Ein Sohn seiner Klasse

Perlen von Holstein Folge 162

Februar 2007

Zur Männerprobe verteilte Herr Kaiser ein für uns neues Stück von Heinrich Schütz. Ich nahm das mit ausgesprochenem Wohlwollen zur Kenntnis. Heinrich Schütz war, wenn es ums Singen ging, mittlerweile einer meiner Lieblingskomponisten. Als ich auf das Notenblatt sah, war ich jedoch etwas verwundert: Dieses Singet dem Herrn ein neues Lied war ja ein Choral. Ein Choral von Heinrich Schütz. Das schien mir sonderbar. Alles, was wir bisher von Schütz gesungen hatten, waren eindeutig Motetten gewesen. Ich war deshalb felsenfest überzeugt gewesen, dass Schütz nichts anderes als Motetten komponiert hatte. Choräle, so etwas komponierte doch nur Bach.

Und, man war versucht zu sagen: Der konnte es wenigstens.

Singet dem Herrn ein neues Lied nämlich klang irgendwie sonderbar. Vor allem aber klang es gar nicht nach Schütz. Dessen Namen verband ich mit vollen, ja, voluminösen Akkorden. Singet dem Herrn ein neues Lied hingegen hörte sich reichlich dürr an. Wobei das auch damit zusammenhängen konnte, dass wie gesagt Männerprobe war und somit nur Tenor und Bass zur Verfügung standen.

Volker bemerkte hierzu: «Das Stück mal nur mit Tenor und Bass im Konzert zu singen, wäre sicher interessant.»

‹Interessant›, ja, so konnte man das auch nennen, wenn ein vierhundert Jahre altes Werk klanglich geradezu modern anmutete. Modern jedoch konnte das Stück unmöglich sein, das verriet schon die erste Strophe: ‹Singet dem Herrn ein neues Lied, all Welt soll fröhlich singen mit, zu Ehr’n dem Herren unserm Gott, lobt seinen Namen früh und spat.› Ja, so gefiel uns das: Da war sich einer nicht zu schade, spät zu spat umzuformen und es reimte sich noch immer nicht auf Gott. Selbstredend, dass das für Philipp und mich ein Quell grenzenloser Erheiterung war. Es änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass das doch eigentlich gar nicht sein konnte: Ein Choral von Schütz.

Ich erzählte meinem Vater davon. Der war nicht weniger irritiert als ich.

«Keine Motette, sondern ein Choral? Aber doch wohl ein Choral, der in einer Motette verarbeitet wird, oder?»

Nein.

Singet dem Herrn ein neues Lied stellte im Schaffen von Heinrich Schütz jedoch keinen Einzelfall dar. In der nächsten Probe brachte Herr Kaiser einen weiteren Choral mit: Kommt herzu, lasst uns fröhlich sein. Dieser befremdete mich gleich auf zweierlei Art. Zum einen damit, dass er ein Choral war. Ein Choral von Heinrich Schütz. Zum anderen damit, dass er Fröhlichkeit verbreiten wollte. Über Schütz hieß es schließlich in seinem Wikipedia-Artikel: «Die aus dem Zusammentreffen von Dreißigjährigem Krieg, Seuchen und sozialen Umwälzungen resultierenden schwierigen Lebensumstände trugen vermutlich dazu bei, dass Schütz sein Leben als ‹nahezu qualvolle Existenz› beschrieb. Diese Schwermütigkeit spiegelt sich auch in Schütz’ Werk wieder.» Und weil das, was in der Wikipedia stand, immer zutraf, konnte und durfte es nicht sein: Ein Werk von Heinrich Schütz, das Fröhlichkeit verbreiten wollte.

Meine ersten Eindrücke schienen dies zu bestätigen. Anders als Singet dem Herrn ein neues Lied sangen wir Kommt herzu, lasst uns fröhlich sein von Anfang an vierstimmig. So konnte ich gleich hören, wie schwerfällig es klang mit seinen vollen, ja, voluminösen Akkorden. Bald jedoch probten wir das Stück zum dritten Mal und es geschah, was so häufig geschah, wenn wir ein Stück zum dritten Male probten: Ganz plötzlich gefiel es mir. Zwar empfand ich es noch immer nicht als so ausgelassen heiter wie ein Lied von meinem Freund Hans Leo Hassler, aber: Auf seine ganz eigene gewichtige Art war es fröhlich. Vor allem aber bot es das, was ich an der Musik von Heinrich Schütz am meisten liebte: Man fand jedes Wort des Textes in den Tönen wieder. In jeder einzelnen Strophe.

