderen Männer angesteckt, sondern auch unseren Chorleiter. Der hatte das Stück eigentlich nur aus Spaß an der Freude mit uns einstudiert, es dann aber urplötzlich doch zum Bestandteil des Konzertrepertoires gemacht.

Eine goldrichtige Entscheidung, wie ich fand.

Das Publikum schien anderer Meinung zu sein. Der Applaus dafür war zwar noch immer tosender als der, den Igor Zeller geerntet hatte, klang aber trotzdem regelrecht höflich.

Ob es daran lag, dass die kleinen, süßen Knaben nicht mitgewirkt hatten?

Wie dem auch sei: Wir hatten allen Grund, unser Gastspiel in Lüneburg als Erfolg zu betrachten. Zum Schluss wurden wir noch einmal ausgiebig beklatscht. Selbst mein Vater, der im Publikum gesessen hatte, sprach bewunderungsvoll von der ‹eiskalten Perfektion› mit der Herr Kaiser dem Herrn Zeller gezeigt hatte, wo es lang geht.