Eine Ära des Aufbruchs

Perlen von Holstein Folge 142

Ich erfuhr es lange, bevor ich es überhaupt hätte erfahren dürfen: Marc wollte gehen und das schon bald. Nur noch bis Ende des Jahres würde er Mitglied des Neuen Knabenchors Hamburg bleiben. Ab 2007 würden wir dann ohne ihn auskommen müssen.

Die Information stammte aus zuverlässiger Quelle. Meine Mutter fühlte sich dennoch veranlasst, sie umgehend zu prüfen. Sie schrieb Marc eine E-Mail und fragte, was denn an den Gerüchten um seinen Weggang dran sei. Er antwortete umgehend. Zunächst machte er seinem Ärger darüber Luft, dass vertrauliche Inhalte von Vorstandssitzungen nach außen drangen, dann erklärte er im Detail: Er würde – zunächst für ein Jahr – nicht mehr im Chor mitsingen. Vorstands- und Geschäftsvorsitzender würde er aber bleiben. Im Übrigen bat er mich und meine Mutter eindringlich, dies bis auf Weiteres für uns zu behalten.

Meine Mutter hielt es für ausgemacht, dass sich hier kein vorübergehendes Pausieren, sondern ein Weggang auf Raten anbahnte.

«Wenn der nicht mehr mitsingt, ist er doch quasi schon aus dem Chor draußen. Dann bekommt er doch gar nichts mehr mit.»

Ich hielt es ebenso für unglaubwürdig, dass Marc einfach nur kürzer treten würde. Unser Geschäftsvorsitzender war Vieles, aber bestimmt kein Freund von halben Sachen. Entweder war er hier Sänger, Vorstands- und Geschäftsvorsitzender oder er war überhaupt nichts. Zumindest nicht auf Dauer.

Ein Gedanke, der mir nicht so recht behagte. Und das nicht einmal nur, weil David und mir die Auseinandersetzung mit Marc noch jede längere Busfahrt versüßt hatte. Es war nun einmal so: Bei allen Schwierigkeiten, die ich mit Marc gehabt hatte, war mir immer klar gewesen, dass man seine Fähigkeiten als Manager nicht in Abrede stellen konnte. Jede Chorreise, jede große und kleine Veranstaltung hatten wir letztlich ihm und seinem Organisationstalent zu verdanken. Ohne Marc hätte es kein Amerika und kein St. Jacobi gegeben, ja, wahrscheinlich nicht einmal Tabea. Zudem hatte man aus seinen Launen eines immer herauslesen können: Der Neue Knabenchor Hamburg war ihm eine Herzensangelegenheit, für die er alles gab. Und die er von niemandem kaputtmachen lassen wollte.

Die Lücke, die er hinterließ, würde kaum zu schließen sein. Einen zweiten gelernten Kaufmann mit Erfahrung im Bereich Kulturmanagement hatten wir schlicht nicht. Und selbst wenn wir ihn hätten, wäre es fraglich, ob dieser Marcs Position einnehmen wollte. Die fiel nämlich nach meiner Einschätzung in die Kategorie Knochenjob und war wahrscheinlich unterbezahlt. Infolgedessen würde auch die Möglichkeit ausscheiden, die Stelle mit jemand Externem zu besetzen. Das galt auch, weil meine Mutter ja recht hatte: Wer über die Verhältnisse in unserem Chor nicht ganz genau Bescheid wusste, würde hier nicht viel auf die Reihe bekommen.

Auf das, was in den nächsten Monaten kommen würde, durften wir alle gespannt sein.


