Musikliebhaber unter sich
Perlen von Holstein Folge 137
Es war der dritte Tag unserer Probenwoche in Lankau. Herr Kaiser war in bester Ferienstimmung. Anstatt zu proben, erzählte er uns aus seinem bewegten Leben. Das kam zwar häufiger vor, doch handelten seine Erzählungen dann stets vom Dresdner Kreuzchor und sollten uns zeigen, wie gut wir es doch bei ihm hatten. Die heutige Veteranengeschichte hingegen behandelte seine Mitgliedschaft in einer gänzlich anderen Organisation. Zudem war sie von zweifelhafter Moral.
«Wisst ihr», sagte er, «als guter DDR-Bürger war ich als Kind natürlich bei den Jungen Pionieren. Man musste da nicht Mitglied sein, also man wurde nicht direkt gezwungen. Es wurde einem eher so nahegelegt. Mein Bruder zum Beispiel, der war nicht bei den Jungen Pionieren und dem haben sie die Hölle heiß gemacht. Naja, egal. Ich jedenfalls war bei den Jungen Pionieren. Und wer bei den Jungen Pionieren war, der hatte die Ehre, mindestens einmal im Monat vor die Klasse zu treten, sein Pionierhalstuch hervorzuholen und die Gebote der Jungen Pioniere aufzusagen. Man durfte aber nicht selbst entscheiden, wann man dran war. Man ist von der Lehrerin dazu aufgefordert worden. Naja und einmal, da bin ich von meiner Lehrerin aufgefordert worden, nach vorne zu treten. Das Problem war, dass ich mein Pionierhalstuch kurz davor benutzt hatte, um mir die Nase zu putzen. Und ich war natürlich nicht schlagfertig genug, einfach zu behaupten, dass ich das Pionierhalstuch wohl zu Hause liegengelassen habe – was schlimm genug gewesen wäre. Ich gehe also nach vorne und ziehe das Pionierhalstuch wie so ein Rotztuch aus meiner Hosentasche hervor. Das hat einen Ärger gegeben, das sage ich euch.»
Ähnlich viel Ärger, wie es wohl geben würde, wenn jemand in Gegenwart des Chorleiters seine Fettfinger am Chorpullover abwischte. Nun ja, wenn einem von uns einmal etwas Derartiges gelingen sollte, würde er von nun an immer auf die Geschichte mit dem Pionierhalstuch verweisen können. Eine mögliche Konsequenz, die Herr Kaiser aber, wie sich noch zeigen sollte, ganz bewusst in Kauf nahm. Grund für seine gute Laune war nämlich wohl, dass wir heute Damenbesuch hatten. In der hintersten Ecke des Raumes saß eine Frau. In der Hand hielt sie einen Notizblock.
Herr Kaiser stellte sie uns kurz vor.
«Unser heutiger Gast ist die Frau des Chorleiters, mit dessen Chor wir damals gemeinsam in Lüneburg aufgetreten sind. Die schreibt eine Diplomarbeit über die Entwicklung von Knabenstimmen und möchte deswegen unsere Probe ein wenig belauschen. Lasst euch von ihr nicht stören.»
‹Lasst euch von ihr nicht stören› hieß in solchen Situationen in der Regel sinngemäß: ‹Und benehmt euch ja anständig, sonst könnt ihr was erleben!› Herr Kaiser jedoch schien eher darauf erpicht zu sein, der Dame zu zeigen, wie es in so einem Knabenchor wirklich zuging. Den ganzen Vormittag lang wurden wir von ihm regelrecht dazu angestiftet, Halligalli zu machen. Zunächst mit mäßigem Erfolg.
«Wisst ihr, welche Einsingübung ich niemals mit euch machen würde, weil ich die als Kind schon völlig bescheuert fand?», fragte er.
Das wusste selbstverständlich niemand. Deshalb sang er sie uns vor.
Der pädophile Charme dieser Etüde brachte uns durchaus zum Schmunzeln.
«Wir wollen diese Einsingübung aber machen», sagte ich.
«Glaub mir, Lennart, das möchtest du nicht», entgegnete Herr Kaiser.
Eine große Gaudi entwickelte sich jedoch nicht. Aus einem ganz einfachen Grunde: Diese Einsingübung war tatsächlich einfach nur bescheuert. So bescheuert, dass man sich nicht einmal mehr darüber lustig machen mochte.
Beim Vater Unser von Heinrich Schütz unternahm er den nächsten Versuch.
«Kennt ihr eigentlich das Buch Der weiße Neger Wumbaba?», fragte er, «Das handelt von kindlichen Verhörern, also davon, dass Kinder Liedtexte oft völlig falsch verstehen, weil da zum Beispiel Wörter vorkommen, die sie noch gar nicht kennen. Der weiße Neger Wumbaba ist also natürlich eigentlich ‹der weiße Nebel wunderbar› aus Der Mond ist aufgegangen. Ich selbst habe ja früher immer gedacht, dass Gottes Sohn Owi heißt, denn in Stille Nacht heißt es ja: ‹Gottes Sohn, Owi, lacht›. Und genauso könnte man beim Vater Unser von Heinrich Schütz denken, dass da vom kleinen Schuldi die Rede ist: ‹Wie wir vergeben unserm Schuldi gern.›
Auch das brachte uns durchaus zum Schmunzeln. Diese Textumdeutung sollte sogar noch für Monate immer wieder von irgendwem gesungen werden. Der große Lacher war jedoch auch sie nicht. Sie war einfach viel zu betulich.
Nach diesen zwei Misserfolgen erkannte unser Chorleiter wohl, dass es alles nichts half: Er musste zum äußersten Mittel greifen.
