Vergebliches Sehnen

Perlen von Holstein Folge 155

Die diesjährige Weihnachtssaison bescherte uns eine Neuerung. Das war an sich nichts Aufsehenerregendes mehr. Seitdem Herr Kaiser unser Chorleiter war, war auch und gerade das Weihnachtsprogramm nicht mehr von grundlegenden Veränderungen ausgenommen. Jeder hatte das inzwischen begriffen. Und deshalb hätte sie eigentlich niemanden überraschen sollen, die Revolution, die da über uns hereinbrach.

Unser großes Weihnachtskonzert in St. Jacobi und St. Johannis-Harvestehude würde nicht mehr In dulci jubilo – heißen. Das irritierte die Knaben erstaunlicherweise weit mehr als uns. Herr Kaiser erklärte ihnen deshalb den ganz pragmatischen Grund, den das hatte.

«Naja, wir werden dieses Jahr das Lied In dulci jubilo nicht im Programm haben und es wäre doch unsinnig, dann das Konzert danach zu benennen.»

«Warum singen wir denn dieses Jahr nicht In dulci jubilo?», fragte ein Knabe.

«Weil ich kein Stück länger als zwei Saisons im Programm haben möchte.»

Ich hätte nun anmerken können, dass wir das Stück seit Herrn Kaisers Amtsantritt doch aber bereits drei Saisons im Programm gehabt hatten: 2003 im Satz von Johann Sebastian Bach, 2004 und 2005 wieder in der altvertrauten Fassung von Michael Praetorius. Gestört hatte sich daran niemand. Ich hätte in diesem Zusammenhang anmerken können, dass es von einem derart bekannten Weihnachtslied doch bestimmt noch mehr Sätze gab. Einen erfrischend neuen oder zumindest nicht vollkommen abgenudelten zu finden, sollte doch eigentlich kein Problem darstellen. Ich hätte anmerken können, dass Es ist ein Ros entsprungen, Es kommt ein Schiff, geladen und Fröhlich soll mein Herze springen doch auch im Programm geblieben waren. Und die sangen wir damit bereits die vierte Kaiser-Saison in Folge. Ich merkte dies aber nicht an. Anders als die Knaben wusste ich: Herr Kaiser würde nicht ruhen, ehe der letzte ihm alt erscheinende Zopf abgeschnitten war. Anders als die Knaben begriff ich, worum es unserem Chorleiter eigentlich ging.

Der neue Name unseres großen Weihnachtskonzertes war Es singt und klingt mit Schalle. Herr Kaiser war bei seinen Recherchen zufällig auf das gleichnamige Lied gestoßen und sofort hingerissen gewesen. Es wurde auf die Melodie des Quempas gesungen, dem Weihnachtslied Quem pastores laudavere. Jenes war angeblich weltbekannt, mir jedoch kein Begriff.

Von Es singt und klingt mit Schalle gab es keinen mehrstimmigen Satz. Man hätte nun ganz einfach einen von Quem pastorem laudavere nehmen können. Diese waren jedoch aus welchen Gründen auch immer nicht mit Es singt und klingt mit Schalle kompatibel. Wir mussten das Lied also einstimmig singen. Das missfiel durchaus nicht nur uns Bässen, die wir unter den hohen Tönen der Melodie sehr zu leiden hatten. Auch bei allen anderen stieß das Werk auf wenig Gegenliebe. Allzu bieder war der Kirchenlied-Charme, der von ihm ausging. Herr Kaiser würde sich jedoch nicht davon abbringen lassen, es mit uns zu singen. Er hatte das Stück nämlich vor allem deshalb gewählt, weil sein Titel so gut zum neuen Konzept passte. Mit dem Konzertnamen In dulci jubilo nämlich würde noch eine weitere Tradition verschwinden: Die Lesung.

Die Lesung war in meinen Augen nie das Highlight gewesen, als das sie stets vermarktet worden war. Trotzdem war sie als Tradition so groß, dass selbst ein Herr Kaiser sich nicht traute, sie sofort gänzlich abzuschaffen. In St. Jacobi würden auch dieses Jahr wieder Gedichte und Geschichten vorgetragen werden. In St. Johannis hieß es hingegen: Es singt und klingt mit Schalle. Wir würden von einem vierstimmigen Blechblasensemble begleitet werden. Für den Fall, dass das beim Zuhörer auf positives Echo stieß, würde auch die altehrwürdige Jakobikirche mit dieser Neuerung fertig werden müssen.

