Fremde Federn

Perlen von Holstein Folge 153

Wir flogen letztlich doch nicht aus der Dresdner Jugendherberge. Personal und Gäste rangen sich dazu durch, uns diese eine Nacht noch zu ertragen. Am nächsten Morgen wurden wir dann ganz ehrenhaft entlassen. So viel Güte musste selbst einen Marc milde stimmen. Großmütig sah er davon ab, den Mitarbeitern gegenüber anzumerken, was er uns gegenüber festgestellt hatte: Einige der heutigen Frühstücksbrötchen waren eindeutig von gestern gewesen.

Zu Fuß ging es zu unserem letzten Auftrittsort dieser Reise: der frisch wiedererrichteten Dresdner Frauenkirche. Wir marschierten am Zwinger und an der Semperoper vorbei. Beides Gebäude von imposanter Größe. Im Zusammenspiel mit den ausgedehnten Freiflächen, die sie umgaben, strahlten sie echte Erhabenheit aus. Das galt umso mehr an einem wolkenlosen Tag wie diesem. Ich fühlte mich ein wenig an meinen ersten Besuch der Höfe des Gilgamesch im Killerspiel Serious Sam: The Second Encounter erinnert. Es fehlten eigentlich nur noch die Menschenleere und die leicht kafkaeske Musik. Weit weg schienen die Plattenbauten, die Autobahnbrücken und was wir sonst bisher in dieser Stadt so zu Gesicht bekommen hatten. Das hier fand ich wirklich beeindruckend. Ein Schauplatz wie geschaffen für ein großes Finale.

Wir trugen bereits unsere Chorkleidung. Damit waren wir ein willkommener Blickfang für sämtliche Touristen, deren Weg wir kreuzten. Für die nämlich war die Sache klar.

«Oh, guck mal, der Kreuzchor

Ich konnte nicht sagen, wie die Chorkleidung des Dresdner Kreuzchors aussah, war mir aber ziemlich sicher, dass sie sich deutlich von der unsrigen unterschied. Beinahe noch sicherer war ich mir, dass dies auch allen Touristenführern zu entnehmen war. Schließlich waren solche meist umfangreich bebildert. Doch was interessierte schon, was in irgendwelchen Touristenführern stand. Viel wichtiger war doch, jedem Menschen erzählen zu können, dass man den Dresdner Kreuzchor gesehen hatte. Man konnte ihnen nur wünschen, dass diejenigen, denen sie später die Fotos von uns zeigten, keine Nachforschungen anstellen würden.

Wir betraten die Frauenkirche durch einen Hintereingang und begaben uns in die Unterkirche. Bei jener handelte es sich um ein katakombenartiges Gewölbe mit mittelalterlichem Charme. Kein Licht und kein Lärm schienen hier hereindringen zu können. Man war völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Ein wunderschönes Ambiente für einen Auftritt, das allerdings nicht das Ambiente unseres Auftritts sein würde. Wir sollten hier lediglich unsere Sachen lagern. Wir verließen also die Unterkirche wieder und begaben uns zur Chorempore.

Der Weg, den wir dabei zurückzulegen hatte, durfte als verschlungen bezeichnet werden. Über eine improvisiert wirkende Wendetreppe ging es hinauf und weiter durch einen schmalen Ging. Jener machte auf mich einen höchst inoffiziellen Eindruck. Er führte direkt durch eine Außenwand der Frauenkirche, hatte weder Fenster noch Beleuchtung und war ohne Form. Man hätte meinen können, dass irgendwer ihn mit einer Spitzhacke hier hineingeschlagen hatte. Dafür sprach, dass er nicht einfach nur ohne Form, sondern hinsichtlich seiner Höhe und Breite recht uneinheitlich war. An einigen Stellen war er so schmal, dass wir seitwärts gehen mussten. Ein Umstand, der selbstredend orgiastische Lachanfälle provozierte.

