Verregnete Nachmittage
Perlen von Holstein Folge 166
Der Sunderhof war seit November unser erklärtes Stammheim für Chorwochenenden. Gleichwohl hatte der Sunderhof noch eine Menge anderer Freunde und keinen Grund, uns besonders zuvorkommend zu behandeln. Termine waren auch weiterhin mindestens ein Jahr im Voraus zu vereinbaren. Die Planungen für unser Frühjahrs-Chorwochenende hatten offenbar deutlich später begonnen. Jedenfalls war der Sunderhof ausgebucht und wir mussten uns eine andere Bleibe suchen. Nun hätten wir wohl einfach noch ein letztes Mal noch Maschen fahren können. Doch entweder kam das für Herrn Kaiser partout nicht in Frage oder dort waren ebenso alle Wochenenden ausgebucht.
So kam es, dass wir bereits zum dritten Mal nach Lankau fuhren, wo wir doch eigentlich nur ein einziges Mal hatten sein wollen. Unverhofft kommt bekanntermaßen oft. Immerhin hatten wir Lankau ja auch einiges zu verdanken. Darunter das Wissen um Davids einzige wirkliche Schwachstelle: Das Geräusch, das entstand, wenn die Knaben mit ihren sandigen Schuhen auf dem Probenraumfußboden herumschabten.
Für die Fahrt nach Lankau musste ein Reisebus angemietet werden. Das war für die finanzielle Situation des Chores sicher kein Gewinn, sollte mir aber nur recht sein: Einige der schönsten Stunden meiner Chorlaufbahn verdankte ich Busfahrten. Aus diesem Grunde wollte ich vom ersten Moment an alles richtig machen. Kaum, dass David und ich in unserer Stammreihe Platz genommen hatten, zückte ich meinen Fotoapparat. Ich machte ein Bild vom Interieur des Busses, auf dass sein Anblick mich alsbald in einen nostalgischen Rausch versetzen möge. Anlässe dazu würde es allerdings wenig geben: Die Fahrt verlief eher unspektakulär. Für schräge Einfälle und wilden Singsang war die Strecke nach Lankau nicht lang genug. David und ich verzichteten zudem auf das An-Aus-Spiel. Solcherlei Späße hatten nur dann Sinn, wenn jemand da war, der sich über sie aufregte. Marc aber war seit Januar nicht mehr da. So vertrieben wir uns die Zeit mit anregenden Gesprächen.
In Lankau angekommen, mussten wir sogleich eine Demütigung hinnehmen, die nicht seinesgleichen hatte. Man nahm uns unser Stammzimmer weg. Statt des großen Sechserzimmers mit Gartenterrasse bekamen wir ein winziges im ersten Stock, das nicht einmal über ein eigenes Bad verfügte. Ob das eine weitere Folge von Marcs Weggang war? Es war zumindest denkbar. Noch zu gut erinnerte ich mich daran, wie Marc damals in Schwerin das Achterzimmer für uns Männer freigehalten hatte. Und auch in der Zeit danach waren wir, was Zimmergröße und Bettenanzahl anging, immer recht privilegiert gewesen. Man konnte eigentlich nur staunen, dass Marc unseren Zusammenhalt dermaßen gefördert hatte. Er war schließlich derjenige gewesen, der am meisten unter ihm zu leiden gehabt hatte.
Am ersten Abend bemühte David einmal mehr seine Horrorshow. Er sah mich lüstern-sadistisch an und schaltete das Licht aus. Ich ging vor die Tür und stemmte mich gegen die Klinke. Ein paar Minuten ging das so, dann kam Lars herbei. Lars war älter, als sein Name vermuten ließ: Ich schätzte ihn auf etwa fünfundzwanzig. Er war nichtsdestoweniger erst zwei oder drei Jahre dabei. Damit war er der einzige Quereinsteiger unter uns Männern. Lars war Philosophie-Student und schien seinem Wesen nach der Stoa anzuhängen. Seine Bitte um Ruhe trug er sachlich und freundlich vor. Zu sachlich und freundlich, als dass Widerspruch gerechtfertigt gewesen wäre. Ich war ihm dankbar. Irgendwie hatte ich nämlich das Gefühl, dass Davids Psychospielchen ihren Zenit allmählich überschritten hatten.
