Freiheit

Perlen von Holstein Folge 136

August 2006

In der letzten Einzelstimmbildung vor den Ferien musste Herr Kaiser mit mir über eine wichtige Sache reden.

«Also, Lennart, du wirst ja jetzt demnächst achtzehn Jahre alt und dann selbst entscheiden können, ob du zum Chor kommen möchtest. Und deshalb wollte ich dich fragen, ob ich weiter mit dir rechnen kann?»

«Ähm, also eigentlich hatte ich vor gehabt, zu bleiben», erwiderte ich. Ich war schon etwas verwundert über die Frage. Ich kam doch brav jede Woche hierher. Von daher konnte er sich doch zumindest einreden, dass ich gerne im Chor sang. Andererseits, nun ja, taten David, Max-Frederick und ich bei jeder Gelegenheit unsere Unlust kund. Wie sollte der Mann also ahnen, was in mir vor sich ging. Wie sehr mir im Grunde vor den Sommerferien graute.

Fünf lange Wochen würde keine einzige Probe stattfinden. Fünf lange Wochen würde ich keinen einzigen Ton singen, wenn ich mich nicht selbst dazu anhielt. Natürlich hielt ich mich laufend dazu an. Ich legte mich aufs Bett und sang O nata lux. Ich spielte das Killerspiel Half Life 2: Episode One und sang Ach Elslein, liebes Elselein mein. Doch ob das reichte? Richtig gut singen konnte ich doch nur, wenn meine Sangesbrüder es ebenso taten. Ich brauchte ihre Stimmen um mich, um nicht zu verkrampfen. Und wenn ich verkrampfte, klang mein Gesang noch viel schlimmer, als er es in Zeiten ohne Proben ohnehin schon tat. In Zeiten ohne Proben nämlich verlernte ich in Rekordzeit alles wieder, was ich mir in den Jahren so mühsam angeeignet hatte.

Das sollte natürlich nicht bedeuten, dass ich jetzt jede Minute der Proben genoss. Ich sah, wie schon immer, jede Minute in der Probe auf die Uhr und wartete auf das Ende. Es galt trotz allem natürlich immer noch das Pippi-Langstrumpf-Prinzip: Zur Schule gehen, um Ferien zu haben oder in diesem Falle: Zur Probe gehen, um sich an der freien Zeit dazwischen zu erfreuen.

Von daher waren die fünf Wochen fuhren dann doch viel zu schnell vorbei. Ehe ich mich versah, saß ich mit meinen Sangesbrüdern im Reisebus nach Lankau. Hier würde auch dieses Jahr wieder unsere Probenwoche stattfinden. Das entsprach ausdrücklich nicht Herrn Kaisers Wunsch. Die Probenwoche sollte schließlich nicht nur ein überdehntes Chorwochenende sein. Wir sollten das durchaus als eine kleine Reise auffassen. Und eine solche ging – wir waren ja keine Mallorca-Touristen – jedes Jahr woanders hin. Organisatorische Zwänge hatten die Pläne unseres Chorleiters jedoch durchkreuzt, sodass wir ein weiteres Mal nach Lankau fahren mussten.

Dort angekommen, bekamen wir Männer wieder das Sechserzimmer mit der Gartenterrasse zugewiesen, das wir schon im vergangenen Jahr bewohnt hatten. Anders als damals würde ich jedoch nicht auf einer Matratze auf dem Fußboden nächtigen müssen. Gaming-Max war aus dem Chor ausgetreten und nicht mitgereist. So waren wir in dem Zimmer nur noch zu sechst. Und wollte einer mal ein wenig alleine sein, musste er sich nur im angeschlossenen Bad verbarrikadieren. Der Hirschkäfer, der hier letztes Jahr noch sein Unwesen getrieben hatte, war ausgezogen. Philipp musste sich gar nur in sein Bett legen, um alleine zu sein. Kein Sandkorn war mehr da, das ihn am Einschlafen hindern konnte. Ein Zustand, den wir rasch änderten, was Philipp jedoch nur mäßig aufregte.


