Grau in grau
Perlen von Holstein Folge 143
Als ich heute die altehrwürdige Hauptkirche St. Jacobi betrat, galt mein erster Blick ihr: unserer neuen Chorkleidung. Einige Knaben trugen sie bereits. Trugen sie, als ob sie noch nie etwas anderes getragen hatten. Das war an sich nicht weiter verwunderlich. Es handelte sich schließlich um die gleichen Pullover wie vorher, nur dass sie eben grau statt rot waren. Bedachte man aber, dass die roten Pullover nicht nur in Tabea unser eigentliches Markenzeichen gewesen waren, erschrak die Gleichgültigkeit der Knaben schon ein wenig. Waren sie denn gar nicht stolz gewesen, als sie das erste Mal in den Farben unseres Chores hatten herumlaufen dürfen? Bedauerten sie es nicht, dass die edlen Pullover ausgewechselt worden waren, als wären sie das Auto ihrer Eltern?
An sich musste ich aber sagen, dass ich positiv überrascht war. Die Farbe der Pullover war kein bleiches Himmelgrau, wie ich befürchtet hatte. Sie war eher ein kräftiges Mausgrau. Das war zwar bieder und auch ein wenig langweilig, aber weiß Gott nicht hässlich. Und es passte gut zu dem Chor, den Herr Kaiser aus uns gemacht hatte. Deutlich besser als das Rot.
Die Anzahl der Knaben, die die neue Chorkleidung trug, war überschaubar. Einfach, weil die Zahl der anwesenden Knaben und der anwesenden Männer generell überschaubar war. Beginn der Generalprobe war in fünf Minuten und doch war kaum einer da. Unser Chorleiter ließ sich nichts anmerken. Sein Zorn sollte schließlich die Richtigen treffen. Um sich jedoch nicht zu verausgaben, musste er ihn dosieren. Die Verspäteten nämlich kamen nicht in mehreren kleinen oder gar einer großen Gruppe. Sie kamen alle so nach und nach. Die erste Viertelstunde bewegten sie sich in einer Art losem Gänsemarsch von der Eingangstür auf das Podest zu.
«Stellt euch einfach irgendwohin. Ich werde jetzt für euch nicht noch mal an der Aufstellung arbeiten. Wenn ihr mich von eurem Platz aus nicht seht, habt ihr eben Pech gehabt», sagte Herr Kaiser.
Kein guter Ausgangspunkt, um in Jubiläumsstimmung zu geraten. Ich jedenfalls verspürte nichts dergleichen. Es mochte damit zusammenhängen, dass ich nicht nur keine neue, sondern überhaupt keine Chorkleidung trug. Meine Mutter hatte mir heute nämlich wieder einen kleinen Zusatztermin beschert. Einer, zu dem ich nicht hatte im Anzug erscheinen können. So musste ich gleich im Anschluss an die Generalprobe erst einmal in die Toilette entschwinden und mir den Anzug überstülpen. Das gelang mir erstaunlich schnell. Grund genug, bezüglich des Zustands meines Kragens misstrauisch zu sein. Mein Weg führte mich dann auch sogleich zu Imanuel.
«Du, Imanuel, kannst du mal kurz meinen Kragen richten?»
«Nee, ich mach das nicht mehr, wenn ihr mich immer Meister Pfriemel nennt.»
Ich war mir nicht sicher, ob er wirklich beleidigt war oder nur einen Scherz machte. Ich brauchte mir darüber auch gar keine weiteren Gedanken zu machen. Der Zustand meines Kragens rief nämlich David und Max-Frederick auf den Plan.
«Ey, dein Kragen ist ja mal voll ungeschmeidig, Mann», sagte David.
Max-Frederick bekam einen schweren Lachanfall. Einen, der je mehr ausuferte, desto länger ich unter Davids Anleitung meinen Kragen richtete.
«Sieht schon viel würziger aus», sagte David schließlich. Ein Befund, der nicht nur Max-Frederick lachen ließ, sondern auch David und mich. Uns allen war schließlich klar: Ich würde mich in diesem Leben nicht mehr ändern. Und der Zustand meines Kragens damit auf Dauer genauso wenig.
