Eine auffällige Erscheinung
Perlen von Holstein Folge 139
Die Szene mochte sich etwa wie folgt abgespielt haben:
Es war sieben Uhr früh. Nathanael erwachte davon, dass die Sonne durch die Vorhänge hindurch sein Zimmer erhellte. Außer ihm war keiner hier. Wie alle Erwachsenen hatte er ein Einzelzimmer zugewiesen bekommen.
Wirklich wach war er nicht. Zudem plagten ihn Kopfschmerzen. Ein klares Zeichen dafür, dass der letzte Cola-Konsum entschieden zu lange her war. Zeit, den Koffeinpegel wieder auf normale Werte anzuheben.
Nathanael stand vom Bett auf und begab sich zum Fenster. Draußen in den Blumenkästen nämlich lagerte Nathanaels Markenzeichen: die Eineinhalb-Liter-Flaschen Aldi-Cola. Sie lagerten hier, um vom Morgentau gekühlt zu werden. Einen Kühlschrank gab es im Zimmer nicht und lauwarme Cola war nun einmal ziemlich widerwärtig.
Nathanael öffnete das Fenster und griff sich eine Flasche. Noch am Fenster stehend öffnete er sie und nahm einen kräftigen Zug. Erst als die Flüssigkeit in seinen Mund eingedrungen war, bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Zum Teufel, das war ja keine Cola. Das war Wasser. Wozu diente denn dieser Unrat?
«Scheiße!», schrie Nathanael. Und spie dabei das Wasser in einer großen Fontäne zum Fenster hinaus.
Als er wieder bei sich war, hörte er, wie Zwergo und Herr Kaiser in der Ferne lachten. Da dämmerte ihm, was passiert war.
Herr Kaiser und Zwergo waren an diesem Morgen bereits früh auf den Beinen gewesen. Sie hatten die Zeit genutzt, um wichtige Dinge zu besprechen. Dabei waren sie um das Gebäude des Schullandheimes Lankau herumflaniert. Nathanaels Cola-Flaschen hatten sie mehr zufällig entdeckt.
«Guck dir das an», hatte Herr Kaiser gesagt, «Ich möchte echt nicht wissen, was los ist, wenn der einmal seine Cola nicht bekommt.»
«Also mich würde das schon mal interessieren», hatte Zwergo erwidert, «Komm, ich hab’ ne Idee.»
Herr Kaiser und Zwergo hatten sich zu den Blumenkästen begeben. Dort angekommen, hatte Zwergo sich gleich ans Werk gemacht. Er war mehrmals hochgesprungen und hatte eine Flasche nach der anderen aus den Blumenkästen herausgezogen. Dann hatte er sich zum Probenraum begeben und einige der Wasserflaschen geholt, die dort für Knaben bereitstanden. Diese packte er nun anstelle der Cola in die Blumenkästen.
Herr Kaiser hatte das Treiben Zwergos nicht aktiv unterstützt, diesem jedoch auch keinen Einhalt geboten. Von Nathanaels Cola-Konsum hatte er noch nie viel gehalten. Es war sogar einer der Hauptgründe dafür gewesen, dass das Trinken während der Probe verboten hatte. Seither war es öfter vorgekommen, dass Nathanael mitten im Stück eingeschlafen war. Das war der erfolgreichen Probenarbeit nicht unbedingt zuträglich. Auch entglitt ihm ein leicht schadenfrohes Lachen, als Zwergo sein Werk vollendet hatte.
«Sei ruhig, ich glaube, Nathanael ist aufgewacht», hatte Zwergo gesagt.
Zwergo und Herr Kaiser waren von Nathanaels Fenster weggeschlichen. Das sich nun ereignende Spektakel hatten sie aus sicherer Entfernung beobachtet.
Sechs Stunden später ging es Nathanael schon wieder deutlich besser. Zwergo hatte ihm sein Eigentum noch vor dem Frühstück ausgehändigt. Ein paar kräftige Schlücke später hatten Laune und Koffeinspiegel von Nathanael wie auf Normalniveau gelegen. Jetzt saß er mit uns am Mittagstisch. Er trug sein Hardcore-Christian-T-Shirt und diskutierte mit uns über Glaubensfragen.
«Ey, sag mal, Nathanael, glaubst du denn eigentlich wirklich an die Schöpfungslehre?», fragte Imanuel.
«Ja, klar, an was sonst?», erwiderte der.
«Naja, die Evolution ist doch sozusagen erwiesen.»
«Moment. Die Evolution ist zunächst einmal nichts weiter als eine Theorie. Das Problem ist, dass sie gerne als eine erwiesene wissenschaftliche Erkenntnis verkauft wird.»
«Du glaubst da also nicht dran?»
«Ich glaube das, was in der Bibel steht: dass Gott die Welt und alle Lebewesen vor sechstausend Jahren erschaffen hat.»
