Männergesangverein Dampfwalze 2007 e.V.
Perlen von Holstein Folge 164
Sieben Jahre war es her, dass sämtliche Knaben unseres Chores meiner Mutter einen Dankesbrief hätten schreiben müssen. Sie war es gewesen, die die Anregung dafür gegeben hatte, jedem Beteiligten fünf Mark für seine Mitwirkung bei der Matthäus-Passion auszuzahlen. Frau Siebenkittel hatte damals bekanntermaßen eher verhalten auf diese Idee reagiert – und sie dann später als ihre eigene ausgegeben. Dankesbriefe hatte meine Mutter so selbstverständlich nicht erhalten. Das mochte der Grund sein, dass sie sich mit innovativen Einfällen lange Zeit zurückgehalten hatte. Vor zwei Monaten aber, beim Weihnachtskonzert in St. Jacobi, hatte sie sich nicht mehr zügeln können.
«Also, Herr Kaiser, ich finde ja: die Männer haben so toll gesungen, eigentlich könnte man die doch ruhig mal ein eigenes Programm oder sowas machen lassen.»
Herr Kaiser hatte eher verhalten auf diese Idee reagiert – und sie dann später als seine eigene ausgegeben.
«Wisst ihr, ich habe mir gedacht: Ihr Männer seid ja wirklich gut und es ist doch eigentlich schade, dass ihr im Konzert immer nur ein oder zwei Stücke ohne die Knaben singt. Deshalb würde ich in diesem Jahr gerne mal ein reines Männerprogramm mit euch machen wollen.»
Wir alle waren hellauf begeistert gewesen. Ein ganzes Programm mit vierstimmigen Männerchorsätzen, Stücken wie Am Traunsee, Wer nur den lieben Gott lässt walten und Heilig ist der Herr, was konnte es Schöneres geben? Vierstimmige Männerchorsätze waren es sicher auch gewesen, die meiner Mutter vorgeschwebt hatten. Ausschlaggebend für ihren Vorschlag war schließlich ein vierstimmiger Männerchorsatz von Zu Bethlehem geboren gewesen. Herr Kaiser aber hatte Anderes im Sinn. Eine kurze Begutachtung der Noten genügte, um entsetzt festzustellen: Herrgott, diese neuen Männerchorstücke waren ja allesamt einstimmig!
Unser Chorleiter ließ sich nicht lange bitten und teilte uns die Gründe hierfür mit.
«Ja, also ich würde natürlich auch lieber mehrstimmige Sachen mit euch machen. Aber weil ich mich ja nicht darauf verlassen kann, dass ihr in der Probe immer alle da seid, ist das leider nicht möglich.»
Das erste von insgesamt fünf Stücken bewies dann aber auch gleich, wie kompliziert einstimmige Musik sein kann. Salve Regina ist ein gregorianischer Choral. Sein Text entspricht der gleichnamigen Motette von Rheinberger, die wir 1998 beim Chorwettbewerb gesungen hatten. Ich hätte ihn mit ziemlicher Sicherheit noch mühelos beherrscht, wenn wir besagte vierstimmige Motette gesungen hätten und nicht den gregorianischen Choral. Bei diesem erwies es sich immer wieder als ein Ding der Unmöglichkeit, Textpassagen und die dazugehörigen Tonfolgen in die richtige Reihenfolge zu bringen. Es fehlte einfach jene innere Logik, die es mir sonst so einfach machte, Stücke in Rekordzeit auswendig zu lernen.
Eine klare Logik fehlte ebenso bei den Notenlängen und zwar ausdrücklich. Das war streng genommen ungeheuerlich. Von Kindesbeinen an war mir eingetrichtert worden, dass Musik zwar natürlich in erster Linie die Herzen bewegen sollte, in ihr nichtsdestoweniger aber alles seine Ordnung haben musste. Was auch immer ich spielte, was auch immer ich sang, es galt: Eine Viertel war doppelt so lang wie eine Achtel und halb so lang wie eine Halbe. Ausnahmen gab es vielleicht mal im Jazz, ganz bestimmt aber nicht in der Klassik. Und nun stand Herr Kaiser da und erzählte uns, dass Salve Regina zwar größtenteils in Achteln notiert war, diese Achtel aber alle unterschiedlich lang waren.
«Versucht, jede Phrase als einen Fluss zu verstehen, der auf etwas zusteuert», sagte er, «Nehmt erst Fahrt auf und bremst dann zum Schluss wieder ab.»
