Ein Akt der Erkenntlichkeit
Perlen von Holstein Folge 163
Als vor zwei Jahren bei der Jahreshauptversammlung der Begriff Fundraising eingeführt worden war, hatte Marc einen Zettel ausgeteilt. Darauf hatte gestanden, als was man sich zukünftig bezeichnen könnte, wenn man sich entschloss, dem Knabenchor jährlich Geld zu überweisen. Ebenso waren die zu erwartenden Gegenleistungen aufgezählt gewesen. Beides stand logischerweise in engem Zusammenhang mit dem Ausmaß der Spendenbereitschaft. An oberster Stufe hatten die Mäzene gestanden. Für fünftausend Euro oder mehr im Jahr hatten sie sich auf einen persönlichen Fahrservice bei Konzerten und Gespräche mit Sängern freuen können. Den Fahrservice hätten wohl Marc oder Zwergo übernommen. Welche Sänger bereit waren, sich für ein Gespräch herzugeben, hätte man wohl ermittelt, wenn ein Mäzen dies einforderte. Geschehen war das nie, doch hatte der Chor es tatsächlich geschafft, einige wenige anonyme Großspender zu gewinnen. Einer dieser anonymen Großspender – eine reiche alte Dame – wünschte sich nun, dass wir ihr anlässlich ihres achtzigsten Geburtstages ein kleines Ständchen gaben. Ein Wunsch, den wir ihr doch zu gerne erfüllten.
Die reiche alte Dame war für uns wahrhaftig ein Glücksfall. Nicht nur, weil sie uns Geld spendete, sondern auch, weil sich niemand von uns deswegen das Wochenende um die Ohren schlagen oder weit hinausfahren musste. Die Gute wohnte nämlich rund einhundert Meter vom Gebäude der Jugendmusikschule entfernt und feierte Geburtstag an einem Freitag. Das Ständchen ersetzte somit lediglich die reguläre Probe. Der einzige Unterschied zu einem gewöhnlichen Freitag war der, dass wir in Chorkleidung erscheinen mussten.
Der Raum, in dem unser Auftritt stattfinden solle, zeugte vom Stilempfinden einer Person, die nicht erst seit gestern dem Geldadel angehörte. Eine dezente Beleuchtung, Marmor und einige wenige Kunstgegenstände belegten ganz und gar unaufdringlich den Reichtum der Dame. So viel Hanseatentum vermochte unseren Chorleiter in der Generalprobe jedoch nicht milde zu stimmen. Demonstrativ genervt blickte er zum Fenster.
«Mein Gott, dass es bei euch in Hamburg aber auch immer regnen muss», sagte er, «Gibt es eigentlich noch irgendetwas anderes, das hier so im Überfluss vorhanden ist wie Regen? Jaja, ich weiß: ‹Hamburg ist die Stadt mit den meisten Brücken in Europa. Mehr als Amsterdam, London und Venedig zusammen.› Das ist kein Wunder, dass ihr so viele Brücken braucht, so oft, wie das bei euch regnet!»
Ging das schon wieder los. Vier Jahre lebte Herr Kaiser nun hier und noch immer gelang es ihm, Hamburg nicht als die schönste Stadt der Welt zu betrachten. Immer mal wieder schimpfte er auf uns und unsere Mundart. Neulich in der Einzelstimmbildung hatte er mir erklärt, dass man das G am Ende von Wörtern wie König, selig oder ewig wie Ch aussprach. Man sagte also Könich, selich und ewich. Das änderte sich, wenn das G plötzlich in der Wortmitte stand, wie zum Beispiel bei Königreich. Dann sagte man definitiv, was man schrieb, nämlich Königreich. Auf meinen Einwand, dass man ja wohl Könichreich sagte, hatte er etwas amüsiert bemerkt: «Nein, das macht nur ihr hier in Hamburg.»
Was nun sein Problem mit dem Regen war, konnte ich mir nicht erklären. Hier drinnen war es doch trocken und warm. Viel zu warm. Ich spürte das unwiderstehliche Verlangen, mir das Jackett auszuziehen. Und alles darunterliegende gleich mit. Meine Güte, dass ein Raum derart überheizt sein konnte. Und als regelmäßiger Passagier der Hamburger Hafenfähren war ich in dieser Hinsicht weiß Gott einiges gewohnt. Richtig schlimm aber wurde es erst, als dann beim Auftritt zu der Heizung auch noch Scheinwerfer hinzukamen.
Keine fünf Takte dauerte es, bis mein Gesicht mit vielen, vielen kleinen Schweißperlen benetzt war. Das war unangenehm, aber nicht unerträglich. Kleine Schweißperlen kribbelten ein wenig, blieben aber dort, wo sie waren, solange man sich nicht bewegte. Viel schlimmer waren große Schweißperlen. Die ließen einen mit jeder betroffenen Nervenfaser spüren, wie sie langsam aus den Poren hervortraten und sich ihren Weg über die Gesichtshaut bahnten. Von Kribbeln konnte dabei nicht mehr die Rede sein. Es war eher eine Art von Kitzeln, die an Folter grenzte.
Unser Chorleiter, um gute Ratschläge nie verlegen, hatte den Knaben jüngst einige Verhaltenstipps zu Juckreizen in Konzerten gegeben: «Wenn es euch während eines Konzerts im Gesicht krabbelt, ja, dann krabbelt euch das halt mal. Dann müsst ihr euch nicht mitten im Ton kratzen. Dann könnt ihr es ruhig einmal eine Zeit lang ertragen, dass es euch krabbelt. Vielleicht stellt ihr sogar fest, dass das eigentlich mal ganz schön ist.» Ihrem natürlichen Bewegungsdrang sollten die Knaben dagegen wie folgt begegnen: «Wenn ihr denkt, dass ihr euch bewegen müsst, dann wackelt mit den Zehen. Das merkt kein Mensch. Das mache ich im Übrigen auch, wenn ich mal nicht ruhig stehen kann.» Hinweise zum Umgang mit dicken Schweißperlen hatte Herr Kaiser hingegen bislang keine gegeben. Wahrscheinlich, weil selbst ihm keine gescheite Antwort auf sie einfielen.
Ich tat das einzig Sinnvolle: Ich bewegte den Unterarm in Richtung Gesicht und rieb sämtliche Schweißperlen weg. Mitten im Ton, wohlgemerkt. Die Alternative wäre gewesen, mit der Gesichtsmuskulatur eine Schonhaltung einzunehmen, sprich: Zu den Worten ‹Preis und Anbetung sei unserm Gott› böse Grimassen zu schneiden. Das konnte und wollte ich nicht.
Welch ein Glück, dass unser Ständchen nur eine Viertelstunde dauerte. Beim anschließenden Buffet waren wir nicht mehr erwünscht. Hinaus ging es aus der Sauna in einen Garten. Wir kamen an einem Gebäude vorbei, in dessen Keller einige Hausfrauen einen Bändertanz einstudierten. Die Knaben und wir Männer lachten ungeniert. Auch Herr Kaiser konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
«Wissen Sie, Herr Kaiser», sagte ich, «das ist es ja, woran ich bei Kommt herzu, lasst uns fröhlich sein immer denken muss: Irgendwelche Muttis, die einen Bändertanz aufführen und meinen, das Leben verstanden zu haben.»
Worte, die ihm hoffentlich nicht allzu sehr zu denken gaben.