Das galt leider auch für andere Dinge. Philipp, Guido und ich bemühten die schönsten Zitate der Prag-Reise: ‹Bezahlen Krone!›, ‹Würden Sie bitte da weggehen? Es stört unheimlich!› und Max-Fredericks ‹So eine Scheiße!› im Bezug auf Dixit Maria. Doch irgendwie war auch die Nostalgie nicht mehr das, was sie einmal war. Ich geriet in keinen Rausch. Es nervte mich sogar fast ein wenig, dass wir ständig nur von Vergangenem zehrten. Das erinnerte mich nämlich daran, was mir momentan am meisten fehlte: Diese Selbstverständlichkeit, mit der wir in Prag Schabernack getrieben und uns in orgiastischen Lachanfällen daran ergötzt hatten. Wir trieben zwar noch immer reichlich Schabernack, das das Gelächter darüber wirkte auf mich in letzter Zeit irgendwie ein wenig gezwungen. Es war aber gut möglich, dass ich von mir auf andere schloss.
Inzwischen war es Sonnabend geworden. Weil unsere Zimmersituation so unerquicklich war, verbrachten wir die Mittagspause auf dem Kanusteg. Jener war mit einer Walze ausgestattet, um kraft- und materialschonend Boote ins Wasser schieben zu können. Für David und Guido diente sie heute jedoch gänzlich anderen Zwecken.
«Hehe, lass mal Gummibärchen foltern», sagte David.
Gesagt, getan. Guido nahm einige seiner Gummibärchen und drückte sie auf die Walze, derweil David jene drehte. Als die beiden ihr Treiben beendet hatten, waren die Gummibärchen deformiert und teilweise in der Mitte durchgerissen. David, Guido und Frans lachten sich tot. Ich lachte, etwas gezwungen, mit ihnen. Max-Frederick blieb stumm. Die ganze Zeit schon saß er im Schneidersitz in der Mitte des Stegs und blickte in die Ferne. Er trug einen eher sperrigen Kopfhörer, was aber wohl nicht der Grund für seine Schweigsamkeit war. Max-Frederick war, wenn ich es so recht beachte, schon seit der Hinfahrt auffallend ruhig gewesen. Auch hatte er seltsam mürrisch und unwillig gewirkt, sogar für seine Verhältnisse.
«Mann, ey, Französisch, so eine Kacke!». hatte er vorhin in der Probe geschimpft.
Philipp und ich hatten, kein bisschen gezwungen, gelacht. Dennoch hatte ich angemerkt: «Aber das Stück ist von dem gleichen Komponisten wie dein geliebtes Ubi Caritas.»
«Ja, das war aber auch nicht in Kack-Französisch!», hatte Max-Frederick erwidert.
Ursache seines Zorns war Notre Père gewesen, das wie Ubi Caritas von Maurice Duruflé stammte. Was sein Problem damit war, konnte ich nicht ganz nachvollziehen. Natürlich war auch ich nicht unbedingt ein Freund der französischen Sprache. Ich hatte gar herzhaft gelacht, als mir ein Klassenkamerad jüngst seine Theorie über deren Entstehung dargelegt hatte: ‹Alle Leute, die einem komischen Sprachfehler hatten, und alle Leute, die einen bescheuerten Dialekt gesprochen haben, sind auf dem Gebiet des heutigen Frankreichs zusammengetrieben worden.› Dennoch musste ich anerkennen, dass aus Frankreich die erstaunlichsten Dinge kamen. Unter anderem Act of War, das amerikanischste Killerspiel aller Zeiten. Und unter anderem Notre Père, das ohne seinen französischen Text wohl nur halb so viel Wirkung entfaltet hätte. Es war wie geschaffen, um es zu proben, während draußen der Regen auf die Pflastersteine prasselte. Drinnen war es warm und trocken, doch der leisen Melancholie eines grauen Tages konnte man sich auch hier nicht entziehen. Der leisen Melancholie und der Gewissheit, dass etwas zerbrochen war. Der jetzigen Ruhe war unkontrolliertes Geschrei vorausgegangen. Daran konnte ein Notre Père nichts ändern, es machte es jedoch für eine Weile erträglicher.
Ich hatte Fotos von den geschundenen Gummibärchen gemacht. Jetzt machte ich welche von der Landschaft, die den Steg umgab. Wer wusste schon, ob ich beim Anblick der Bilder nicht doch in einen nostalgischen Rausch geraten würde. Ob nicht rückblickend betrachtet doch alles so gewesen sein würde wie immer.