So reizvoll ich die Vorstellung fand, Fröhlich soll mein Herze springen einmal mit Blechbläsern zu hören: dass Herr Kaiser so viel Aufsehen darum machte, fand ich doch ein wenig albern. In meiner Erinnerung hatten wir in meinen ersten Jahren beim Knabenchor in St. Jacobi beides gehabt: Vorlesung und Instrumentalbegleitung. Frau Siebenkittel hatte nie ein Wort zu den vier Damen mit ihren Streich- und Holzblasinstrumenten verloren. Wir hatten ihre Gegenwart ebenso wortlos zur Kenntnis genommen. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, dass wir das Zusammenspiel mit ihnen großartig geübt hätten. Es hatte auch so geklappt.


So viele Neuerungen sollten natürlich nicht bedeuten, dass nichts mehr wie früher war. Es ist ein Ros entsprungen, Es kommt ein Schiff, geladen und Fröhlich soll mein Herze springen waren uns, wie gesagt, erhalten geblieben; ebenso Wie soll ich dich empfangen und Uns ist geboren ein Kindelein. Und was neu war, musste ja nicht unbedingt schlecht sein. Ich steh an deiner Krippen hier von Johannes Eccard zum Beispiel gefiel uns überaus gut. Wobei: Wirklich neu war das ja nicht. Zumindest nicht der Text. Ohne ihn je gesungen zu haben, kannten wir ihn alle mehr oder weniger auswendig. Bachs berühmte Herzschmerz-Vertonung musste man dafür ja nun auch kaum mehr als einmal gehört haben. Es war allerdings festzustellen, dass sich Eccards Fassung deutlich von ihr unterschied. Wo Bach in bittersüßem Moll die leidenschaftliche Hingabe eines Einzelnen erlebbar machte, griff Eccard auf ruhige Dur-Klänge zurück. Sie sollten wohl sagen: Ich muss niemandem beweisen, dass ich meine, was ich sage. Selbst davon überzeugt zu sein, genügt mir vollkommen.

Als Herr Kaiser uns ersten Bässen eröffnet hatte, dass wir in dem Stück den zweiten Bass mitsingen würden, war unsere Begeisterung darüber eher verhalten gewesen. Wir besaßen schließlich alle so etwas wie Standesbewusstsein. Bald aber hatten wir Gefallen gefunden an dem tiefen Brummton, aus dem die Linie des zweiten Basses größtenteils bestand. Er war so tief, dass wir ihn gerade noch singen konnten. Damit eignete er sich wunderbar zur Intonationskontrolle: Wurden wir zu tief, bekamen wir den Ton nicht mehr, wurden wir zu hoch, schafften wir ihn plötzlich ohne Probleme. Natürlich konnte diese Prüfmethode nur zu Beginn der Probe wirklich zuverlässige Ergebnisse abliefern: Nach zwei Stunden des Überenthusiasmus waren wir zuweilen so heiser, dass wir auch bedeutend tiefere Brummtöne mühelos geschafft hätten.

Alles in allem war diese Weihnachtsaison eine schöne Zeit. Vielleicht die schönste meiner gesamten Chorlaufbahn. Eines aber fehlte mir auch dieses Jahr: Das Gefühl von Farbe, Freude und Festlichkeit, das Weihnachten mit dem Knabenchor früher immer so ausgezeichnet hatte. Letztes Jahr hatte ich das noch auf die Aktion meiner beiden Schulkameradinnen zurückführen können. Jetzt war mir das nicht möglich. Jetzt hatte ich selbst in der Schule im zwischenmenschlichen Bereich keine nennenswerten Probleme. Ich musste der Wahrheit wohl ins Auge sehen: Die Farbe, Freude und Festlichkeit war verloren. Ich war ihr mit meinen achtzehn Jahren womöglich einfach entwachsen. In Zukunft würde Weihnachten nur noch die Zeit der Weihnachtslieder sein. Mehr auch nicht.