Auf der Chorempore angekommen, machte sich Herr Kaiser sogleich an die Probenarbeit. Das lockte abermals Touristen an. Zwei von ihnen stellten sich auf eine der gegenüberliegenden Empore und begannen, uns zu fotografieren. Das entfaltete rasch eine höchst ablenkende Wirkung auf die Knaben. Marc machte deshalb kurzen Prozess.

«Würden Sie bitte da weggehen?», rief er, «Es stört unheimlich!»

Eine Äußerung, die zwar freundlich in der Formulierung, nicht aber im Tonfall war. Guido, Philipp und ich bekamen einen orgiastischen Lachanfall.


Nach der Probe begaben wir uns wieder in die Unterkirche. Dort warteten wir auf den Beginn des Gottesdienstes, an dem wir heute mitwirken sollten. Bevor wir nach oben gingen, hielt Herr Kaiser noch eine kleine Ansprache.

«Für Leonard und Georg wird dies heute ihr letzter Auftritt als Knaben sein. Der letzte Auftritt vor dem Stimmbruch. Man hat als Sänger eines Chores in seinem Leben viele Auftritte. An manche erinnert man sich besser, an manche schlechter, an andere womöglich überhaupt nicht. An den letzten Auftritt vor dem Stimmbruch aber werdet ihr euch später alle noch erinnern können. Was dann nämlich folgt, ist ein schwerer Einschnitt. Das Ende des Knabendaseins und der spätere Eintritt in den Männerchor.»

Ich verwunderte mich der Rede. An meinen letzten Auftritt als Knabe konnte ich mich nur sehr, sehr schemenhaft erinnern. Ich konnte nicht einmal mehr sagen, wann und wo der eigentlich genau stattgefunden hatte. Das hatte aber nicht zu bedeuten, dass mein Gedächtnis nachgelassen hätte. Welche Killerspiele ich in fraglichem Zeitraum gespielt hatte, konnte ich noch mit Bestimmtheit sagen. Es hatte wohl vielmehr damit zu tun: Das Interesse, das ich dem Chor in jenen Tagen entgegengebracht hatte, ließ sich treffend durch ein Vakuum beschreiben.

Das war im Übrigen auch der Grund dafür, dass ich wohl der einzige Anwesende war, der die Unterkirche heute zum ersten Mal sah. Vor zwei Jahren nämlich – die Frauenkirche war noch im Wiederaufbau befindlich gewesen – war der Neue Knabenchor Hamburg hier aufgetreten. Ich hätte als Mutant nicht mitwirken dürfen, doch hätte es mir freigestanden mitzukommen auf die Deutschlandtour, von der vor allem David so häufig erzählte. Von dieser Möglichkeit hatte ich keinen Gebrauch gemacht.

Das war vor allem aus Unwissenheit geschehen. Niemand hatte mir damals von der Deutschlandtour erzählt. Herr Kaiser nicht, meine Mutter nicht, niemand. Unser Chorleiter wohl, weil er es vergessen hatte; meine Mutter, weil sie sich die Kosten für eine weitere Chorreise hatte sparen wollen. Deren Höhe war bei ihr nämlich immer wieder ein beliebtes Thema. Doch selbst wenn ich von der Deutschlandtour gewusst hätte: Freiwillig mitgekommen wäre ich ganz bestimmt nicht. Meine kostbaren Herbstferien hatte ich doch lieber mit Dawn of War und Praetorians zugebracht. Eine Einstellung, die ich jetzt tatsächlich irgendwie bereute. Wie viele nostalgisch verklärbare Erlebnisse mir entgangen waren, konnte ich nur schätzen. In jedem Falle verpasst hatte ich jenes Palasthotel, an dem nicht einmal Philipp auch nur das Geringste auszusetzen gehabt hatte.


Als wir erneut die Chorempore betraten, war die Frauenkirche brechend voll. Dabei besaß dieses Gotteshaus eher zu viele als zu wenige Sitzplätze. Zu allen Seiten türmten sich die Emporen übereinander. Auch darüber hinaus war es ein beeindruckendes Gebäude. Es gab Gold und Zierrat, wohin das Auge sah. Nichts erinnerte noch daran, dass hier vor nicht allzu langer Zeit noch eine Ruine gestanden hatte. Wobei, doch: Wenn man ganz nach oben sah, erblickte man einen verkohlten Engelkopf. Er stammte wahrscheinlich aus dem ursprünglichen Bau.