Besonders beeindruckend fand ich das bei der Vertonung der zweiten und bei der letzten Textzeile. Die zweite Textzeile ließ der Meister wunderbar schwelgerisch klingen. Und das passte einfach immer. Zu ‹dem Hort unsres Heils jauchzen fein›, zu ‹das Meer und alles überall›, zu ‹unsern Schöpfer anbeten hie›. Die Variante der zweiten Strophe gefiel mir natürlich am besten, so wie mir die zweite Strophe überhaupt am besten gefiel: ‹Hohe Berge und tiefe Tal, das Meer und alles überall.› Mein geistiges Auge machte dabei jedes Mal eine Kamerafahrt durch die idealisierte Landschaft irgendeines Killerspiels. Und überhaupt: Gab es etwas Beeindruckenderes als Berge, Täler und das Meer? Wohl kaum, sonst hätte der Textdichter letzteres wohl kaum in beiden Chorälen verwendet, in Singet dem Herrn ein neues Lied und in Kommt herzu lasst uns fröhlich sein.

Die letzte Textzeile klang väterlich-freundlich, wie ein Schulterklopfen, das man einfach nur dafür bekam, dass man existierte. Die Aufforderungen, mit denen jede Strophe endete, bekamen so einen geradezu familiären Charakter. Doch warum sollten sie es nicht bekommen, die Worte ‹jauchzet mit Psalterspiele›, ‹rühmt seiner Hände Werke›, ‹jauchzet und singet: Amen›. Das waren schließlich vollkommen wohlmeinende Ratschläge. Wer sie aussprach, wollte, dass man in die Stimmung geriet, in die Kommt herzu lasst uns fröhlich sein mich versetzte.

Das schönste an den letzten Textzeilen der ersten und der dritten Strophe war aber zweifelsohne, dass sie so eine wunderschöne Knabenfalle darstellten. Sie waren also Stellen, die immer mindestens ein Viertel der Knaben falsch machte. Mindestens ein Viertel sang bei der ersten Strophe: «ja-a-a-a-auchzet und singet: Amen». Mindestens ein Viertel sang bei der dritten Strophe: «ja-a-a-a-auchzet mit Psalterspiele». Mindestens ein Viertel schien sich nicht denken zu können, dass das Wort Amen natürlich erst am Schluss des Stückes kommen konnte. Selbstredend, dass Philipp und ich uns einen Jux daraus machten. Bei jedem Treppenhauskonzert und bei jeder Busfahrt grölten wir: «ja-a-a-a-auchzet mit Psalter-Amen».

David übrigens schätzte Kommt herzu lasst uns fröhlich sein und insbesondere dessen zweite Strophe nicht sonderlich. Das lag weniger an der Musik, als vielmehr am Text. Als überzeugter Linker konnte er solche Worte nicht akzeptieren: ‹Der ganz Erdboden weit und breit rühmt seiner Hände Werke›.

«Solche übertriebene Gottesfürchtigkeit, die eigentlich nur darauf abzielt, die Leute gefügig zu machen, kann ich gar nicht ab», sagte er.

Schlimmer fand er deshalb eigentlich nur den dritten Choral von Heinrich Schütz: Aus tiefer Not schrei ich zu dir. In dessen zweiter Strophe hieß es doch tatsächlich: ‹Bei dir gilt nichts denn Gnad’ und Gunst die Sünde zu vergeben, es ist doch unser Tun umsonst, auch in dem besten Leben.› Das war nicht nur David, sondern auch mir eine gewaltige Ecke zu katholisch.

Der Text war aber nicht der Hauptgrund, dass mir das Stück nicht gefiel. Der Hauptgrund war, so Leid mir das tat, die Musik. Diese gefiel mir auch dann noch nicht, als wir das Stück zum dritten Mal probten. Woran es lag, konnte ich nicht genau sagen. Eigentlich machte der Meister alles richtig: Um die Demut des Singenden und die Tiefe der Not musikalisch einzufangen, verwendete er lauter tiefe Töne. Tiefe Töne waren prinzipiell immer ein Weg, mein Herz im Sturm zu erobern. Der Zusammenhang, in dem sie auftraten, durfte deswegen aber noch lange nicht ätzend spröde sein. Und ätzend spröde war der Zusammenhang, in dem sie auftraten.

Wesentlich besser gefiel David und mir da schon der vierte Choral: Wie nun, ihr Herren. Ein Kampflied erster Güte. ‹Wie nun, ihr Herren, seid ihr stumm, dass ihr kein Recht könnt sprechen?›, begann die erste Strophe und endete mit: ‹Mutwillig übt ihr G’walt im Land, nur Frevel geht durch eure Hand, was will zuletzt draus werden?› Der bewegenden Anklage folgten unverhohlene Drohungen: ‹Ihr ungerechten Herren wisst, dass ihr der Armen dulden doch einmal bitter büßen müsst als euer eigen Schulden.› Zuletzt kam dann die Aufforderung zur Revolution: ‹All Erdenrund ist voll Geschrei, verletzt sind Recht und Sitten. Ihr armen Menschen kommt herbei, ist’s nicht genug gelitten? Wir brauchen aller Seel und Kraft, dass nach viel böser Leidenschaft ein neu Geschlecht erwache.›

Davids Begeisterung hätte größer kaum sein können.

