Ein spätes Wiedersehen

Perlen von Holstein Folge 141

September 2006

Nicht nur für mich sollte 2006 das Jahr sein, in dem ich endlich achtzehn geworden war. Auch David sollte endlich in den Genuss der Volljährigkeit kommen. Gerade einmal drei Wochen nach mir. Sein Geburtstag fiel nicht auf ein Chorwochenende, er konnte ihn zuhause feiern. Für David Grund genug, es ausnahmsweise einmal so wie jeder außer ihm und mir anzugehen. Er lud rund fünfzig Leute ein, von denen er mindestens die Hälfte häufig sah und wenig kannte. Auch Imanuel und ich sollten unter den Gästen sein.

Meine Mutter war der Auffassung gewesen, dass ein Zwanzig-Euro-Gutschein von Media Markt ein wunderbar geeignetes Geschenk sein würde für jemanden, den ich fast mein halbes Leben kannte. Ich war anderer Meinung gewesen, hatte aber auch keine bessere Idee gehabt. Mein Plan, direkt nach der Probe zum Bahnhof Altona zu fahren, hatte also schon festgestanden, als Imanuel mich ansprach.

«Ey, Lennart, hast du schon eine Idee, was wir David schenken könnten?»

«Nicht so richtig.»

«Ich habe eine richtig geile Idee: Wir schenken ihm ein T-Shirt, bei dem auf der Vorderseite ‹Knabenchor-Anarchist› steht und auf der Rückseite die ganzen Frau-Siebenkittel-Beschimpfungen: ‹Opa David, Träne, Tränentier, Sargnagel, Drömel› und so weiter.»

Das war doch wirklich eine ganz ausgezeichnete Idee.

Statt zum Bahnhof Altona fuhr ich gemeinsam mit Imanuel zum Alstertal Einkaufszentrum. Mein Vorschlag war ja gewesen, es beim Hauptbahnhof zu versuchen. Laut den Plakaten in der S-Bahn gab es dort einen Druckladen. Wo genau der war, wusste ich nicht, doch würden wir den schon finden. Außerdem lag der Hauptbahnhof erheblich viel näher an der Jugendmusikschule als das Alstertal Einkaufszentrum. Doch Imanuel war überzeugt: «Im Alstertal Einkaufszentrum gibt es sowas auf jeden Fall.»

So ging es also in den grünen Nordosten Hamburgs, Imanuels Heimat. Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen.

«Ach, das ist total toll hier», sagte er, «Du wohnst voll im Grünen und trotzdem innenstadtnah. Ich muss mich nur in die U-Bahn setzen und komme blitzschnell überall hin. Wenn ich da an die Gegend denke, in der David wohnt. Wie lange du da fahren musst und wie alleine die Stationen dort heißen: Hagendeel oder Schippelsweg. Da merkst du echt gleich, dass du am Arsch der Welt bist.»

Eine Äußerung, der ich nur teilweise zustimmen konnte. In der Tat hatten die Stationsnamen Hagendeel und Schippelsweg für mich auch irgendwie exotisch geklungen, als ich sie das erste Mal gehört hatte. Doch galt das für Ritterstraße und Friedrichsberg gleichermaßen. Außerdem war die Fahrt nach meinem Empfinden genauso lang, also endlos lang. Zeit, die Imanuel nutzte, etwas aus seinem wilden Leben zu erzählen.

«Weißt du, bei uns ganz in der Nähe, da ist ja Ochsenzoll, also diese psychiatrische Klinik. Und als ich noch ein ganz kleines Kind war, ist da mal eine ausgebrochen, während ich da in der Gegend rumgeirrt bin, weil ich mich total verlaufen habe –»

Am Alstertal Einkaufszentrum angekommen, mussten wir rasch feststellen, dass die lange Fahrt umsonst gewesen war. Hier gab es edle Füller von Mont Blanc, aber ganz bestimmt nicht etwas so Profanes wie einen Druckladen. Wir beschlossen, David zu vertrösten und jetzt erst mal beide nach Hause zu fahren.


David nahm es uns nicht übel, dass er auf sein Geschenk würde warten müssen. Er war sowieso zu sehr damit beschäftigt, einmal wirklich Party im eigentlichen Sinne zu machen. Gemeinsam mit einigen anderen Langhaarigen stand er im Wohnzimmer und headbangte. Alkohol war aber zumindest bei David nicht im Spiel. Soweit wollte er dann doch nicht gehen.

Imanuel gesellte sich zu einigen Mädchen, ich hingegen setzte mich in die Sofaecke zu einem ganz besonderen Gast: Meinem alten Feind Christopher. Der hatte die dickglasige Brille gegen Hip-Hop-Klamotten eingetauscht. Ansonsten war er rein optisch ganz der Alte geblieben. Schnell kamen wir ins Gespräch.

«Ey, Lenni-Löwe», sagte er.

«Na, so heiße ich aber schon ganz lange nicht mehr», erwiderte ich.

«Nicht?»

«Naja, Frau Siebenkittel nennt mich schon noch so. Aber im Chor heiße ich, seitdem Herr Kaiser da ist, Lennart.»

«Herr Kaiser? Ist das euer neuer Chorleiter?»

«Ja, das ist seit über drei Jahren unser neuer Chorleiter.»

«Ach, wirklich? Naja, keine Ahnung. Ich bekomme überhaupt nicht mehr mit, was im Knabenchor läuft, seitdem ich draußen bin.»

«Stimmt, du bist ja damals vor Amerika ausgetreten.»