Anweisungen, die zu befolgen uns vor ungeahnte Schwierigkeiten stellte.
Eingängiger, wesentlich eingängiger waren da schon das Magnificat und das Nunc dimittis von George Dyson. Das Magnificat begann mit einem lauten, deftigen Klavierakkord und einer Gesangslinie, die mich unwillkürlich an ein Musical denken ließ. Ich wollte ergriffen auf die Knie fallen und die Arme in den Himmel strecken. Nathanael hatte da einen besseren Vorschlag zu machen.
«Aus dem Stück könnte man so einen geilen Rocksong machen. Da fehlt doch wirklich nur noch ’ne E-Gitarre.»
Eher in die Kategorie ‹besinnlicher Popsong› fiel das Nunc dimittis. Gleichwohl es damit regelrecht dazu aufforderte, auf langen Busfahrten gegrölt zu werden, wollte man es stets mit seligen Augen singen.
Man konnte das alles schon irgendwie befremdlich finden bei Werken, die Gottesmusik waren und sich überdies als moderne Klassik verstanden. Und in der Tat: Ich fand das irgendwie befremdlich. Vor allem hätte ich nicht für möglich gehalten, dass unserem Chorleiter solche Musik gefiel. Der Mann gab sich schließlich sonst immer so betont anspruchsvoll. Andererseits war er doch seit jeher immer mal wieder für eine Überraschung gut gewesen. Außerdem musste man ja wirklich anerkennen, dass die Stücke Unterhaltungswert hatten. Das galt nicht nur für die Töne, sondern auch für den Text. An der Wortgewandtheit der Passage ‹he hath filled the hungry with good things› konnten Philipp und ich uns immer wieder erfreuen. Noch besser gefiel uns nur Herrn Kaisers Anweisung, das D von End in der Zeile ‹World without end› stimmhaft auszusprechen, also im Grunde ‹world without Ende› zu singen. Es verstand sich von selbst, dass wir genau das bei jedem Treppenhauskonzert taten – unter gepflegter Überbetonung des Ds, versteht sich.
Bei unseren Grölorgien bevorzugten wir freilich das Nunc Dimittis gegenüber dem Magnificat. Das Magnificat nämlich war eher für Tenorlage geschrieben worden. Für uns Bässe war es an vielen Stellen entschieden zu hoch. Allerdings: Verglichen mit dem Kyrie aus der Messe «Cum Jubilo» von Maurice Duruflé bewegte es sich in Tiefen, die vom menschlichen Ohr nicht mehr geortet werden konnten.
Herr Kaiser liebte die Messe «Cum Jubilo».
«Wisst ihr», sagte er, «bei diesen Klängen kann ich mir richtig vorstellen, wie einer in einer prächtigen Kathedrale steht, die Sonne scheint durch die Fenster und hüllt alles in ein farbiges Licht –»
Man musste anerkennen, dass er mit dieser Schwärmerei die Stimmung des Stückes sehr gut in Worte fasste. Das Kyrie aus der Messe «Cum Jubilo» war beeindruckende Musik. Es lag deshalb schon eine gewisse Tragik darin, dass die Stimmbänder so laut Nein schrien, sobald es heiß, dass wir das Stück proben würden. Das Herz nämlich sagte immer Ja. Doch gab es nun einmal Realitäten, die auch Liebe nicht überwinden konnte. Und eine dieser Realitäten war, dass im Mittelteil des Stücks die Töne so abartig hoch waren, dass es mich schon äußerste Mühe kostete, sie überhaupt nur hervorzubringen.
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Das Komponieren ist ein schweres Handwerk. Komplizierte, einander teilweise widersprechende Regeln zu Harmonik und Stimmführung müssen zwingend eingehalten werden. Zugleich muss das Geschaffene originell und idealerweise von Weltgeltung sein. Doch damit nicht genug, ein Komponist muss auch noch wissen, was überhaupt sing- und spielbar ist. Und zwar auf jedem einzelnen Instrument. Hindemith berichtet dazu über einen seiner Schüler: «Die Posaunen haben ein tiefes E, und da er nicht einsehen will, dass dieser Ton in manchen Zusammenstellungen nicht anwendbar ist, zeigt man ihm auf dem Instrument die Ausführung. Wenn er praktisch vor sich sieht, dass der Bläser für das Intervall E-B den Zug um einen halben Meter verschieben muss, wird er sich das nächste Mal sicher hüten, diese Bindung in lebhaftem Zeitmaß zu verlangen.»