Durch dieses kleine Intermezzo war ich bei Konzertbeginn bester Laune. Eine Jubiläumsstimmung stellte sich bei mir dennoch nicht ein. Dafür war der Zuschauerraum einfach viel zu leer: Wieder einmal war das Hauptschiff von St. Jacobi gerade einmal zur Hälfte gefüllt. Und von den Leuten, die da saßen, waren wahrscheinlich zwei Drittel Eltern. Welch trauriges Bild die Kirchenbänke ohne sie heute abgegeben hätten, wollte ich mir gar nicht ausmalen.
Unter diesen Bedingungen war es mir nicht möglich, Geist und Körper in den Konzertmodus umzuschalten. Unablässig musste ich entweder niesen oder mich fürchterlich dringend im Gesicht kratzen. Die Ausführung dieser Handlungen auf die Pause zwischen den Stücken zu verschieben, war nicht immer möglich. Ich wartete deshalb, bis Herr Kaiser einen Moment nicht in meine Richtung sah, und ging dann schnell und ohne Skrupel zu Werke.
Unser Chorleiter war wohl zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um irgendetwas zu bemerken. Zufrieden konnte er mit der Leistung des heutigen Tages dennoch nicht sein. Wir begingen einen Fehler nach dem anderen. Die meisten waren darauf zurückzuführen, dass wir einzelne Stellen nicht richtig aus dem Gedächtnis abriefen. Beim O nata lux von Thomas Tallis hatte ich gar einen völligen Blackout. Von einem Moment auf den nächsten wusste ich einfach nicht mehr, wie dieser vermaledeite Text ging. Er war aber auch wirklich ein Phänomen. Aus ganz und gar unerfindlichen Gründen war es unmöglich, ihn auswendig zu lernen. Immer wieder brachte ich die verschiedenen Passagen durcheinander. An der Musik konnte es nicht liegen – die Töne beherrschte ich längst perfekt. Es musste damit zusammenhängen, dass sich der Text – so ganz anders als ich es gewohnt war – nicht in den Tönen wiederfand.
Beim Aspice Pater von Heinrich Schütz hätten Philipp, Imanuel, David, Max-Frederick, Guido und ich eigentlich komplett richtig gesungen. Leider setzte Jürgen an einer Stelle nicht gemeinsam mit uns ein. Und wenn Jürgen nicht gemeinsam mit uns einsetzte, konnte das nur daran liegen, dass wir an der falschen Stelle einsetzten. Wir stellten also verschämt das Singen ein und warteten darauf, dass Papa Jürgen uns den Weg wies. Er wies ihn uns dann auch, nur stellte sich rasch heraus: Wir hatten doch an der richtigen Stelle eingesetzt.
Ich brauchte nicht lange zu spekulieren, was Herr Kaiser in der nächsten Probe dazu sagen würde. Er predigte es ja seit langem: «Ihr könnt euch nicht immer nur auf Jürgen verlassen. Auch Jürgen macht mal Fehler. Jeder ist selbst dafür verantwortlich, dass er an der richtigen Stelle einsetzt. Und wenn einer von euch an der richtigen Stelle einsetzt und außer ihm tut es keiner, dann muss derjenige trotzdem weitersingen. Es muss sich ja nun niemand dafür schämen, ein Stück als einziger richtig zu beherrschen.»
Alles in allem hatten wir uns heute nicht mit Ruhm bekleckert. Meine Mutter klagte auf dem Nachhauseweg dennoch: «Ich finde das so langweilig, dass ihr unter dem schönen Ulrich alles immer so perfekt singt. Man wartet ja wirklich nur darauf, dass endlich mal ein Fehler passiert, damit es mal ein wenig abwechslungsreicher wird.»
«Mama, wir haben heute tausend Fehler gemacht. Hast du die wirklich nicht gehört?»
«Nein, ich habe überhaupt nichts gehört. Vor allem war mir das alles mal wieder nicht emotional genug. Man hat überhaupt nicht das Gefühl, dass ihr von eurer Musik ergriffen seid.»