Das Schullandheim Lankau lag selbst für die Verhältnisse eines Probenheimes ziemlich ab vom Schuss. Über eine halbe Stunde brauchte man, um von der Autobahn hierherzukommen. Ein langer Weg im Autobahnland Deutschland. Im Gebäude gab es keinen Handy-Empfang. Wer telefonieren wollte, musste sich zum Kornfeld fünfzig Meter weiter begeben. Das Schullandheim Lankau war mit anderen Worten der ideale Ort für Lehrer, die ihre Schüler an jedem Tag ihrer Klassenreise mit langen Wanderungen quälen wollten. Weniger gut geeignet war es, um hier seinen achtzehnten Geburtstag zu feiern. Doch genau das würde ich tun. Philipp sprach mir dafür sein äußerstes Beileid aus.

«Oh Mann, ich würde so ausrasten, wenn ich meinen achtzehnten Geburtstag auf einem Chorwochenende verbringen müsste», sagte er.

Dem konnte David nur zustimmen: «Ehrlich, das ist doch das Beschissenste, was einem passieren kann.»

Sogar Imanuel meinte, dass er an meiner Stelle die Fahrt nach Lankau abgesagt hätte.

Die drei konnten ja nicht ahnen, dass es das erste Mal seit vierzehn Jahren sein würde, dass mein Geburtstag überhaupt gefeiert wurde. Damals war ich mit meinen zweieinhalb Sandkastenfreunden in Hagenbecks Tierpark gewesen. Ein Erlebnis, das ich durchaus gerne wiederholt hätte. Doch dann waren wir nach Neuenfelde umgezogen. Der Umzugsstress hatte meine Mutter nach eigenen Angaben derart mitgenommen, dass danach erst einmal keine Geburtstage mehr gefeiert worden waren. ‹Danach erst einmal› hieß die gesamten vier Jahre, die wir in Neuenfelde gewohnt hatten. Gleiches galt für die ersten fünf Jahre, die wir in Finkenwerder gewohnt hatten. Und als die vorbei waren, wäre ich selbst gar nicht mehr auf die Idee gekommen, einen Geburtstag von mir feiern zu wollen. Das nämlich hätte erfordert, dass es in der Klasse jemanden gab, der von mir eingeladen werden wollte.

Von daher war es das Beste, was mir passieren konnte, dass mein Geburtstag auf eine Chorfahrt fiel. Meine Sangesbrüder waren willkommene Gäste und Gründe, die Einladung auszuschlagen, konnten sie hier nur schwer vorbringen.

Wir beschlossen, reinzufeiern. Das hieß im Klartext, dass wir bis Mitternacht auf Betten und Stühlen saßen und uns unterhielten. Es floss kein Alkohol, es wurde keine laute Musik gespielt und es waren auch nicht noch hundert andere Leute da, die nur eingeladen worden waren, damit man sagen könnte, man hätte seinen achtzehnten mit hundert Leuten gefeiert. Zu ebenjenen hundert Leuten hatte ich in den vergangenen Jahren zwei Mal gezählt. Mit meiner Vermutung, dass derartige Veranstaltungen nichts für mich sein würden, hatte ich goldrichtig gelegen. Die meiste Zeit hatte ich auf dem Sofa gesessen und sturzbetrunkenen Klassenkameraden erklärt, dass ich wirklich keinen Alkohol trinken wollte. Sie hatten sich wirklich Mühe gegeben. Einer, der an jenem Tage selbst zum ersten Mal dem Alkohol zugesprochen hatte, hatte erklärt: «Es ist so geil, besoffen zu sein. Guck mal: Ich werfe mich auf den Boden und es ist mir egal!» Er hatte sich zu diesen Worten tatsächlich auf den Boden fallen lassen.

Das würde hier nicht passieren. Zwar holte Imanuel um Mitternacht tatsächlich eine Flasche Sekt hervor. Der war jedoch von Heidi und Peter gesponsert und natürlich vollkommen alkoholfrei. Viel interessanter war da schon die Geburtstagsgrußkarte meiner Großmutter. Sie hatte die ganze Zeit in meinem Koffer in einem Umschlag gelegen. Ich zog sie heraus und klappte sie auf. Ein Räuspern erklang.