«Für dich ist also alles, was in der Bibel steht, in jedem Fall wahr?»
«Naja, wir müssen jetzt wohl erst mal klären, was die Bibel eigentlich ist: Die Bibel ist Geschichtsbericht, eine Art Chronik. Was da drin steht, wurde von Menschen beobachtet und festgehalten.»
«Aber die Wiederauferstehung, die hat doch keiner gesehen.»
«Ja, gut, aber es war ja wohl nun wirklich so, dass das Grab von Jesus leer war. Wenn es so gewesen wäre, dass jemand den Leichnam einfach rausgenommen hätte, dann wäre er bestimmt gekommen und hätte gesagt: ‹Hier, ich hab’ ihn!›, aber das hat keiner gemacht. Folglich ist er auferstanden, anders kann er da nicht rausgekommen sein.»
Ich überlegte kurz, ob ich anmerken sollte, dass das doch nun kein schlagender Beweis war. Es konnte schließlich auch jemand den Leichnam herausgenommen und nicht gesagt haben: ‹Hier, ich hab’ ihn!› Dafür konnte es ganz unterschiedliche Gründe geben. Unter anderem den, dass man denken sollte, Jesus sei auferstanden. Ich ließ es aber bleiben. Nathanel hätte wahrscheinlich auch darauf eine Antwort gehabt. Er war schließlich ein Hardcore Christian.
Man hätte nun meinen können, dass Nathanael Theologie-Student war. Mein Vater fand jedenfalls, dass er extrem wie einer aussah. Das jedoch war ein Irrtum. Nathanael war mit Leib und Seele Informatiker. Wer wollte, den lehrte er, wie man mit den Fingern binär zählen kann. Eine ganz einfache Sache: Der rechte Daumen steht für die Eins, der Zeigefinger für die Zwei, der Mittelfinger für die Vier, der Ringfinger für die Acht und so weiter. Hält man nun den Daumen und den Mittelfinger hoch, so heißt das Fünf. Hält man den Daumen, den Mittel- und den Ringfinger hoch, ergibt das dreizehn. Auf diese Weise lassen sich mit nur zehn Fingern alle Zahlen zwischen null und tausenddreiundzwanzig darstellen.
Ein weiterer – überaus kapitaler – Irrtum war es, zu glauben, dass Nathanel Klassik liebte.
«Wisst ihr, das ist schon eine seltsame Sache», hatte er einmal gesagt, «Ich mag es unglaublich gerne, Klassik zu machen. Aber ich hasse es einfach, sie zu hören. Wenn ich alleine an diesen grässlichen, schrillen Klang von Geigen denke, dann rinnt mir das Blut aus den Ohren.»
Dementsprechend bevorzugte er Gottesdienste, in denen das Wummern der Orgel dem Dröhnen von E-Gitarren gewichen war.
Am Abend saßen wir Männer, Herr Kaiser, Heidi und Peter in großer Runde im Wintergarten hinter dem Probenraum und spielten Meiern. Kein Spiel, das ich besonders schätzte. Dafür gab es dreierlei Gründe:
- Ich konnte nicht bluffen.
- Ich hatte bei derartigen Spielen grundsätzlich immer Pech.
- Ich fand die Regeln völlig unnachvollziehbar, zumal sie sich laufend zu ändern schienen.
Es war aber auch weniger die Lust am Spielen, sondern die Angst gewesen, die mich heute hier her getrieben hatte. David hatte heraushängen lassen, dass er vollenden würde, was er gestern begonnen hatte. Er war zu Vorhängen und Lichtschalter geschlurft und hatte den Raum verdunkelt. Dann hatte er versucht, Philipp zu packen. Statt aufs Bett war dieser jedoch aus dem Zimmer und in besagten Wintergarten geflohen. Frans, Imanuel und ich waren ihm bald gefolgt. Der moderate Nervenkitzel eines Würfelspiels war dem möglicherweise todbringenden von Davids Horrorshow in jedem Falle vorzuziehen.
So saßen wir hier nun also in großer Runde und ich war dran mit Würfeln.
«Zweiunddreißig», sagte ich. Ich gab den Würfelbecher meinem Sitznachbarn Nathanael.
«Okay, dann glaube ich dir das einfach mal», sagte der würfelnd, «Und sage: zweiunddreißig.»
Er reichte den verschlossenen Würfelbecher seinem Nachbarn Imanuel. Dieser jedoch machte keine Anstalten, ihn entgegenzunehmen.
«Du meinst ’nen Dreierpasch?», fragte er.
Der Scheiße-Ruf, der nun aus Nathanels Mund erklang, schreckte die Knaben- und Vogelschwärme des gesamten Umlandes auf. Doch Buß’ und Reu’ knirschten das Sündenherz sogleich entzwei.
«Gut, dann habe ich jetzt verloren», sagte Nathanael, «So viel Dummheit gehört echt bestraft.»