Kollektive Ekstase
Perlen von Holstein Folge 154
November 2006
Bei der ersten Probe nach den Ferien wurde ich zuerst von Max-Frederick begrüßt.
«Na, Mann, alles klar?», fragte er.
Bevor ich jedoch irgendetwas erwidern konnte, stieß Philipp zu uns. Er war nicht außer sich vor Wut, schimpfte aber trotzdem.
«Alter, das ist so scheiße!», sagte er.
Und schon bekam ich den ersten Lachanfall des Tages. Max-Frederick lachte ebenso. Allerdings nicht über Philipp, sondern über mich.
«Hihihi, er lacht schon, bevor du überhaupt gesagt hast, was los ist, hihihi!»
Ja, wieso sollte ich das auch nicht tun? Es gab für mich bekanntermaßen kaum etwas Komischeres als Leute, die sich theatralisch über Dinge aufregten. Und wenn einer Meisterschaft darin besaß, sich theatralisch über Dinge aufzuregen, dann war das Philipp. Ich konnte also bedenkenlos loslachen, bevor er überhaupt den ersten Satz zu Ende gesprochen hatte. Andererseits brachte ich mich so um den eigentlichen Gag. Statt sich nämlich weiter in Rage zu reden, lachte Philipp jetzt ebenso.
Ich öffnete indes meinen Rucksack und zog die Cola heraus, die ich mir vorhin am Bahnhof gekauft hatte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mir ein paar kräftige Züge von ihr zu gönnen, doch dazu kam es nicht. Kaum nämlich hatte ich die Flasche in einer geschwinden Bewegung an meinen Mund geführt, da flüsterte Max-Frederick: «Sucht!» Der unweigerlich folgende Lachanfall machte jedes Trinken unmöglich.
Pascal gesellte sich zu uns.
«Ey, Lennart», sagte er. Er setzte ein schelmisches Grinsen auf und reichte mir die Hand. Ich erwiderte das nicht. Ich wusste, worauf es hinauslaufen würde.
«Ey, nee, du ziehst doch nur wieder weg», sagte ich.
«Na, und? Wenn jemand einem die Hand geben will, muss man drauf eingehen, egal, was er dann macht!»
Ich streckte meine Hand nach seiner aus, zog dann aber im letzten Moment zurück. Pascal grinste noch schelmischer.
«Na, los!», sagte er.
Einige Sekunden stand ich regungslos da. Dann, als Pascal nicht damit zu rechnen schien, versuchte ich, seine Hand zu greifen. Er jedoch war wie üblich schneller. Schelmisch grinsend zog er seine Hand weg und streichelte sich mit ihr durchs Haar.
«Haha», sagte er. Sein schelmisches Grinsen wich einem kumpelhaften.
«Oh, Mann, ey: Voll verarscht!», erwiderte ich im grellen Proleten-Falsett. Dabei deutete ich anerkennend mit dem Finger auf Pascal.
«Ey, Lennart», sagte Philipp, «wie weit bist du eigentlich mit Call of Juarez?»
«Das hatte ich nach zwei Tagen durchgespielt», erwiderte ich, «War jetzt auch nicht so lang. Die Schleichpassagen waren nur ein bisschen ätzend, deswegen hing ich manchmal fest.»
«Oh, Mann, ich sitze noch immer an Far Cry.»
«Tja, kann halt nicht jeder so gut wie ich sein. Ich habe dafür damals auch nur zwei Tage oder so gebraucht.»
Und damit hatte ich endlich jene Art Satz gesagt, auf die Philipp die ganze Zeit gewartet hatte. Sagte ich nämlich jene Art Satz, konnte er endlich Folgendes äußern: «Na, und? Glaubst du, du hast jetzt Macht hier?» Worauf ich dann erwiderte: «Ja, das glaube ich allerdings.» Und schon pressten wir wie zwei Stiere unsere Schädeldecken aneinander. Weil wir aber keine Stiere, sondern Menschen waren, kämpften wir nicht, um einen Sieger zu ermitteln. Wir kämpften um des Kämpfens Willen.
Vergleichsweise feinsinnig fiel da die Begrüßung Davids aus. Er hatte eine von Frau Siebenkittels Einsingübungen auf den Lippen, das berühmte Momomomomom. Ich sang mit. Als wir fertig waren, äffte ich den Klang des Klavieres nach, der sagen sollte: Jetzt noch einmal einen Halbton höher. David leistete nur zu gerne Folge. Wir sangen die Übung noch einmal einen Halbton höher. Den nächsten Klavierton äfften wir gemeinsam nach. So steigerten wir uns Halbton um Halbton. Mit jedem Durchlauf wurden unsere Stimmen krächzender, der Trubel größer, der Lachanfall schwerer unterdrückbar. Wir hörten erst auf, als das Ende unseres Ambitus definitiv erreicht war.