«Alter, das ist ja fast schon Sturm und Drang. Echt geil, Mann.»

Doch nicht nur in literarischer, auch in musikalischer Hinsicht war das Stück ergreifend. Die Worte ‹seid ihr Stumm› ließ Schütz genau nach dem klingen, was sie waren: Eine feurige Anklage. Sie zu singen fühlte sich an, wie endlich einmal etwas auszusprechen, was man schon lange gedacht hatte. Etwas, von dem man wusste, dass es alle dachten. Man wusste, welche Konsequenzen es haben würde, und man nahm sie denkbar billigend in Kauf. Schon sehr bald würde nichts mehr so sein, wie es einmal war. Und man hatte allen Grund, sich stark zu fühlen.

Herrn Kaiser war Wie nun, ihr Herren indes ein Anlass, endlich einmal aufzuklären, was es auf sich hatte mit den Schütz-Chorälen. Bei diesen handelte es sich um Vertonungen der hundertfünfzig Gedichte, die ein gewisser Cornelius Becker auf Grundlage der hundertfünfzig Psalmen gedichtet hatte. Man nannte sie deshalb auch Becker Psalter. Zu Wie nun, ihr Herren war zu sagen, dass es gewissermaßen autobiographische Züge trug.

«Als Heinrich Schütz lebte, da herrschte in Deutschland der Dreißigjährige Krieg. Und der Dreißigjährige Krieg hat dazu geführt, dass sich der Sächsische Kurfürst, dem Heinrich Schütz gedient hat, nur noch für das Militär interessiert hat. Für alles andere war kein Geld mehr. Natürlich galt das auch für die Musik. Heinrich Schütz musste zusehen, wie die ihm unterstellten Musiker regelrecht verhungert sind. Und weil er auch viel rumgereist ist, hat er auch überall anders viel Elend gesehen. Deshalb hat Heinrich Schütz Wie nun, ihr Herren komponiert. Er wollte sagen: ‹Leute, so kann es doch nicht weitergehen. Das kann doch nicht sein, dass alle Menschen verelenden und wir keine Musik mehr machen können, weil sich unsere Könige nur noch für ihren Krieg interessieren.»

Ein edles Anliegen, dessen Folge nur sein konnte, dass Schütz als Mensch und Schütz als Komponist von Chorälen drastisch in meinem Ansehen stieg. Ja, wenn es jemanden gab, der sich unter den Choral-Komponisten zu den ganz Großen zählen konnte, dann doch wohl Heinrich Schütz.

Anmerkung im Sinne des Besserwisserauftrags der Synkope: Es stimmt, dass Heinrich Schütz sich über die «unter den Waffen erstickten und in den Koth getretenen Künste» beklagte. Allerdings komponierte er deswegen nicht den Becker Psalter, sondern die Kleinen Geistlichen Konzerte. Diese Tragen den Umständen des Krieges Rechnung, indem Sie nur klein besetzt sind. Einige der, zumeist der Bibel entnommenen, Texte enthalten drastische Schilderungen von Elend und Not, sind aber vollkommen unpolitisch. Im Übrigen sind die Kleinen Geistlichen Konzerte dem Landgraf Moritz von Hessen gewidmet, was einem Revoluzzer wohl kaum in den Sinn gekommen wäre. Einen kleinen Wink mit dem Zaunpfahl erlaubte sich Schütz hingegen mit dem Werk Da pacem, domine. Hier preist ein Chor mit lauten Vivat-Rufen Kaiser Ferdinand II. und die sieben Kurfürsten, der andere singt ‹da pacem, domine›, besser bekannt als ‹Verleih uns Frieden›. Was nun aber den Becker Psalter anbelangt: Diese Sammlung komponierte Schütz, weil Beckers Gedichte ihm geholfen haben, den Tod seiner Frau zu überwinden. Wirft man einen Blick in die Neue Schütz-Ausgabe, wird man feststellen, dass nur die erste Strophe von Wie nun, ihr Herren mit der identisch ist, die wir gesungen haben. Die übrigen schlagen eine völlig andere Richtung ein und richten sich eher gegen Richter als gegen Herrscher, wie übrigens auch die Textvorlage, der 58. Psalm. Die von uns gesungenen Worte sind zudem auffallend areligiös. Womöglich stammen sie wie unser Chorleiter aus der DDR.