«Ich wünsche dir zu deinem Feste Gesundheit Glück und nur das Beste. Und außerdem, das ist ganz klar, ein schönes neues Lebensjahr.»

Wir brachen in schallendes Gelächter aus.

«Haha, geil», sagte Philipp, «darf ich auch mal.»

Ich gab ihm die Karte. Wieder und wieder klappte er sie auf. Wieder und Wieder erklang das Räuspern und der Trinkspruch. Wieder und wieder lachten wir uns über ihn krank.

Danach begaben wir uns zu dem kleinen Bach in der Nähe des Heimes. Dort setzten wir uns auf den Kanusteg und ließen den Abend ausklingen.


Die Probe am nächsten Morgen begann mit dem wohl enthusiastischsten vierstimmigen Happy Birthday das jemals gesungen worden war. Alle Männer und alle Knaben gratulierten mir noch einmal ganz herzlich. Zwergo überreichte mir mein Geburtstagsgeschenk. Das Buch Der Schattenesser von Kai Meyer. Ich studierte kurz den Klappentext. Es spielte im Prag des Dreißigjährigen Krieges.

«Na, kannst du dir denken, was es damit auf sich hat?», fragte Zwergo.

«Naja, wegen Prag und so, schätze ich mal.»

«Ja, genau, weil wir da ja im Herbst hinfahren und du dich doch auch für Geschichte interessiert und so.»

Das hätte er mir nicht zu sagen brauchen, das hatte ich auch so gewusst. Meine Mutter hatte er mir erzählt, dass Zwergo sie vor einigen Wochen nach einem geeigneten Geschenk gefragt hatte. ‹Irgendwas mit Prag und Geschichte›, hatte sie ihm geantwortet.


Die erste halbe Stunde der Mittagspause verbrachten Philipp und ich mit der Geburtstagsgrußkarte.

«Ich wünsche dir zu deinem Feste Gesundheit Glück und nur das Beste. Und außerdem, das ist ganz klar, ein schönes neues Lebensjahr.»

Wir gingen einfach davon aus, dass das alle genauso komisch finden würden wie wir.

Weit gefehlt.

«Ey, kommt, Leute, jetzt ist wirklich mal langsam gut», sagte David.

«Ey, nee, das ist cool», erwiderte ich und klappte die Karte von Neuem auf.

«Ey, nee, ehrlich. Langsam geht es mir nur noch auf den Sack, Leute.»

«Ja, und?», sagte Philipp, «Wir finden’s geil! Außerdem hast du hier nichts zu melden. Du baust doch immer die meiste Scheiße.» Er griff nach der Karte.

«Ey, jetzt mal ernsthaft: Wenn ihr das Ding nicht gleich weglegt, werde ich es euch wegnehmen, verstanden?»

«Ich wünsche dir zu deinem Feste –»

David stand auf, riss Philipp die Karte aus der Hand und verschwand nach draußen. Kurze Zeit später kam er wieder

«So», sagte er, «jetzt liegt die Karte an einem Ort, an dem ihr sie ganz bestimmt niemals finden werdet.»

Das ließen wir uns nicht zwei Mal sagen. Wir gingen raus und suchten nach der Karte. Doch obwohl wir in jedem Winkel nachsahen, fanden wir sie nicht.

Ich war sauer. Diese Karte würde in zwei Jahren ein hervorragendes Mittel sein, mich in einen nostalgischen Rausch zu versetzen. Was ich mit ihr verband, war ja schon jetzt ausgesprochen positiv. Und dann nahm dieser Drecksack sie mir einfach weg.

Ich stürmte zurück ins Zimmer.

«Los, David!», sagte ich, «Wo hast du die Karte hingetan?»

«Versprichst du mir, dass du mir nicht mehr mit dieser nervigen Frauenstimme auf den Sack gehen wirst?»

«Jaja. Jetzt zeig mir, wo die Karte ist!»

Er führte mich zu einem großen Gebüsch und deutete auf einen Punkt zwischen den Blättern. Tatsächlich, dort klemmte sie.

«Denk dran, was du versprochen hast!», sagte David.