In der Probe vermischte sich Altvertrautes mit Neuem. Die Knaben wurden zu tief, von Herrn Kaiser dafür ausgeschimpft, derweil Max-Frederick vor sich hin fluchte: «Scheiß-Knaben, wieder nur am Verkacken!» Philipp tat im Grunde das gleiche, bediente sich aber subtilerer Methoden: Bevor die Knaben einsetzen, legte er die Hand hinter das rechte Ohr, um demonstrativ zu lauschen. Als sie dann die ersten drei Töne gesungen hatten, stellte er trocken fest: «Schon zu tief.» Ich lachte mich halb tot.
Wirklich los ging der Spaß jedoch erst im zweiten Teil der Probe. Die Knaben waren weg und wir Männer mit uns alleine. Philipp, David, Max-Frederick und ich rutschten dicht zusammen. Die ersten Minuten der Männerprobe lachten wir, ohne wirklich zu wissen, warum. Dann jedoch machte Philipp eine Entdeckung.
«Und diese vorteilhaft angebrachte Steckdose», sagte er. Er deutete an die Decke. Tatsächlich: Dort oben, in etwa zwanzig Metern Höhe, befand sich eine Steckdose. Sie war dort mutterseelenallein. Es gab kein Gerät, das an sie angeschlossen war und keines, das theoretisch an sie hätte angeschlossen werden können. Eine Leiter, um ein Gerät in ihre Nähe zu bringen, gab es ebenso wenig. Es gab auf der Welt wohl keinen Ort, an dem eine Steckdose weniger Sinn ergab als an der Decke dieses Raumes. Zumindest in unseren Augen. Zwergo nämlich hatte eine Erklärung.
«Leute, das ist für die Traverse –»
Er hatte wohl gehofft, die Ordnung wiederherstellen zu können. Hoffnungen, die sich als unbegründet erwiesen. Das breite Hamburger E, mit dem er das Wort Traverse ausgesprochen hatte, befeuerte unsere Lachtiraden eher noch. Erst Herrn Kaiser gelang es, uns Einhalt zu gebieten. Gezielt griff er das schwächste Glied an.
«Philipp, lässt du mich jetzt bitte proben?», schimpfte er.
Hätte er etwas Derartiges zu David, Max-Frederick oder mir gesagt, hätte er sich sicher sein können: Er würde eine angemessene Reaktion erhalten. Wenn nicht jetzt, dann irgendwann später. Philipp jedoch war noch nicht lange genug im Männerchor, um zu wissen, dass Herr Kaiser hier zwar oft genug bellte, niemals aber ernsthaft biss. Es war schließlich so: Knaben gab es wie Sand am Meer. Für jeden gab es tausendfach Ersatz. An Männern standen hingegen nur die zur Verfügung, die eben zur Verfügung standen. Wir waren überdies das Ergebnis jahrelanger liebevoller Zucht. Arbeit, die man nicht einfach so wegwarf. Deswegen würde Herr Kaiser dem guten David noch so oft androhen können, dass er ihn wegen seiner ständigen Verspätungen noch eines Tages aus dem Chor werfen würde. Wahrmachen würde er diese Drohung nicht. Das wusste David und das wusste Herr Kaiser. Nur Philipp, der wusste so etwas noch nicht. Statt mit Spitzen reagierte er mit Gekränktheit. Fürs Erste herrschte Ruhe.
Unser Chorleiter traute dem Frieden nicht. Fast ununterbrochen ließ er uns singen. Er glaubte wohl, dass uns das disziplinieren würde. Das Gegenteil war der Fall: Die Vibrationen in meinem Brustkorb und unter meinem Becken steigerten meine Euphorie. Und mit ihr steigerte sich meine Lust, Unfug zu treiben. Verstärkt wurde dies dadurch, dass wirklich nur Herr Kaiser es für ein Gerücht hielt, dass wir Männer in der Probe nicht so gerade sitzen mussten wie die Knaben. Ich saß da, wie ich wohl schon immer dagesessen hatte: Mit dem Hintern auf der vorderen Stuhlkante, mit dem Schultergürtel an der Lehne. Eine Sitzhaltung, die den Vibrationen in meinem Körper wunderbar förderlich war. Nur wenige Minuten fast ununterbrochenen Singens genügten, mich in einen vollendeten Rauschzustand zu versetzen. Den anderen schien es ähnlich zu gehen. Philipps Ärger jedenfalls war rasch verflogen.
Wir probten Tollite Hostias von Camille Saint-Saëns. Ein Stück mit ausgeprägtem Gassenhauser-Potential. Die betont festliche Basslinie bestand fast durchweg aus Tönen, die ziemlich nah beinander lagen. Natürlich gab es auch einen besinnlichen Mittelteil, an dem wir aber kaum beteiligt wurden. Kurzum: Es war endlich mal wieder ein Stück, das man nach Herzenslust grölen konnte. Genau das taten wir. Was bei meinen Sangesbrüdern für so viel Ausgelassenheit sorgte, begriff ich jedoch erst mit der Zeit: Es war meine Angewohnheit, den letzten Ton einer Phrase besonders hervorzuheben. Was für unseren Chorleiter ärgerlich war, wäre für Philipp beinahe tödlich geendet. Er wand sich lachend hin und her und niemand vermochte zu sagen, ob er zwischendurch auch atmete.
