Ausgleichende Gerechtigkeit
Perlen von Holstein Folge 206
Das Konzert des heutigen Abends fand in der Kapelle statt, in deren Gemeindehaus wir auf der Suche nach einem Probenraum Asyl gefunden hatten. Endlich durfte ich es von innen betrachten, das winzigste Gotteshaus, das ich je gesehen hatte. Nach kurzer Begutachtung gelangte ich zu der Feststellung, dass es einrichtungstechnisch den üblichen Kirchenstandards entsprach. Es gab einen prachtvollen Altar und wo Platz war, hatte man Verzierungen angebracht. Die rund acht Kirchenbänke hätte man ebenso auch in jeder anderen Kirche finden können. Sie wären dann wohl lediglich erheblich breiter gewesen. Alles in allem war es also ein ganz gewöhnliches Gotteshaus, in dem man nur eben mit kleinen Dimensionen haushalten musste.
Das galt natürlich auch für den Altarraum. Wir mussten fünf statt der üblichen drei Reihen bilden. Der Platz reichte jedoch immer noch nicht. Herr Kaiser ordnete deshalb an, die Jesusstatue neben dem Taufbecken beiseite zu räumen.
«Jesus wird mir verzeihen», sagte er mit fröhlichem Lächeln.
Kein Zweifel: Unser Chorleiter war heute bester Laune. Dazu hatte er auch allen Grund. Sowohl in der Generalprobe als auch im ersten Teil des Konzerts. Trotz überschaubaren Publikums gaben sich die Knaben Mühe und leisteten sich keine nennenswerten Schnitzer. Mit gutem Gefühl konnten wir auf den hinteren Reihen der Kirchenbänke Platz nehmen.
Der zweite Chor des Abends betrat das Podest. Es war der Knabenchor des Kantors dieser Kapelle. Ebenjener Kantor hatte uns in den vergangenen Tagen nicht nur mit verbindlichem Lächeln im Gemeindehaus proben lassen, er hatte auch Herrn Kaiser an jedem einzelnen dieser Tage im Anschluss zum Essen eingeladen. Es handelte um einen ganz und gar liebenswerten Menschen. Angesichts dessen würde man es ihm kaum verdenken können, wenn sein aus zehn Knaben bestehender Chor uns musikalisch nicht gewachsen sein sollte. Man konnte schwer davon ausgehen, dass dies der Fall sein würde. Zum einen, weil wir bisher fast ausnahmslos jeden Chor an die Wand gesungen hatten. Zum anderen, weil die zehn Knaben schon die ganze Zeit sichtlich nervös gewesen waren. Jetzt, da sie mit Singen an der Reihe waren, stand ihnen die blanke Angst ins Gesicht geschrieben.
Das war wirklich vollkommen außergewöhnlich. Normalerweise bemerkte zwar selbst die halbtaube Omi in der fünften Reihe, dass wir besser als der andere Chor waren, nicht aber dessen Sänger. Ganz gleich, wie unsterblich sie sich auch blamierten, stets strahlten sie eine unerschütterliche Selbstsicherheit aus. Mit diesen zehn Häufchen Elend hingegen konnte man wirklich nur Mitleid haben. Schon ihre Chorkleidung erzählte von Verunsicherung. Einer trug ein lilafarbenes Unterhemd, das unter dem weißen Oberhemd deutlich sichtbar war. Ein Umstand, der ihm offensichtlich mehr als unangenehm war.
Die Aufgabe, dieses Grüppchen zum Klingen zu bringen, war undankbar. Der Kantor meisterte sie bravourös. Mit väterlichem Lächeln hieß er seine Jungen auf dem Podest willkommen und mit väterlichem Lächeln entlockte er ihnen ihren – zugegebenermaßen nicht sonderlich hochwertigen – Gesang. Es war wirklich unglaublich, wie viel man in seiner Situation richtig machen konnte. Noch unglaublicher aber war, wie viel wir in unserer Situation falsch machen konnten. Einige unserer Knaben feixten herum und zeigten den Singenden den gesenkten Daumen. Ich versuchte dagegenzuhalten, indem ich nach jedem Stück anerkennend nickte und noch anerkennender klatschte. Doch auch ich konnte mir den Gedanken nicht verkneifen, dass im dritten Teil des Konzertes wieder wahrer Kunstgenuss geboten werden würde.
Wir sollten für unseren Hochmut teuer bezahlen.