Ich nahm die Karte an mich und packte sie in einen Winkel meines Koffers, in dem ich sie vor unbefugtem Zugriff sicher wähnte. David brauchte sich keine Sorgen machen, dass ich die Karte noch einmal hervorholen würde. Mir war draußen eine ganz neue Idee gekommen.

«Ey, hat noch wer Bock auf Schaukeln?»

David und Frans erklärten sich bereit und so gingen wir los.

Die Schaukeln des Schullandheims Lankau hingen so tief über dem Boden, dass wir die Unterschenkel einziehen mussten. Anschwung zu holen war äußert mühselig. Doch es war es uns wert. Schnell war es wie früher: Wir versuchten, uns in Geschwindigkeit und Höhe zu überbieten und mit den Füßen einen Zweig zu treffen. Das gelang uns zwar nicht, doch scherten wir mehrmals alle drei gleichzeitig nach oben aus, was das Gerüst heftig beben ließ. Welch ein Mordsspaß.

«Tja», sagte David zum Schluss, «das hättste wohl nicht gedacht, dass Lankau dich dazu bringen würde, mal wieder zu schaukeln.»

In der Tat, vor ein paar Jahren hätte mir nichts ferner gelegen.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Eine Schaukel ist kein so harmloses Spielgerät, wie man glauben mag. Dem Komponisten Carlo Gesualdo soll sie gar als Mordinstrument gedient haben. Nachdem dieser seine treulose Frau erstochen hatte, hatte er nach einem Weg gesucht, auch seinen Sohn loszuwerden. Als geeignete Methode hatte es sich herausgestellt, diesen auf einer Schaukel festzubinden und tagelang schwingen zu lassen. Musikalisch untermalt worden war dieses grausige Spektakel von Madrigalen über die Schönheit des Todes. Weil es für diese Geschichte aber keinen Beweis gibt, ist sie wohl dem Bereich der Legenden zuzuordnen. Ganz anders als der Mord an Gesualdos Frau, der sich tatsächlich ereignet hat.

Nach so viel körperlicher Ertüchtigung stand mir der Sinn nach ein wenig Muße. Ich nahm den Schattenesser und begab mich zum Kanusteg. Dort saß Max-Frederick mit einem Kopfhörer und blickte in die Ferne. Ich gesellte mich zu ihm und schlug mein Buch auf.

Im ersten Kapitel wurde in einer kleinen Rückblende die Besetzung Prags durch die Katholische Liga beschrieben. Schon die erste Zeile ließ verlautbaren, dass das recht blutrünstig vonstattengegangen war. Und mit jeder Seite wurde die Schilderungen unzumutbarer. Ich war begeistert.

«Ey», sagte ich zu Max-Frederic. Er nahm einen Stöpsel aus dem Ohr. Ich las ihm vor: «‹Erst mussten die Unglücklichen ihre Arme in kochendes Wasser tauchen, dann in die Eisfluten der Moldau; danach war ihnen das tote Fleisch von den Knochen geglitten wie Handschuhe, die ihnen plötzlich zu groß waren.›»

Er lachte kurz und hörte dann weiter Musik.

Es war zu bezweifeln, dass Zwergo wusste, was er mir da eigentlich geschenkt hatte. Vermutlich hatte er sich von der Aufschrift ‹Historischer Roman› leiten lassen.


Nach der Mittagspause war wieder Probe angesagt. Sehr zum Leidwesen der Knaben.

«Nein, Herr Kaiser, bitte keine Probe», flehten sie.

Doch unser Chorleiter ließ nicht mit sich verhandeln. Da hatte einer der Knaben eine Idee.

«Wir können doch nicht proben, wenn Lennart Geburtstag hat», sagte er.

Und schon waren rund fünfzig erwartungsvolle Blicke auf mich gerichtet.

Das könnte euch so passen.

«Ja, also», sagte ich, «an meinem Geburtstag wird gemacht, was ich will. Und ich will proben.

Die Knaben meldeten quengelnd Protest an. Herr Kaiser hingegen war von meinem plötzlichen Reifeschub sichtlich beeindruckt.

«Danke, Lennart», sagte er.