Die meisten der anwesenden Personen waren keine treuen Kirchgänger, sondern Touristen. Ich sah bunte Hemden, Sonnenbrillen und Mützen in echtem Rentnerbeige.

‹Hut ab vor Gottes Angesicht›, hätte Norbert jetzt wohl gesagt. Der aber war vor zwei Monaten aus dem Chor ausgetreten.

Ein ganzes Gotteshaus voller Menschen, die mit Kirche eigentlich nichts am Hut hatten. Für die Kirchenoberen musste sich ein Meer der Möglichkeiten auftun. Das war doch die Gelegenheit, ein paar neue Anhänger zu gewinnen. Nun musste man sich doch nur noch von seiner besten Seite präsentieren.

Man präsentierte sich von seiner denkbar schlechtesten Seite. Bei den ersten Worten der Predigt dachte ich zunächst nur, dass ihr Inhalt schon etwas wunderlich war.

«Wir haben da eine Masseurin in unserer Gemeinde. Wenn man zu der kommt und spürt, wie sie einem mit wohltuenden Händen das duftende Massageöl auf dem Rücken verteilt, dann fühlt man sich gleich ganz entspannt. Dann sind alle Alltagssorgen ganz weit weg.»

Nach rund fünf Minuten leitete er über zu Wunderheilungen, die jüngst in seiner Gemeinde geschehen waren.

«– die Medikamente schlugen nicht an, ihr Arzt gab ihr nur noch wenige Wochen zu leben. In der Stunde ihrer tiefsten Verzweiflung bekam sie Besuch von einem alten Freund. Der setzte sich zu ihr ans Bett, legte seine Hand an ihre und sagte: ‹Gott hilf dir.› Wenige Stunden später hatte sich ihr Zustand deutlich verbessert. Die Medikamente wirkten und nach einigen Wochen konnte sie vollständig geheilt aus dem Krankenhaus entlassen werden.»

Welch ein Glück, dass Predigten nie länger als eine Viertelstunde dauerten. In spätestens zehn Minuten würde der Mann zu Ende erzählt haben.

Der Zeitpunkt des voraussichtlichen Predigt-Endes rückte näher und näher. Und je näher es kam, desto erwartungsvoller stierte ich auf meine Armbanduhr. Die veranschlagte Viertelstunde war bald herum, doch der Mann hatte noch immer nicht zu Ende erzählt. Er redete und redete und redete. Ich spürte, wie sich im gesamten Chor ein immer stärker werdender Unmut breitmachte. Jeder schien sich nur noch eines zu fragen: Wann der Mann an der Kanzel endlich zum Schluss kommen würde.

Fünf Minuten später war es endlich so weit. Der Pastor sprach das erlösende Amen.

Ein Seufzer der Erleichterung ging durch den Chor.

Da brauste die Stimme des Pastors erneut auf.

«Und!», sagte er.

Ein genervtes Stöhnen ging durch den Chor.

Der Pastor aber redete zum Glück nicht mehr lange. Er betonte nur noch einmal die Rolle des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

‹Wie groß ist des Allmächt’gen Güte, wie klein ist uns’re Löhnungstüte›, hätte Opa Max jetzt gesagt.

Eine halbe Stunde später war der Gottesdienst vorbei. Die Touristen durften gehen. Wir hingegen mussten warten, bis der Organist zu Ende gespielt hatte. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wäre der Mann nicht vom gleichen Schlage gewesen wie der Pastor. In betont virtuoser Manier tobte er sich an seinem Instrument aus, ohne dass ein Ende in Sicht gewesen wäre. Als sich dann schließlich doch der langersehnte Schlussakkord anbahnte, baute er eine überraschende Wendung ein und dudelte noch eine Minute weiter.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Angesichts des geringen Kunstverständnisses der meisten Gemeindemitglieder verwundert es schon, wie sehr sich viele Kirchenmusiker auf ihren Orgeln abmühen. Die Kunst scheint ihnen wohl wirklich sehr am Herzen zu liegen. Ums Geld geht es ihnen jedenfalls nicht. Schon Joseph Haydn soll ja bemerkt haben, man könne «mit dem Dudelsack mehr verdienen, als mit Offertorien und Messen.»