Eine Viertelstunde später waren die zehn Knaben erlöst. Mit väterlichem Lächeln entließ der Kantor sie. Eher beschämt als erleichtert traten sie vom Podest herunter. Nun waren wir wieder an der Reihe. Unser erstes Stück war Ubi Caritas von Maurice Duruflé. Ein Selbstläufer, ja, ein Paradestück unseres Chores. Egal wie schlecht sonst alles lief, dieses Stück lief immer gut. Einfach, weil es uns allen sehr gefiel und sich deshalb immer jeder Mühe bei ihm gab. Immer, außer heute. Wir hatten noch keine drei Töne gesungen, da waren Alt und Sopran auch schon eine übermäßige Quinte gesackt. Wobei man in diesem Falle wahrlich nicht mehr von ‹gesackt› sprechen konnte. ‹Abgesoffen› war der treffendere Ausdruck. Oder ‹untergegluckert›, wie ich gesagt hätte, als ich in dem Alter jener Leichtmatrosen gewesen war, die das zu verantworten hatten. Es half nichts, wir Männer mussten schnellstmöglich ebenso eine übermäßige Quinte sacken, wenn jetzt nicht alles vollständig auseinanderfallen sollte.
Den Rest des Stückes brachten wir annähernd fehlerfrei über die Bühne. Ebenso den Rest des Auftrittes. Wie sollte es auch anders sein? Selbst bei dem abgebrühtesten unserer Knaben saß der Schock wohl gerade tief. Noch nie in meiner gesamten Chorlaufbahn hatten wir uns dermaßen blamiert. Alle Menschen im Publikum, auch die, die nicht die blasseste Ahnung von Klassik oder Chorgesang hatten, dürften es schließlich gehört haben: Das Ubi Caritas, das wir gesungen hatten, war nicht das Ubi Caritas gewesen, das Maurice Duruflé im Sinn gehabt hatte. Ganz und gar nicht.
Ich gab mir alle Mühe, doch nach solch einer Blamage war es mir nicht mehr möglich, mit innerer Anteilnahme zu singen. Ich wollte einfach nur noch heraus aus dieser Kapelle, weg von dem Publikum, das uns in unserer schwärzesten Stunde erlebt hatte.
Philipp mochte sich das gleiche wünschen. Anders als bei mir ging sein Wunsch jedoch in Erfüllung. In einer ganz und gar nicht wünschenswerten Weise. Eigentlich war voriges Jahr das Jahr der Schwächeanfälle gewesen. Durch seinen langen Stimmbruch war es Philipp jedoch nicht beschieden gewesen, im Jahr 2005 bei einem Konzert einen Schwächeanfall zu erleiden. Es war so gesehen nur folgerichtig, dass ihm jetzt einer passierte. Und es traf ihn richtig heftig. Bestimmt eine halbe Minute lag er bewusstlos auf der Kirchenbank herum. Nach dem Konzert konnte er zwar wieder sitzen, seine Haut fühlte sich jedoch an wie tiefgefroren. Wenn ich mir jemals ernsthaft Sorgen gemacht hatte um den leidenschaftlich gern keifenden und doch unverwüstlichen Philipp, dann jetzt.
Der Kantor hätte allen Anlass gehabt, uns zu verachten. Er tat es aber allem Anschein nach nicht. Nach dem Konzert erhielt jeder von uns tschechische Schokolade. Herr Kaiser wurde von ihm abermals zum Essen eingeladen. Bevor sich unser Chorleiter von uns verabschiedete, hatten er und Marc jedoch noch einige Ansagen zu machen. Zuerst war Marc an der Reihe.
«Wie ihr wisst, ist heute unser letzter Abend in Prag. Morgen fahren wir gleich nach dem Frühstück weiter nach Dresden», sagte er gefasst, um dann Akira anzuschreien: «Jetzt halt doch mal die Klappe, da vorne, Mensch! Du hast es heute schon beim Konzert auf die Spitze getrieben!»
Philipp und ich kicherten, obwohl zumindest ich mir nicht sicher war, ob das diesmal wirklich angebracht war. Marc klang nicht wie einer der schreit, um seine Autorität zu wahren. In seiner Stimme hörte ich einen tiefen Ärger. Und schließlich musste auch Herr Kaiser bemerken: «So schlecht wie heute, lief noch nie ein Stück, seitdem ich euer Chorleiter bin. Nicht, weil ihr es nicht besser könntet oder in der Situation gepennt habt, sondern aufgrund eurer Arroganz gegenüber der Leistung des anderen Chores. Ich möchte euch an dieser Stelle einmal ganz klar sagen, dass eine solche Arroganz hier keinen Platz hat.»
«Richtig», sagte David zu mir, «Arroganz hat hier keinen Platz. Arroganz sollte ein Grund sein, jemanden aus dem Chor zu schmeißen. Für mich wäre das ein viel triftigerer Grund, als wenn jemand nicht gut singen kann.»
Recht hatte er wohl. Doch wollte man das konsequent umsetzen, wie viele von uns würden nach dem heutigen Abend noch übrig bleiben?