Es war schon etwas merkwürdig, dass Marcs baldiger Weggang genau in die jetzige Zeit fiel. Eine Zeit, die als Ära des Aufbruchs bezeichnet werden konnte: Die Knaben bekamen eine neue Chorkleidung. Das war nicht etwa ein weiterer Schritt in Herrn Kaisers großem Plan, den Chor komplett umzubauen. Die Diskussion um neue Chorkleidung hatte es schon gegeben, lange bevor er unser Leiter geworden war. Ursache war gewesen, dass die roten Pullover – ein original englischer Importartikel – nicht mehr lieferbar waren. Deshalb war bei jeder Vollversammlung darüber debattiert worden, was an ihre Stelle treten sollte. Jeder nur denkbare Vorschlag war gemacht worden: Der Neue Knabenchor Hamburg in Kutten, der Neue Knabenchor Hamburg in Roben, der Neue Knabenchor Hamburg in Talaren. Die roten Pullover waren indes vor sich hin gealtert. Manch einer von ihnen taugte mittlerweile nicht einmal mehr für die Altkleidersammlung. Keinen Tag zu früh hatte unser Chorleiter also endlich eine Lösung gefunden, die hoffentlich alle zufriedenstellte: Die roten Pullover sollten durch graue Pullover ersetzt werden. Wohlgemerkt welche, die der gleichen Baureihe entstammten. Damit unsere Knaben nicht komplett farblos waren, sollten sie dazu eine rote Krawatte tragen. Keine echte Krawatte natürlich, sondern eine mit Gummizug. Bei uns Männern sollte vorerst alles beim Alten bleiben. Wahrscheinlich aber würden wir bald anstelle der Fliegen ebenso Krawatten tragen.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Eines der vielen, vielen Markenzeichen der Thomaner sind ihre, mit Verlaub, bescheuerten Matrosenanzüge. Jene haben gemessen an der achthundertjährigen Geschichte des Chores keine allzu lange Tradition. Erst seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kam die sogenannte Kieler Bluse auf. Im achtzehnten Jahrhundert traten die Sänger mit Stutzperücken und Mänteln auf. Letztere mussten die Ärmsten auch außerhalb von Chorterminen tragen. Das müssen die Jungen heute Gottlob nur noch auf Pressefotos.

Ihren Einstand sollte die neue Chorkleidung natürlich nicht bei irgendeinem Auftritt feiern. Unser Chor feierte schließlich bald sein fünfzehnjähriges Bestehen mit einem großen Konzert in St. Jacobi. Eine Veranstaltung, bei der wir noch einmal einen Blick in unsere ruhmreiche Vergangenheit werfen würden, um dann umso optimistischer in die Zukunft zu sehen. Kurzum: Die perfekte Gelegenheit, eine neue Chorkleidung zu präsentieren.

Das Jubiläumskonzert sollte darüber hinaus Auftakt einer ereignisreichen Woche sein, von Jungs mit starker Stimme. Jungs mit starker Stimme war jene Veranstaltung, in deren Rahmen wir Anfang letzten Jahres bei NDR Sonntakte aufgetreten waren. Damals war sie jedoch nur ein Wochenende lang gewesen. Dieses Mal sollte sie, wie gesagt, eine ganze Woche dauern. Das Ziel war aber das gleiche: Männer und Jungs sollten zum Singen motiviert werden. Die Devise lautete hierbei: Nicht kleckern, sondern klotzen. Nicht nur die Printmedien, auch der Lokalsender Hamburg 1 berichtete. Zu diesem Zwecke hatte man ein Kamerateam bei uns vorbeigeschickt, das die Probenarbeit gefilmt und einzelne Knaben interviewt hatte. Letzteres war eher zu Herrn Kaisers Leidwesen. Wie er sich nämlich schon hatte denken können, wurde folgendes Zitat gesendet: «Einmal hat Herr Kaiser sogar gesagt: ‹Der Alt singt scheiße –›»

Das gesamte Programm von Jungs mit starker Stimme war einem großen Flyer zu entnehmen, der in sämtlichen einschlägigen Musikinstitutionen Hamburgs auslag. Er enthielt auch einen kurzen Werbetext. Nach Angaben Marcs war er von einer Chormutti des Hamburger Knabenchors St. Nikolai verfasst worden. Er begann wie folgt: ‹Singen ist uncool. Sagen die meisten Jungen. Singen ist cool. Sagen Jungen und junge Männer, die in Knaben- und Männerchören singen.›

