Venceremos

Perlen von Holstein Folge 135

Juni 2006

Acht Jahre war es her, dass David sich auf dem Rückweg vom Chorwochenende darüber verwundert hatte, dass ich Guildo hat euch lieb nicht mochte. Das Lied war damals immerhin unglaublich in gewesen. Vier Jahre später hatte er mich dann schwer dafür getadelt, dass ich als einziger irgendein Lied von Britney Spears oder Jennifer Lopez nicht gekannt hatte. Heute, wieder vier Jahre später, musste er sich abermals über mich entsetzen. Allerdings aus ziemlich gegenteiligen Gründen.

«Ey, Lennart, du kommst aber jetzt nicht ernsthaft mit ’nem Adidas-Rucksack zur Probe, oder?»

«Ähm, doch.»

In der Tat: Mein Rucksack stammte von Adidas. Seine Anschaffung war notwendig gewesen, weil der alte 4You-Rucksack kaputtgegangen war. Die vielen, vielen Fahrten zu Chor, Flöten-, Klarinetten- und Klavierunterricht hatten ihn verschleißen lassen. Besagten 4You-Rucksack hatte ich damals von Annika geerbt. Sie hatte ihn nie haben wollen, weil 4You nicht als cool galt. Adidas tat das schon eher. Ich hatte den Rucksack jedoch nicht deswegen gekauft. Er war einfach der mit Abstand billigste gewesen.

Für David kein Argument.

«Ja, weißt du, warum das so billig ist? Das ist alles durch Kinderarbeit entstanden! Die haben in Afrika teilweise riesige Fabrikanlagen, wo die nur Kinder arbeiten lassen. Ich kann dir mal so eine Broschüre zeigen, wo du das alles siehst. Das ist der schlimmste kapitalistische Scheiß-Konzern überhaupt.»

«Und was soll ich dann kaufen?», fragte ich.

«Na, auf jeden Fall nicht Adidas. Und Nike auch nicht. Die sind fast genauso schlimm.»

«Ich finde den Rucksack eigentlich toll.»

«Oh, nee, bitte, reklamier das Teil. Adidas ist echt kein Konzern, der unterstützt gehört. Da kann das, was die machen, noch so toll sein. Wenn ich alleine an die Fußball-WM jetzt denke. So ein Scheiß-Kommerz!»

In Anbetracht eines solch deutlichen Bekenntnisses traute ich mich nicht zu sagen, dass auch mich das WM-Fieber ein ganz klein wenig gepackt hatte. Bei Spielen mit deutscher Beteiligung ließ ich im Hintergrund den Fernseher laufen. Und wenn es ab und zu mal spannend zu werden schien, sah ich sogar hin. So eine Weltmeisterschaft im eigenen Land gab es schließlich nicht alle Tage. David aber empfand das alles ein bisschen anders. Deswegen erzählte ich ihm lieber davon, was ich heute im Fernsehen gehört habe.

«Wusstest du eigentlich, dass dieser FIFA-WM-Ball, den die für hundertvierzig Euro verkaufen, einen Materialwert von fünf Euro hat?»

David reagierte erwartungsgemäß heftig.

«Was?», schrie er und fuhr dann fort: «Naja, aber schlimmer noch als der Kommerz ist ja dieser Scheiß-Deutschland-Patriotismus mit diesen Flaggen überall. Und weißt du, bei uns in Niendorf, da haben welche auch gleich noch die Preußen-Fahne aus dem Keller geholt.»

«Ach, glaubst du nicht, dass das mehr aus Joke ist?»

«Nein, das ist definitiv nicht aus Joke. In Niendorf sind wirklich viele so drauf.»

«Lennart und David, setzt ihr euch jetzt bitte hin? Ich möchte jetzt gerne mit proben anfangen», sagte Herr Kaiser.

Wir begaben uns zu den Stühlen.


David war so links, wie man es als Mitglied eines Knabenchors überhaupt sein konnte. Er schnitt sich nicht die Haare, er schnitt sich nicht die Fingernägel und in seinem Zimmer hing ein Plakat, auf dem stand: ‹Stürzt den Senat!› Ich wusste das, weil er mich vor einigen Monaten einmal zu sich eingeladen hatte. Wir hatten über seine Ansichten gesprochen. Ich fand diese zwar zuweilen ein wenig extrem, teilte sie an und für sich aber. So kam es, dass wir beide uns seit Kurzem als Club der Anarchisten bezeichneten, dessen Vorsitzende wir gewesen wären, hätte nicht genau das gegen unsere Ideale verstoßen.