Endlich durften wir die Chorempore räumen. Und endlich konnte Max-Frederick sich alles von der Seele reden.

«Ey, das war ja wohl die beschissenste Kackpredigt überhaupt, Mann!», schimpfte er.

Damit bescherte er Philipp und mir ein positives Erlebnis, an dem wir uns laben konnten. Ein Umstand, der sich bei dem uns nun bevorstehenden Martyrium als nützlich erweisen sollte. Herr Kaiser ordnete an, dass wir uns alle zwecks Anfertigung neuer Chorfotos im Altarraum einfinden sollten. Wir trotteten hin und nahmen Haltung an.

Während Heidi uns aus allen denkbaren Perspektiven ablichtete, rottete sich hinter ihr eine Schar ätzend gut gelaunter Touristen zusammen. Mit erwartungsvollen Augen sahen sie uns an. Als wir nach einer Minute noch immer nicht Folge leisteten, fingen sie an zu applaudieren. Herr Kaiser gab natürlich sofort nach; wies uns an, Ubi Caritas, Aller Augen warten auf dich, Herre und Gehe hin in deine Kammer zu singen. Zuletzt traute er sich sogar an Cantate Domino von Miškinis heran. Weil die Intonation dann aber rasch in alle Richtungen entglitt, machte er nach dem ersten Teil ein Zeichen, dass das Stück jetzt zu Ende ist. Der Applaus, unter dem wir die Kirche verließen, zeugte dennoch von ätzend guter Laune.

Draußen sollten wir erneut Haltung annehmen, dieses Mal vor der Martin-Luther-Statue, die neben der Kirche stand. Und schon ging das Spielchen wieder los: Heidi lichtete uns ab, hinter ihr rottete sich eine Schar ätzend gut gelaunter Touristen zusammen, die erst leise, dann lautstark eine Darbietung forderte. Herr Kaiser gab natürlich wieder nach; wies uns an, Es führt über den Main, Nun fanget an und Ach Elslein, liebes Elselein mein zu singen. Zuletzt ließ er sich gar noch etwas ganz Besonderes einfallen.

«So, bevor wir jetzt alle nach Hause fahren», sagte er, «singen wir jetzt noch Innsbruck, ich muss dich lassen auf den Text Dresden, ich muss dich lassen

Ein Einfall, den vor ihm wohl schon tausende und abertausende andere Chorleiter bei Gastspielen in Orten gehabt hatten, deren Namen aus zwei oder auch fünf Silben bestand.

Endlich war es vorbei. Darüber waren wohl nicht nur wir froh, sondern auch die zwei Straßenmusiker mit ihren Panflöten. Denen hatten wir nämlich gerade gewaltig die Show gestohlen.


Die ersten Stunden der Rückfahrt vertrieben wir uns mit dem Singen von Unser Leben ist ein Schatten, Auf einem Baum ein Kuckuck saß und Tomatensalat in Dur und Moll. Als wir keine Lust mehr darauf hatten, war es draußen stockfinster geworden. Das hatte jedoch nicht zu bedeuten, dass wir bald zu Hause waren. Zwar stand im Chorplan, dass wir zwanzig Uhr ankommen würden, doch hatte ich schon genug Chorreisen miterlebt, um zu wissen: Das war mehr als ein grober Richtwert zu verstehen. Wahrscheinlich würden wir wie üblich gegen zweiundzwanzig Uhr da sein. David jedoch ließ den Kopf nicht hängen. Er stiftete mich an, mit ihm einen kleinen, verlogenen Motivationsgesang zu singen.

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Zweieinhalb Stunden später war es dann tatsächlich so weit: Die wohl verrückteste Reise meiner Chorlaufbahn war zu Ende.