Eskalierende Traditionen
Perlen von Holstein Folge 160
Der Heiligabend war gekommen und mit ihm der Familiengottesdienst in St. Jacobi. Eine Veranstaltung, bei der seit jeher mehr der Spaß als die Musik im Vordergrund gestanden hatte. Niemand von uns kam mit der Absicht hier her, heute noch einmal alles zu geben. Die meisten von uns freuten sich vor allem auf das traditionelle Schunkeln beim letzten Gemeindelied. Der Familiengottesdienst in St. Jacobi hatte alle Jahre wieder eine mehr oder minder schwere Partystimmung verheißen. Und somit musste er in Zeiten wie diesen beinahe zwangsläufig in einem Exzess enden.
Der Spaß ging heute schon los, bevor der Gottesdienst überhaupt begonnen hatte. Wir standen auf der Empore und probten, als eine junge Frau auf Herrn Kaiser zutrat. Sie trug einen unterwürfigen Pferdeschwanz, eine unterwürfige Bluse und einen unterwürfigen Blümchenrock.
«Wer ist das denn?», sagte ich.
Dem orgiastischen Lachen meiner Sangesbrüder durfte ich entnehmen, dass sie das wohl gehört hatte. Ich konnte also ruhig weitermachen.
«Das hier sind die Karten für die Kinder», sagte sie.
«Ach!», rief ich, «Und wir kriegen keine? Das finde ich jetzt aber mal unfair.»
Meine Sangesbrüder lachten orgiastisch. Die Frau drückte Herrn Kaiser die Karten in die Hand und machte, dass sie davonkam.
Bei den ‹Karten› handelte es sich um bunte Heftchen, von denen natürlich auch wir Männer welche abbekamen. Genauer inspizieren konnten wir sie allerdings nicht. Herr Kaiser ordnete an, sie bis zum Beginn des Gottesdienstes wegzuräumen.
Der Gottesdienst startete mit der Orgelfassung von The Arrival of the Queen of Sheba von Georg Friedrich Händel. Ein Stück, das bei uns einen geradezu legendären Ruf genoss. Meister Jünne hatte es vor, nach und während der Amerika-Reise zu jedem Anlass gespielt. Wir alle kannten es in- und auswendig. Dementsprechend gut konnten wir nun hören, wie schlecht Kirchenmusikdirektor Rudolf Kelber es spielte. Jeder einzelne Übergang wurde von ihm konsequent versemmelt. Und die von ihm gewählten Registrierungen konnten eigentlich nur als befremdlich bezeichnet werden. Zu unserem orgiastischen Lachen darüber gesellte sich die Frage, wie das eigentlich sein konnte. Der Mann war ein international gefeierter Orgel-Virtuose. Ich konnte es mir nur damit erklären, dass er diese Veranstaltung ebenso nicht über Gebühr ernst nahm.
In früheren Jahren war der Familiengottesdienst noch ein Gottesdienst im eigentlichen Sinne gewesen. Mit anderen Worten: Es hatte eine Predigt mit einer Dauer von einer Viertelstunde gegeben. Das war seit einiger Zeit vorbei. Die Predigt war drastisch verkürzt worden. Kaum hatte sie angefangen, war sie auch schon wieder zu Ende. Ihren Platz nahmen die kindgerechten Erläuterungen ein. Sie waren seither erheblich ausgeweitet worden.
«Ihr habt ja am Anfang alle so ein buntes Heftchen bekommen», sagte der Pastor, «Das könnt ihr jetzt alle einmal aufschlagen und die erste Seite betrachten. Der Junge, den ihr seht, das ist der Hirte Benjamin. Der hat, wie alle anderen Hirten, von der Geburt des Jesuskindes erfahren und möchte nun natürlich auch mit seinen Tieren zu der Krippe wandern.»
Der Hirte Benjamin hatte große, kreisrunde Augen ohne Lider. Sein Blick glich dem eines Psychokillers in einem schlechten Horrorfilm. Ein Umstand, der unser orgiastisches Lachen geradezu herausforderte.
«Hahaha, der Hirte Benjamin mit dem Psycho-Blick, hahaha!»
Für ähnlich viel Heiterkeit sorgten heute sämtliche Gemeindelieder. Wir grölten sie, als würden wir uns in den letzten Sitzreihen eines Reisebusses befinden. Und natürlich ließen wir es uns nicht nehmen, auch dieses Jahr wieder ausgelassen zu schunkeln. Zeitweise trieben wir es so heftig, dass das Quietschen der Bank das Dröhnen der Orgelpfeifen übertönte. Denjenigen, die unter uns saßen, blieb in solchen Augenblicken wohl nur ein Trost: Diese Kirche hatte in sechshundert Jahren schon ganz anderen Belastungen standgehalten.
Nach dem Gottesdienst wurden im Saal neben der Empore die diesjährigen Weihnachtsgeschenke des Chores verteilt: Stimmgabeln und Weihnachtsmützen. Wie ich dann später unseren Chorleiter mit offenem Sakko alleine vor mir sitzen sah, konnte ich der Versuchung nicht wiederstehen. Ich nahm meine Weihnachtsmütze und zog sie ihm über. Herr Kaiser nahm das äußerst gelassen. Er ließ sich sogar bereitwillig von Zwergo fotografieren.
Den Vogel schoss aber nicht unser Chorleiter ab, sondern einmal mehr der gute David. Dies gelang ihm, indem er sich einfach nur einen Stuhl setzte und in sein Sandwichbaguette biss. Max-Frederick und ich beobachteten voller Faszination, wie sich seine herunterbaumelnden Haare im Schmierkäse verfingen. David ließ sich davon nicht stören. Er biss noch einmal in das Baguette. Nun wurde sein Gesicht mit Schmierkäse besprenkelt. So ging es weiter, bis von dem Baguette nichts weiter übrig war als das, was auf unterschiedlichen Wegen nicht in Davids Mund gelangt war. Max-Frederick und ich lagen zu diesem Zeitpunkt schon lange auf dem Boden. Manche Art von Lachanfall ertrug man einfach nicht im Sitzen.
Und so sehr ich mich auf die Ferien freute: Die Vorstellung, es nun zwei Wochen ohne all diese Leute aushalten zu müssen, sie war schon reichlich fürchterlich.