Wir rebellierten jedoch nicht nur in Worten. Besonders David rebellierte auch in Taten. Er nahm es zum Beispiel mit dem Probenplan nicht ganz so genau. Rund zwanzig Minuten betrug seine durchschnittliche Verspätung. Kam er dann endlich, gab es zwei Möglichkeiten:

  1. David torkelte so rasch wie möglich zu seinem Platz. Dann lachten alle, weil er so viel Krach dabei machte.
  2. David torkelte so lautlos wie möglich zu seinem Platz. Dann lachten alle, weil er so lange hierfür brauchte.

Die meisten Lacher waren aber nicht einmal seinem Torkeln, sondern den knallbunten Hawaiihemden geschuldet, die er hierbei trug.

Herr Kaiser stand diesem allwöchentlichen Spektakel relativ hilflos gegenüber. Mit seinem neuen Lieblingsspruch – ‹Es stört nicht mich, es stört den Chor!› – konnte er nicht viel ausrichten: Es störte den Chor schlicht und ergreifend nicht. So blieben ihm nur die guten alten Rausschmiss-Drohungen. Die fruchteten aber drei Jahre nach ihrer letzten Wahrmachung ebenso wenig.

Herr Kaiser konnte sich damit trösten, dass er bei Weitem nicht der Einzige war, der unter Davids Trotz zu leiden hatte. Sein Chemielehrer etwa hatte neulich ebenso erfahren müssen, was es hieß, David zum Schüler zu haben.

«Ey, mein Chemielehrer, das ist so ein arrogantes, widerliches Arschloch. Der meint echt, jeden irgendwie kleinmachen zu müssen. Und das dann noch auf so eine ekelhafte Art. Weißt du, der meinte einmal zu mir: ‹Ja, David, wenn du die Tafel wischst, nimm doch auch einmal den Tafeleimer und sorg dafür, dass das Wasser da drin mal eine etwas andere Konsistenz aufweist, ja?› Und ich dann so zu ihm: ‹Solange die Konsistenz des Wassers in dem Tafeleimer nicht der Konsistenz der Haut Ihres Gesichtes entspricht, werde ich das wohl kaum machen müssen.›»

David machte vor niemandem Halt. Nicht einmal vor dem Hausmeister der Fremdsprachenschule. Dessen Aufenthaltsraum war die Pförtnerloge am Haupteingang. In ebenjener Pförtnerloge war er eigentlich immer anzutreffen, nur nicht am Ende unserer Probe. Für David eine willkommene Gelegenheit, einen kleinen Schabernack zu treiben. Auf der Theke der Pförtnerloge nämlich stand, geradezu einladend, eine Schachtel mit Tafelkreide herum. David nahm sich ein Stück dieser Tafelkreide und malte irgendwo ein Pentagramm an die Wand. Weil er dies jede Woche tat, bezeichnete es als seine Tradition. Er tat dies, obwohl Traditionen laut ihm gegen seine ehernsten Prinzipien verstießen.

Die Tradition würde diese Woche jedoch ausfallen müssen: Der Hausmeister befand sich zwar auch heute nicht in der Pförtnerloge, stand aber direkt davor.

«Tja, David, wird wohl diese Woche nichts mit der Tradition, was?», sagte ich. Und sah, wie David dennoch zielstrebig auf die Schachtel mit der Tafelkreide zuging. Mit äußerster Seelenruhe nahm er ein Stück Kreide heraus.

Der Hausmeister reagierte sofort.

«Was hast du mit der Kreide vor?», fragte er. Seine Stimme verhieß Gewaltbereitschaft.

David blieb ganz gelassen.

«Die brauche ich für die Schule», antwortete er.

«Ich weiß, was hier jede Woche mit der Kreide passiert! Stell sie da sofort wieder hin!»

David stellte das Stück Kreide vertikal auf die Theke.

«Okay, jetzt steht sie», sagte er. Er sah dem Hausmeister direkt in die Augen.

«Pack sie da sofort rein!»

David legte das Stück Kreide zurück in die Schachtel. Unter den rottweilerhaften Blicken des Hausmeister verließ er mit Max-Frederick, Imanuel und mir das Gebäude.

Draußen angekommen, krümmten Max-Frederick und ich uns vor Lachen.

«‹Okay, jetzt steht sie.› Hahaha, absolut geil, Mann», sagte Max-Frederick.

Imanuel war weniger begeistert.