«Wisst ihr eigentlich, was ich neulich im Fernsehen gesehen habe?», fragte er, «Da war dieser – Helft mir mal auf die Sprünge, ihr wisst doch bestimmt, wie der heißt. Irgendwas mit Rammler oder Rembrandt. Die meinten, von dem wäre auch dieses Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht.»
«Stephan Remmler», sagte Zwergo.
«Ja, genau», erwiderte Herr Kaiser, «Naja, jedenfalls war der da, um sein neues Lied zu präsentieren. Dieses Lied ging folgendermaßen: Stephan Remmler sagt immer Ich und Aha und dazu singt so ein Mädchenchor, wartet, ich mache es euch mal kurz vor.»
Er neigte seinen Kopf um etwa fünf Grad nach rechts und machte einen betont einfältigen Gesichtsausdruck. Dann vergaß er für einen Augenblick alles, was er in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren über Gesangstechnik gelernt hatte, und sang los: «Hä, hä, hä, hä, hä, hä, hä. Einer muss der Beste sein.»
Wir machten Anstalten, mitsingen zu wollen. Das ließ unser Chorleiter sich nicht zweimal sagen. Er begab sich zum Klavier und begleitete uns.
In die von dem Lied ausgebreitete Ausgelassenheit hinein stellte Volker eine Frage: «Und wer singt jetzt die Terz?»
Zwergo tat es mit breitem Grinsen.
David und ich kippten vor Lachen beinahe vom Stuhl. Für Imanuel Grund genug, das Liedchen ebenfalls um eine kleine Schelmerei zu ergänzen.
Spätestens jetzt war klar: Eine Probe im eigentlichen Sinne würde bis zum Mittagessen nicht mehr stattfinden. Max-Frederick, Frans und ich konnten also getrost aufstehen und endlich einmal öffentlich singen, was wir schon lange einmal hatten öffentlich singen wollen.
«Ein Ki-ind erschossen zu Bethlehem, Be-e-e-e-ethlehem, des fre-euet si-ich Jeru-usalem, Alle-eluja-a, Alle-e-e-eelluja.»
Anstelle der zu erwartenden Empörung ernteten wir schallendes Gelächter. Von den Knaben und noch mehr von den Männern und am allermeisten von Marc. Wir ließen uns von daher nicht lange bitten, auch noch die Alternativtexte der anderen beiden Strophen zum Besten zu geben.
Danach ging es durch den Wintergarten hinter dem Probenraum hinaus ins Freie. Den Gebäudeteil, in dem das Essen gereicht wurde, konnte man zwar auch durch verschachtelte Korridore erreichen. Wir bevorzugten jedoch den lauschigen kleinen Sandweg, der um das Gebäude herumführte. Er passte so viel besser zu dem Lied, das ich den anderen Jungmännern gestern beigebracht hatte. Natürlich sangen wir es auch jetzt wieder voller Elan.
Völlig gegenteilige Klänge waren es, nach denen wir uns im Speisesaal zu sehnen begannen. Den Satz von Fröhliche Weihnacht überall, den im vergangenen Advent immer als Zugabe geboten hatten, konnten wir Männer jedoch nicht alleine singen. Wir brauchten die Knaben. Sie unterwürfig um ihre Unterstützung zu bitten, hätte jedoch nur bewirkt, dass sie früher oder später eine entsprechende Gegenleistung einforderten. Wir waren also angehalten, sie zur freiwilligen Mitarbeit zu animieren. Bei einem Lied wie diesem wahrhaftig kein Ding die Unmöglichkeit. Es würde wahrscheinlich reichen, einfach drauflos zu singen.
«Darum alle sti-immet in den Jubelto-on, denn es kommt das Licht der Welt von des Vaters Thron.»
Die Geschwindigkeit, mit der sich das Stück über den gesamten Speisesaal ausbreitete, überraschte selbst mich. Bei der zweiten Strophe wurde es nicht nur an allen Tischen gesungen, es wurde sogar von Herrn Kaiser dirigiert. Eigentlich gab es im ganzen Raum nur eine Person, die nicht musizierte: Die Frau mit dem Notizblock, die eine Diplomarbeit über die Entwicklung von Knabenstimmen schrieb. Ob der Besuch hier für sie besonders gewinnbringend gewesen war, ließ sich schwer sagen. Alles, was bisher gesagt oder gesungen worden war, hatte sie mit Schweigen zur Kenntnis genommen. Wir sahen sie jedenfalls nie wieder.
Vom Speisesaal ging es wieder hinaus auf den Sandweg. Unser Ziel war jedoch nicht der Probenraum, sondern unser Zimmer. Schließlich war jetzt Mittagspause. Die anderen Jungmänner sangen eine umgedichtete Fassung des Liedes, das ich ihnen gestern beigebracht hatte.
Wir waren so froh und so frei, dass uns beinahe entgangen wäre, was sich fünfzig Meter von uns entfernt abspielte: Marc und Herr Kaiser standen auf der Wiese und zankten sich. Besonders Marc sah böse aus. Während er redete, stieß er einen Plastikstuhl um.
«Oh, guckt mal, Marc und Herr Kaiser haben ihren ersten Ehestreit», sagte ich.
«Dabei haben sie doch immer so gut zusammengepasst», erwiderte Imanuel.
Wir lachten kurz und gingen dann weiter. Was auch immer zwischen den beiden vorgefallen war, es war sicher nichts Ernstes. Wer einmal erlebt hatte, wie laut Marc über Herrn Kaisers Witze lachte, wusste schließlich: Die beiden verstanden sich blendend. Wir hatten allen Anlass, uns nichts weiter dabei zu denken.
Und wäre es nicht gekommen, wie es schon bald kommen sollte, selbst ich hätte diese kleine Szene wohl längst vergessen.