Ich konnte darüber nun wirklich nur den Kopf schütteln. Meine Einstellung zum Chor mochte sich in den vergangenen zwei Jahren radikal gewandelt haben. Als cool würde ich Singen trotzdem nicht bezeichnen. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass irgendjemand von meinen Sangesbrüdern es so bezeichnen würde. Einfach, weil es das nicht war. Als etwas Sinnliches, das einen von innen heraus in einen Rauschzustand versetzen konnte, war Singen gewiss geil, aber bestimmt nicht cool. Die gute Dame hatte hier ganz offensichtlich ein Wort benutzt, dessen genaue Bedeutung sie nicht kannte. Das wäre ein zu verzeihender Fehler gewesen, wenn er nicht solche kolossalen Folgen hätte: Jedes Kind und jeder Jugendliche würde sofort durchschauen, dass es sich bei diesem Text um den plumpen Anbiederungsversuch eines Erwachsenen handelte. Ein Anbiederungsversuch, der darauf abzielte, ihm etwas schmackhaft zu machen, das man als Kind oder Jugendlicher einfach nicht tat. Zumindest nicht, wenn man dazugehören wollte. Und das wollte man spätestens als Jugendlicher nun einmal und würde fortan jeden Knabenchor umso mehr meiden. Der Text würde bestehende Nachwuchssorgen also höchstens verschärfen. Jeder ruiniert sich eben, so gut er kann. Es war fast beruhigend zu wissen, dass er wohl vor allem von Müttern gelesen werden würde. Mütter, die ebenso wenig wussten, was cool eigentlich hieß.

Ich hätte nun sagen können, dass das alles mal wieder typisch für den Knabenchor St. Nikolai war. Doch wusste ich nur zu gut, dass es Chormuttis dieses Schlags auch bei uns zu allen Zeiten gegeben hatte. Schon Opa Max hatte ja gewusst: «Schönheit vergeht, Dummheit bleibt.»

Der abschließende Höhepunkt von Jungs mit starker Stimme würde übrigens ein gemeinsames Konzert aller Hamburger Knaben- und Männerchöre im Michel sein. Einen Auftritt bei NDR Sonntakte würde es nicht wieder geben. Darüber mussten wir nicht traurig sein. Pünktlich zum Jubiläumskonzert würde nämlich unsere im August aufgenommene CD erscheinen. Zwergo war darüber wohl besonders glücklich. Er konnte sich bis heute darüber in Rage reden, dass der Tonmeister des NDRs neben Ein Vogel saß auf einem Baum ausgerechnet Cantate Domino von Hassler in die Sendung übernommen hatte. Das Stück, das mit Abstand am schlechtesten gelaufen war. Derartige Missgeschicke würden einem von uns selbst engagierten Tonmeister wohl kaum passieren. Wir konnten also voller Vorfreude auf das Erscheinen unserer CD blicken. Vielleicht würde es in dieser Ära des Aufbruchs ja nicht die letzte gewesen sein.

Eines aber war gewiss: Bei allem, was wir in Zukunft taten, würde Philipp wieder mit dabei sein. Herr Kaiser hatte einen Monat lang mit sich gehadert und Philipp erst einmal nur bei den Proben mitmachen lassen. Eine Woche vor dem Jubiläumskonzert hatte er sich dann endlich dazu durchgerungen, ihn wirklich ganz offiziell aus dem Stimmbruch zu entlassen. Nach mehr als anderthalb Jahren. Damit übertraf Philipp selbst mich, der damals knapp ein Jahr und zwei Monate hatte aussetzen müssen.

Es war schon auffällig, dass der Stimmbruch seit Herrn Kaisers Amtsübernahme desto länger dauerte, je streitbarer ein Sänger war. Den guten Frans zum Beispiel hatte unser Chorleiter gerade einmal drei Wochen nicht mitsingen lassen, bevor er in den Männerchor durfte. Aus gutem Grunde: So ganz anders als sein Bruder Max-Frederick war Frans immer ein Musterknabe gewesen. Pünktlich, zuverlässig, selten Widerworte gebend. Daran hatte auch der positive Einfluss von David und mir bislang wenig ändern können.

Bei Philipp würden wir uns derartige Mühen sparen können. Der würde von ganz alleine den Proben noch einmal eine ganz besondere Würze verleihen. Und so gab es zumindest etwas, auf das ich mich ohne jedwede Einschränkung freuen konnte. Der neuen Chorkleidung nämlich stand ich doch etwas skeptisch gegenüber. Graue Pullover, wie würde das denn bloß aussehen? Grau war von allen in Frage kommenden Farben doch nun wirklich die am wenigsten festlichste. Aber nun ja, unser Chorleiter hatte es so gewollt. Was er davon hatte, würde ich beim Jubiläumskonzert schon noch sehen.