«David, du solltest echt ein wenig aufpassen. Mit dem Hausmeister ist nicht zu spaßen. Der wurde schon mal dabei gesehen, wie er seine Frau geschlagen hat. Marc und Herr Kaiser haben ihn deswegen auch angezeigt.»

Ob wir das nun glauben sollten? Imanuel war ja bekannt dafür, Geschichten auch schon einmal komplett zu erfinden. Andererseits: Jähzornig wie der Hausmeister war, war ihm Manches zuzutrauen. Doch hatte David wohl Recht, wenn er sagte: «Naja, wenn jemand seine Frau schlägt, muss man nicht den geringsten Respekt vor dem haben. So etwas geht wirklich gar nicht.»

Wir gingen zur Bushaltestelle. Auf dem Weg dorthin erregte von Neuem etwas Davids Unmut: Am Straßenrand stand ein Plakat der NPD.

«Ey, wartet ihr mal kurz?», sagte er. Er begann zu rennen, gab vor, ins Straucheln zu geraten und klammerte sich haltsuchend an dem Plakat fest. Jenes wurde davon gehörig in Mitleidenschaft gezogen. Welche Parolen auch immer es einst hatte verbreiten sollen: Nun verbreitete es sie garantiert nicht mehr.

«So», sagte David.

Doch sein Martyrium war noch nicht zu Ende. An der Bushaltestelle wartete bereits Pascal auf uns.

«Ey, Bamsi», sagte er.

«Ey, nee, hör auf», erwiderte David. Er mochte es ganz und gar nicht, wenn Pascal ihn Bamsi nannte. Damit bezog der sich nämlich auf das Werbeplakat der Bild am Sonntag – kurz: BamS – das im Wartehäuschen hing. Kein Presseorgan, das man als Linker besonders schätzen konnte.

«Ehrlich, das Drecksblatt gehört echt verbrannt», sagte David.

Pascal jedoch kam gerade erst so richtig in Fahrt: «Bamsi, Bamsi, Bamsi», sagte er, «Bamsi, Bamsi, Bamsi, Bamsi, Bamsi.»

David musste also wieder seine Meisterschaft im Bereich der indirekten Gewaltandrohungen unter Beweis stellen.

«Sublimationsverlustniveau: Stufe eins», sagte er.

«Bamsi, Bamsi, Bamsi», erwiderte Pascal.

«Sublimationsverlustniveau: Stufe zwei.»

«Bamsi, Bamsi, Bamsi.»

«Sublimationsverlustniveau: Stufe drei.»

«Bamsi, Bamsi, Bamsi.»

Pascal war völlig unbeeindruckt. Es mochte damit zusammenhängen, dass er überhaupt nicht verstand, wovon David redete. Das galt für mich gleichermaßen. Deswegen erklärte David es mir.

«Naja, also als Sublimation bezeichnet man es in der Psychologie, wenn jemand Triebe nicht direkt auslebt, sondern produktiv einsetzt. Wenn zum Beispiel eine Frau vergewaltigt wurde und dann, statt sich an dem Mann zu rächen, Polizistin wird, dann ist das Sublimation. Natürlich, wenn die Triebe zu stark werden, kannst du sie irgendwann nicht mehr sublimieren. Wenn Pascal also jetzt nicht langsam die Fresse hält, werde ich ihm wohl doch in selbige schlagen müssen.»

Pascal jedoch hatte entweder nicht zugehört oder noch immer nicht verstanden, wovon David redete.

«Bamsi, Bamsi, Bamsi», sagte er, «Bamsi, Bamsi, Bamsi.»

Der herannahende Bus erlöste David von seinem Leiden. Wir stiegen ein und machten es uns in einer der letzten Sitzreihen bequem. David holte seinen iPod hervor.

«Ja, geil», sagte ich, «lass mal wieder Opfer von den Ärzten hören.»

Ein Vorschlag, den David sehr begrüßte. Er gab mir einen der Ohrhörer und spielte das Lied ab. Wir grölten begeistert mit. Es sollte doch der ganze Bus mitbekommen, was wir zu sagen hatten:

«Es kommt nur auf den Standpunkt an, von dem man sowas sieht. Denk an die Rendite! Denk an den Profit! An jedem zweiten Krüppel verdien’ ich eine Mark. Und wenn er am krepieren ist, verkauf’ ich ihm den Sarg!»

An der Haltestelle Schlump jedoch trennten sich unsere Wege. David musste zu seinem Reihenhaus in Niendorf, ich zu unserem Einfamilien-Domizil in Finkenwerder.