Ein weiteres Problem waren die ständig wechselnden, oft beeindruckend krummen Taktarten. Vom Elf-Achtel- bis zum Sieben-Viertel-Takt war so ziemlich alles vertreten. Dazu kam der beherzte Einsatz tückischer Triolen. Herr Kaiser erklärte, dass Duruflé auf diese Weise versuchte, einen gregorianischen Choral vom Schlage eines Salve Regina zu imitieren.
Zum Mittelteil des Stücks führte er aus, dass in diesem nur die ersten beiden Phrasen rhythmisch kompliziert seien. Die dritte sei eigentlich ganz einfach, komme einem aber im Zusammenspiel mit den anderen beiden sonderbar vor. Er erzählte uns dies, als wir den Mittelteil zum ersten Mal probten, und er erzählte uns dies, als wir den Mittelteil zum zweiten Mal probten. Wobei: Als wir es das zweite Mal probten, wollte er es nur erzählen. Ich fiel ihm jedoch ins Wort und sprach seinen Satz zu Ende, wodurch dies unnötig wurde. In der Folgezeit sagte er immer: «Lennart weiß: Die letzte Phrase ist rhythmisch eigentlich am einfachsten, wirkt aber durch das, was davor kommt, verwirrend.» Anschließend brachte er sein Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass ich aber auch wirklich alles behielt, was er irgendwann einmal gesagt hatte. Ich konnte mich darüber nur verwundern. Sollten wir uns es denn etwa nicht merken, wenn er etwas über die Stücke erzählte?
Rhythmisch ebenso recht kompliziert, melodisch dafür eher einfach gestrickt war Vater Unser von Frank Martin. Es war melodisch deswegen einfach gestrickt, weil es eher ein Orgelstück mit Chorbegleitung war als ein Chorstück mit Orgelbegleitung. Interessanter als das Werk selbst war für uns dann auch der Name seines Komponisten. Ursächlich dafür war eine kleine Szene, die sich ereignet hatte, als wir es zum ersten Mal geprobt hatten.
«Oh, Frank Martin», hatte ich gesagt und den Namen Martin deutsch ausgesprochen.
«Martin heißt der», hatte Volker erwidert und den Namen Martin französisch ausgesprochen.
«Oh Gott, ein Franzose», hatte ich gesagt.
«Der war Schweizer», hatte Volker erwidert.
Philipp, David und Max-Frederick hatten unweigerlich gelacht. Für mich ein triftiger Grund den Namen Frank Martin in Zukunft englisch auszusprechen. Tat man das, klang es, als würde von man einem Jazzer reden. Und das war natürlich zum Schreien komisch, bedachte man, dass Vater Unser sich bemühte, die Erhabenheit eines mittelalterlichen Sakralbaus einzufangen. Philipp jedenfalls amüsierte sich stets köstlich darüber.
Obwohl wir von den einstimmigen Sätzen insgesamt nur sehr bedingt angetan waren, legten wir bei den Proben den gewohnten Enthusiasmus an den Tag. Herr Kaiser schätzte dies sicher, speziell wir ersten Bässe trieben es ihm aber auch oft zu weit.
«Das klingt, als würde eine ganze Elefantenherde auf mich zugetrampelt kommen», sagte er dann. Oder: «Wenn ihr singt, das ist wie drei Dampfwalzen und fünf Nashörner.» Oder: «Lord, now lettest thou thy Rumpel! De-e-pa-art, depa-art in Rumpel! According to thy Rumpel!»
«Rumpel ist auch eines Ihrer Lieblingswörter», bemerkte ich zu letzterem.
«Wieso? Das habe ich heute zum ersten Mal benutzt», erwiderte Herr Kaiser.
«Nein, das haben Sie definitiv schon mehrmals benutzt, Herr Kaiser.
«Ach, wirklich? Und ich war mir so sicher, das heute zum ersten Mal benutzt zu haben. Aber wenn du es sagst, wird es wohl stimmen. Doch jetzt mal im Ernst: Bei euch da im ersten Bass, da klingt mir das alles noch viel zu ungewaschen und unrasiert.»
«Ja, der erste Bass halt», sagte ich.