Das nächste Stück war Hosianna dem Sohne Davids von Bartholomäus Gesius. Ein Werk, das ich an und für sich gut leiden mochte, wäre da nicht dieser entsetzlich hohe Anfangston gewesen.
«Um die Uhrzeit schaffen wir den Ton aber nicht mehr», sagte ich.
Philipp lachte.
Ich sang den Ton dann natürlich trotzdem voller Innbrunst. Hosianna dem Sohne Davids war wie gesagt ein Stück, das ich gut leiden mochte. Alleine schon, weil sein Komponist einen solch bemerkenswerten Namen hatte: Bartholomäus Gesius. Das passte wunderbar zu Weihnachten und das passte wunderbar zu einem Stück, dessen Text wohl nach dem Motto gewählt worden war: Egal, Hauptsache festlich und irgendwie weihnachtlich. Dementsprechend wurde in den Tönen kaum Bezug auf ihn genommen. Auch sie waren vor allem festlich und dadurch irgendwie weihnachtlich. Ich ließ mich von heute aufs Äußerste von ihnen mitreißen. So sehr, dass mir für den Bruchteil einer Sekunde die Stimme wegbrach. Philipp und Max-Frederick kippten vor Lachen beinahe von ihren Stühlen.
Die Probe war zu Ende, doch unser Sangesdurst war noch lange nicht gestillt. Weil das seit geraumer Zeit jede Woche so war, hatten wir uns ein kleines Ritual einfallen lassen.
«Los, Treppenhauskonzert!», sagte David.
Neben der Pythagoreischen Treppe verfügte das Gebäude der Jugendmusikschule auch über ein stinkgewöhnliches Treppenhaus. Man konnte es durch einen Hintereingang direkt betreten, ohne auch nur in die Nähe der Pythagoreischen Treppe zu gelangen. Das war gut. Letztere in unserem Zustand benutzen, wäre wohl ein lebensgefährliches Unterfangen gewesen. Außerdem bot das Treppenhaus eine grandiose Akustik, die unsere Stimmen auch in den letzten Winkels des Gebäudes trug.
Wir begaben uns also von unserem Probenort, der Fremdsprachenschule, zu besagtem Treppenhaus und sangen Am Traunsee. Dann gingen wir in den ersten Stock, lagerten unsere Notenmappen in dem bereitstehenden Schrank ein und kehrten ins Treppenhaus zurück. Wir verließen es jedoch nicht, ehe wir nicht noch Wer nur den lieben Gott lässt walten angestimmt hatten. Auf dem Weg zum Vorderausgang der Jugendmusikschule sangen wir dann noch ein wenig einen Männerchorsatz von Zu Bethlehem geboren. Hierfür wurden wir von einigen herumstehenden Mädchen eifrig beklatscht. Ein Motivator, dessen wir gar nicht bedurft hätten. Wir hätten so oder so auch im Bus weitergesungen.
Diese Woche stand Dixit Maria von Hans Leo Hassler auf dem Programm. Das Stück genoss, seitdem Max-Frederick es in Prag so wüst beschimpft hatte, Kultstatus. Dabei waren wir oder zumindest ich damit inzwischen warm geworden. Das galt weniger für den Anfangsteil, der wirklich etwas öde war. Der zweite Teil war dafür umso spannender. Er begann mit den Worten Ecce ancilla domini und kam zunächst genauso unterkühlt-intellektuell daher wie der erste Teil. Dann jedoch wurden die Worte wiederholt und mit einem Male kamen Emotionen ins Spiel. Das geschah so plötzlich und so intensiv, dass es einen völlig von den Socken riss. Welcher Art die Emotionen waren, konnte ich kaum sagen, nur, welche Bilder sie in mir hervorriefen: Die eines gottesfürchtigen Menschen, der in den Ruinen einer italienischen Sandsteinkirche ergriffen zum Himmel blickt.
Selbstredend, dass wir heute im Bus nicht den ersten, sondern nur den zweiten Teil des Stücks sangen. Wir taten das allerdings nicht wegen der unverhofft emotionalen Stelle. Uns ging es um das, was auf sie folgte. Wir grölten es durch den ganzen Bus: «Se! Cun! Dum! Ver! Bum! Tu! Um!» Was folgte, war nämlich eine Phrase, die aus sage und schreibe sieben aufeinanderfolgenden halben Noten bestand. Sechs dieser sieben halben Noten waren tiefe Ds. Es kam also sechs Mal hintereinander der gleiche Ton mit dem gleichen stumpfen Notenwert. Für uns eine schriftliche Einladung, jede einzelne Silbe von Secundum verbum tuum gleich übertrieben zu betonen.
Wie gerne hätten wir noch stundenlang weiter derartige Späße getrieben. Anders als die Fahrt von Hamburg nach Prag dauerte die von Alsterchaussee bis Schlump jedoch nur wenige Minuten. Für heute war der Spaß vorbei. Doch schon nächste Woche würde er weitergehen.