Den Schalk im Nacken
Perlen von Holstein Folge 157
Der kleine Probenraum des Sunderhofs war nur unbedeutend größer als der Raum, in dem wir in Maschen stets geübt hatten. Ein interessantes Merkmal war, dass er neben dem Klavier ein Rednerpult aufwies. An ebendiesem Rednerpult klebte das Logo von CVJM, dem Betreiber des Sunderhofs. Es ließ interessante Rückschlüsse darauf, was in diesem Raum außer Proben noch so abgehalten wurde. Momentan aber hätte Herr Kaiser vielleicht einen Anlass gehabt, sich hinter das Pult zu stellen. Er hatte nämlich viel zu erzählen.
«– ja, ich weiß, dass ich wieder hunderttausend E-Mails bekommen werde, weil ich das jetzt sage –»
Es war seit einiger Zeit ein Dauerthema in Chorproben: Jedes Mal, wenn Herr Kaiser sich zu einer kleinen Derb- oder Grobheit hinreißen ließ, wurde er von den Chormuttis mit empörten E-Mails überflutet. ‹Zitierfähig und nicht zitierfähig›, wie unser Chorleiter feststellte. Meinen wiederholten Aufforderungen, uns doch zumindest die zitierfähigen E-Mails einmal vorzulesen, kam er jedoch nicht nach. Stattdessen klagte er seinen Kummer. Klagte ihn uns und nicht den Chormuttis. Er wusste letztlich eben doch, was besser für ihn war.
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Ludwig van Beethoven war bekanntermaßen jemand, der jeden so behandelte, wie er es für richtig hielt. Als besonders roh galt er gegenüber Bediensteten, denen er mit übergesundem Misstrauen begegnete. Sein Kopist Ferdinand Wolinek hatte die Schnauze alsbald gestrichen voll. Er bat Meister Beethoven in einem Brief höflich darum, sich doch bitte etwas zu mäßigen. Beethoven kommentierte dieses Schreiben wie folgt: «Schreib=Sudler! Dummer Kerl! Korrigiren sie ihre durch Unwissenheit, Übermuth, Eigendünkel u. Dummheit gemachten Fehler, dies schikt sich beßer, als mich belehren zu wollen denn das ist gerade, als wenn die Sau die Minerva lehren wollte.»
Kam Herr Kaiser auf die Chormuttis zu sprechen, wurde es meist ein etwas längerer Vortrag. So gesehen hätte es sich angeboten, dass er sich hinter das Rednerpult stellte. Andererseits war das etwas, das sich angesichts seines Vortragsstils strikt verbot, denn, nun ja: Stand-up-Comedy betrieb man nicht von einem Rednerpult aus. Und Stand-up-Comedy wurde ganz schnell daraus, wenn er von Chormuttis sprach.
«Warum muss er denn Noten lesen können? Er will doch nur singen!», äffte er die typische Chormutti am Telefon nach. Mit boshafter Brillanz fing er den Tonfall einer hysterischen Frau ein, die wollte, dass ihr kleiner Engel achtstimmige polyphone Motetten sang, aber allen Ernstes meinte, er würde diese durch bloßes Nachsingen erlernen.
Der gesamte Chor lachte sich krumm und schief.
Herr Kaiser aber war noch lange nicht fertig. Jetzt kam er auf die wiederholt geäußerte Kritik an der neuen Chorkleidung zu sprechen.
«Ach, lassen Sie die Kinder doch wieder in den roten Pullovern singen, Herr Kaiser, das war doch viel süßer!»
Ich hatte Herrn Kaiser jüngst angedroht, dass ich eines Tages eine Videokamera mit zur Probe nehmen und jede seiner Stand-up-Einlagen filmen würde. «Das kannst du gerne machen, Lennart», hatte er nur erwidert. Offenbar wollte er wirklich, dass einmal alle Menschheit erfuhr, was für Chormuttis bei einem Knabenchorkonzert der ergreifendste Moment ist.
«Hach! Wenn dann der Solist ganz alleine da vorne steht mit so roten Wangen mit so kleinen Grübchen – Hach, das ist so süß!»
Natürlich wollte unser Chorleiter nicht nur unterhalten, er wollte vor allem auch pädagogisch auf uns einwirken. Seine Stand-up-Comedy war so gesehen Edutainment. Ein mustergültiges Beispiel für diesen Umstand lieferte er heute.
«Natürlich könnt ihr das so singen. Dann sagen die Leute halt: ‹Hach! Sie singen wie die Engel. So körperlos – so putzig!› Aber ist es denn das, was ihr wollt? Wollt ihr nicht viel lieber gemeinsam mit mir eine Leistung erbringen, auf die wir selbst stolz sein können, auch wenn die Leute den Unterschied vielleicht nicht hören?»
Wie das bei Edutainment aber häufig so ist, blieb bei uns vor allem die Show hängen und weniger der darin vermittelte Bildungsinhalt. Philipp und ich sollten uns noch den Rest unserer Chormitgliedschaft ergötzen an diesem: ‹Hach! Sie singen wie die Engel. So körperlos – so putzig!› Diese Äußerung war vor allem deswegen so witzig, weil sie formal so misslungen war. Herr Kaiser hatte ‹so körperlos› gesagt, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass wir natürlich nicht wie die Engel sangen, sondern so ziemlich alles falsch machten. Den Regeln der Rhetorik entsprechend hätte er nun ein Wort verwenden müssen, dass dies noch weiter verdeutlichte. Leider war ihm keines eingefallen. Deswegen hatte er kurzerhand zu putzig gegriffen. Ein Begriff, den er offenbar dem typischen Chormutti-Wortschatz entnommen hatte.
Leider, leider waren die Stand-up-Einlagen unseres Chorleiters am Ende dann doch immer viel zu kurz. Bald schon probte er weiter und rügte unsere Verfehlungen wieder in althergebrachter Weise.