Die Männer um mich herum lachten begeistert. Herr Kaiser hingegen nahm meine Äußerung zum Anlass, sich demonstrativ auf die Seite des Tenors zu stellen. Er lobte ihn, er preiste ihn, er huldigte ihm. Nur, um ihn dann nach zehn Minuten tüchtig in die Pfanne zu hauen.
«So, jetzt mal bitte nur die Tenöre», sagte Herr Kaiser und ließ die Tenöre alleine singen. Als sie fertig waren, wandte er den Blick zu uns Bässen und sagte: «Okay, und jetzt bitte auch die Männerstimmen.»
Wir Bässe verfielen in hämisches Gelächter.
«Oh, oh, oh, Ulrich», sagte Zwergo, «das werde ich mir aber merken.»
Zwergo war wohlgemerkt eigentlich selbst Bass, sang aber im Tenor mit, weil es diesem an Sängern fehlte. Wohl deshalb lautete Herrn Kaiser Reaktion wie folgt: «Ach, Zwergo, jetzt beantworte mir doch lieber erst einmal die Frage: Ist denn das überhaupt deine Lage?»
«Ja, eigentlich ja nicht», erwiderte Zwergo.
«Seht ihr, daran erkennt man Tenöre. Egal, welches Stück man ihnen gibt, da kommt immer als erstes: ‹Das ist jetzt überhaupt nicht meine Lage!›»
Wir Bässe verfielen in hämisches Gelächter. Unser Chorleiter war heute fürwahr zu Scherzen aufgelegt. Den Witzen über unsere Stimmlagen folgten Witze über unsere Vor- und Nachnamen. Anlässe für sie waren schnell gefunden. Der nächste Einsatz etwa misslang, weil Frans nicht aufpasste.
«Das ist jetzt etwas ausgefranst», sagte Herr Kaiser.
Er erntete zum Teil aufrichtiges, zum Teil demonstrativ gekünsteltes Gelächter.
«Höhö, ‹ausgefranst›», sagte ich, «dieser Witz ist doch bestimmt voll neu, oder Frans?»
«Ja, höhö», erwiderte Frans, «So neu wie ‹Frans-Brötchen›, höhöhö.»
Aus unserem demonstrativ gekünstelten Gelächter wurde so doch noch aufrichtiges. Ich hätte mich dennoch besser zurückgehalten. Beim nächsten Einsatz nämlich war ich derjenige, der nicht aufpasste. Der Kalauer unseres Chorleiters folgte prompt.
«Das wurde jetzt verschüttet.»
Wieder gab es zum Teil aufrichtiges, zum Teil demonstrativ gekünsteltes Gelächter. Anders als Frans brauchte ich jedoch niemanden, der mir zur Hilfe eilte. Ich konnte ganz alleine verdeutlichen, dass ich sämtliche Wortspiele zu meinem Nachnamen schon lange kannte.
«Höhöhö, verschüttet», sagte ich, «Das ist fast so lustig wie: ‹Ey, Lennart, schütt das doch mal weg!›»
Und schon hatte ich die nun durchweg aufrechten Lacher auf meiner Seite. Dabei war das definitiv nicht das lustigste Wortspiel, das jemals mit meinem Nachnamen angestellt wurde. Das stammte definitiv von meinem Klarinettenlehrer. Im Januar hatte er mich und zwei andere Schüler Arrangements von berühmten Nummern aus der Dreigroschenoper spielen lassen. Die Nachnamen meiner der beiden anderen Schüler waren Hein und Schütze gewesen. Nun musste man wissen, dass mein Nachname Schuett letztlich nichts anderes als eine Variante von Schütze ist. Weil mein Klarinettenlehrer das wusste und wir überdies den Kanonensong gespielt hatten, hatte er uns im Programmzettel als Trio ‹Hein und die Schützen› angekündigt.
Derartige Scherze am Rande würde es bei unserem Männerchorauftritt wohl nicht geben – obwohl mir zu der konsequenten Einstimmigkeit sicher einige Gehässigkeiten eingefallen wären. Doch wenn es um wichtige Konzerte ging, war Herr Kaiser auf einmal wieder bierernst. Und ich hatte trotz allem den Eindruck, dass der Männerchorauftritt ihm wichtig war. Wir waren ein Pfund, mit dem er wuchern wollte. Den zusätzlichen Probenaufwand nahm er gerne in Kauf. Das sollte mir und uns allen nur recht sein.