«Ausgetreten? Meine Mutter hat mich rausgenommen! Ich meine: Es ist nicht so, dass ich so wahnsinnig Bock auf Chor gehabt hätte. Aber nach Amerika wollte ich natürlich mit. Egal, ich mache inzwischen überhaupt nicht mehr das, was meine Mutter mir sagt.»

«Weißt du eigentlich noch, wie wir uns damals wegen Digimon und so verkracht haben?»

«Ehrlich? Nö, weiß ich nicht mehr. Mein Gedächtnis ist aber auch so megaschlecht, Alter. Ich kann mich ehrlich gesagt auch an dich kaum erinnern. Und was Digimon angeht, weiß ich gerade noch, dass ich das geguckt habe. Ich könnte dir überhaupt nicht sagen, wovon das gehandelt hat.»

Während er so redete, musste ich an eine Geschichte denken, die David mir einmal zur Ehrenrettung Christophers erzählt hatte: Einmal vor langen Jahren hatten Imanuel und Christopher bei David übernachtet. Davids Furby, ein sprechendes Plüschtier, hatte auf dem Bücherregal gestanden und den dreien indirekt den Tod angedroht: «Happa, happa, lecker!», hatte er nach übereinstimmenden Berichten Davids und Imanuel gesagt. Das hatte die drei so in Angst und Schrecken versetzt, dass sie das Tier auf den Flur verbannt hatten. Damit hatten sie das Problem jedoch eher verschlimmert. Nun nämlich hatte der Furby in ihren Fantasien herumgegeistert. Christopher hatte sich gar geweigert zu schlafen, solange David nicht den Globus, eine Lampe im Erdkugel-Design, eingeschaltet ließ.

Ich besah Christopher in seinen Hip-Hop-Klamotten. Sie ließen ihn so überhaupt nicht anders erscheinen. Ich kam zu dem Schluss, dass diese Geschichte nur wahr sein konnte. Dass Christopher nie ein Schlimmer gewesen war. Er hatte einfach nur einen anderen Seriengeschmack als ich gehabt.

Lange ging das Gespräch zwischen Christopher und mir nicht. Es wurde zudem ziemlich abrupt beendet. Ein Mädchen gesellte sich zu mir. Es wollte wissen, ob ich bereit sei, mich mit einem Euro an der Finanzierung einer Konzerteintrittskarte für irgendeine Freundin zu beteiligen. Sie war bereits die zweite, die mich das fragte. Anders als die erste war sie jedoch sehr resolut. Mit liebevoll-kräftigem Griff zog sie mich vom Sofa hoch.

«Lass dich bloß nicht ausnehmen», sagte Christopher. Doch das Mädchen hatte mich längst in seiner Gewalt. Meinen Zeigefinger fest umklammernd zerrte sie mich die Treppe hinauf. Ihr Ziel war Davids Zimmer. Dort lagerten die Rucksäcke. Und die Portemonnaies.

Unter den wachsamen Augen meiner Begleiterin zog ich die Geldbörse aus dem Vorfach meines Rucksacks und begann, darin zu wühlen.

«Also ein Ein-Euro-Stück habe ich nicht», sagte ich, «Nur ein Zwei-Euro-Stück.»

«Oh, das kannst du mir natürlich auch geben», antwortete sie.

Ich reichte ihr das Zwei-Euro-Stück.

Was jetzt passierte, geschah zu schnell, als dass ich in irgendeiner Weise darauf hätte reagieren können. Routiniert und doch genussvoll streckte sie ihre Arme aus und drückte mich kraftvoll und doch sanft an ihren strammen und doch fleischig-warmen Körper. Einige Sekunden lang hielt sie mich umklammert. Dann griff sie sich das Zwei-Euro-Stück und entschwand. Unerwartet schnell sollte sie jedoch nach hier oben zurückkehren. Diesmal war sie diejenige, die geführt wurde. David und einige seiner Kumpels halfen ihr die Treppe hinauf. Sie begleiteten sie zu Davids Bett, wo sie sich in einen rasch herbeigeholten Eimer übergab. Dann legte sie sich hin und schlief selig ein. Ein Anblick, der mich weit weniger erschreckte als die Erkenntnis, dass sie offenbar die ganze Zeit sturzbetrunken gewesen war.

Es war gerade einmal Mitternacht, doch die Party war vorbei. Nach und nach verabschiedeten sich Davids Freunde und Bekannte. Einige von ihnen nahmen das Mädchen mit. Am Ende waren außer David und mir nur noch seine beste Freundin und Imanuel übrig. Wir setzten uns auf die Hollywoodschaukel im Garten.

«Ey, David, sing doch noch einmal Tomatensalat», sagte Davids beste Freundin.

Diesem Wunsch kam David nur zu gerne nach.

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Imanuel und ich versuchten, es David nachzumachen, scheiterten aber grandios. Es war vollkommen unmöglich, das Lied zu singen, ohne sich zu verhaspeln, vor allem in Davids Geschwindigkeit. Immerhin: Davids beste Freundin konnte über unsere Versuche herzhaft lachen.

«Und ihr seid also von Davids Chor?», fragte sie schließlich.

«Ja», antwortete ich. Und erzählte ihr, wie David mich bei unserem ersten gemeinsamen Chorwochenende mit seinen Gruselgeschichten um den Schlaf gebracht hatte.

«Och, das ist aber gemein», sagte sie.

«Ach, bei David muss man mit sowas rechnen», entgegnete ich.

Noch eine ganze Weile saßen wir da, sangen und erzählten uns gegenseitig alte Geschichten. Und nicht nur David war zum Schluss der Meinung, dass das der beste Teil der Feier gewesen war.