Den Vorwurf, dass wir unter Herrn Kaiser nicht emotional genug sangen, hatte meine Mutter schon öfter vorgebracht. Um genau zu sein: Sie brachte ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit hervor, also im Grunde immer. Ich konnte das nicht nachvollziehen. Ich für meinen Teil war von unserer Musik ergriffen. Jüngst im Chor verteilte Filmmitschnitte einiger vergangener Konzerte hatten für mich ebenfalls sehr emotional geklungen. Das konnte natürlich damit zusammenhängen, dass ich nur auf meine eigene Stimme achtete. Wie die Knaben klangen, nahm ich kaum war. Dabei waren es wohl sie, auf die meine Mutter und die meisten Zuhörer am meisten achteten.
Ich hatte, wenn ich es so recht bedachte, keine Lust, das Thema zu vertiefen. Deshalb fragte ich: «Warum nennst du Herrn Kaiser eigentlich immer den schönen Ulrich.»
«Ja, er ist doch schön. Oder findest du nicht?»
Eine Bekundung, auf die ich nun wirklich nichts zu erwidern wusste. Zum Glück schaltete sich jetzt mein Vater ein.
«Also den Schütz, dieses Also hat Gott die Welt geliebt, habt ihr wirklich deutlich besser gemacht als beim letzten Mal. Das könnt ihr mittlerweile.»
«Und wie fandst du Cantate Domino und Am Traunsee?»
«Naja, so richtig modern ist dieses Cantate Domino ja nicht und auch nicht so besonders spannend. Für moderne Sachen hat Herr Kaiser irgendwie nicht so ein gutes Händchen wie für Alte Musik. Und was den Traunsee anbelangt, sag mal: Ist das irgendwie Verarschung? Etwas dermaßen Kitschiges habe ich ja noch nie gehört.»
Wie bitte, Am Traunsee, mein allerliebster Lieblingsmännerchorsatz, sollte Verarschung sein? Wie bitteschön kam mein Vater darauf?
Ich kam zu dem Schluss, dass es für heute wohl das Beste war, sich keine weiteren Konzertrückmeldungen von meinen Eltern einzuholen. Ich war beinahe froh, dass meine Mutter nun mit einem ihrer anderen Lieblingsthemen anfing.
«Was ich ja immer nicht verstehe ist, warum Herr Kaiser nicht mit euch beim Deutschen Chorwettbewerb mitmachen will. Technisch seid ihr ja unter ihm wirklich besser geworden und müsstet da doch gut abschneiden. Aber wenn man ihn darauf anspricht, sagt er immer: ‹Solange wir keine Garantie haben, dass wir da gewinnen, lohnt es sich doch überhaupt nicht, dort hinzufahren.› Eine Garantie, zu gewinnen, gibt es aber nicht, die gibt es nie. Die gab es auch unter Frau Siebenkittel nicht. Trotzdem seid ihr hingefahren.»
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Wer in den musikalischen Schwanzlängenvergleich tritt, kann verlieren. Auch dann, wenn er gemeinhin zu den Großen gerechnet wird. Nicht jeder verkraftet das. Das Heil in der Vermeidung zu suchen, kann da eine gangbare Lösung sein. Zeit seines Lebens wollte Johann Sebastian Bach immer den großen Georg Friedrich Händel treffen. Um sich mit ihm auszutauschen. Und natürlich um mit ihm um die Wette zu orgeln. Jedes Mal, wenn er erfuhr, dass es Händel mal wieder nach Deutschland verschlagen hatte, ließ er alles stehen und liegen und sprang in die Kutsche. Und jedes Mal, wenn Händel erfuhr, dass Bach bereits auf dem Weg zu ihm war, ließ er alles stehen und liegen und sprang aufs sichere Schiff nach England. Händel wusste eben, was besser für ihn war. Bekanntermaßen soll sich vor ihm bereits Louis Marchand dem Virtuosen-Wettstreit mit Bach durch Flucht entzogen haben, nachdem er dessen Spiel gehört hatte.