Geistige und körperliche Erfahrungen
Perlen von Holstein Folge 167
Die erste Probe nach dem Chorwochenende begann mit einem unverhofften Wiedersehen: Herr Kaiser teilte die Noten von Kommt her zu mir alle aus. Wir hatten es 2005 schon einmal gesungen. Ich hatte es gemocht, dennoch aber angenommen, dass unser Chorleiter es vor allem aus Höflichkeit oder Dankbarkeit aufgeführt hatte. Am unteren Ende der handgeschriebenen Noten nämlich hatte der Vermerk ‹Für Ulrich und Julia› gestanden. Ulrich war der Vorname unseres Chorleiters, Julia der seiner damaligen Verlobten und jetzigen Ehefrau. Meine Vermutung hatte Bestätigung gefunden, als Herr Kaiser das Stück schon 2006 aus dem Repertoire gestrichen hatte. Jetzt war es wieder da.
Ich dachte mir nichts weiter dabei. Herr Kaiser sagte auch nichts dazu. Er probte es rund eine Viertelstunde lang mit uns, wobei die von den Knaben erbrachten Leistungen einmal mehr das Gelächter Max-Fredericks, Philipps und mir erregten. Herr Kaiser hielt das wohl für einen willkommenen Anlass, jetzt doch mit der Sprache herauszurücken.
«Der Emanuel Vogt, der das komponiert hat, ist heute begraben worden.»
Ich wollte dazu sagen, was es eigentlich dazu nur zu sagen gab. Philipp kam mir jedoch zuvor.
«Tja, jetzt hat er sich schon das erste Mal im Grabe umgedreht», sagte er leise und kicherte.
Wir sangen also wieder Kommt her zu mir alle. Den Grund fand ich äußerst nachvollziehbar. Eines toten Komponisten gedenken zu wollen, war schließlich ein ehrbares Anliegen. Warum wir This joyful Eastertide von Charles Wood sangen, erschloss sich mir dagegen ganz und gar nicht. Charles Wood war laut seinen Lebensdaten 2006 seit genau achtzig Jahren tot gewesen. Das war eine einigermaßen runde Zahl. Bei einem großen Komponisten hätte das als Vorwand gereicht, seiner zu gedenken. Nur: Charles Wood war kein großer Komponist. Er war nicht einmal ein Kleinmeister. In meiner Vorstellung war er der Troubadix in der Kirchengemeinde von Kleinkleckersdorf gewesen. Jemand, dessen musikalische Erzeugnisse niemand schätzte, der aber einfach nicht begreifen wollte, woran das lag. Ich hasste This joyful Eastertide tief und inniglich. Wir alle hassten This joyful Eastertide tief und inniglich. Niemand Geringeres als Volker hatte die letzten Worte des Refrains, ‹but now hath Christ arisen›, zu ‹hath Christ beschissen› umgedichtet.
Herrn Kaisers Entscheidung für das Werk war schon alleine deswegen unverständlich, weil mit Ding! Dong! Merrily on high bereits ein Stück des gleichen Komponisten bei uns durchgefallen war. Zumindest bei uns Männern. Entsprechend hämisch waren die Kommentare ausgefallen, als unser Chorleiter die Noten von This joyful Eastertide ausgeteilt hatte. Zu behaupten, unsere Erwartungen seien noch unterboten worden, wäre indes falsch. Erwartet hatten wir eine Basslinie, die wie die von Ding! Dong! Merrily on high durch ihre Stumpfheit entsetzte. Die von This joyful Eastertide hingegen war einfach nur in einer mir bis dato unbekannten und nicht klar zu benennenden Weise abartig. Gleiches galt für sämtliche andere Aspekte des Stückes.
Die Strophentexte bestanden durchweg aus Wortkombinationen, deren Klang einen befremden musste: ‹Till Trump from east to west› oder ‹Death’s flood hath lost his chill›. Wer gedacht hatte, harte Konsonanten in dichter Abfolge gäbe es nur in der deutschen Sprache, wurde hier eines Besseren belehrt. Erschwerend kam hinzu, dass Herr Kaiser traditionsgemäß auf überdeutliche Aussprache bestand. Was ein Wer nur den Gott lässt walten mitunter unfreiwillig komisch machte, bewirkte bei einem This joyful Eastertide, dass es erst sein gesamtes groteskes Potential entfaltete.
Das letzte Wort jeder Strophe wurde im Bass durch eine Tonfolge hervorgehoben, die auf allerlei Sprünge setzte. Eine Tonfolge, die sich offenbar besonders kunstvoll vorkam. Kunstvoll genug, um sich missverstanden zu fühlen, hätte sie ein Empfinden gehabt und gemerkt, wie sehr sie uns auf die Nerven ging. Sie nahm die eigentlich schlimmen Zweidrittel des Stücks vorweg: den Refrain.
Jener begann mit einer Tonfolge, die sich ebenso besonders kunstvoll vorkam. Zugleich zielte sie in penetranter Art und Weise darauf ab, im Ohr hängen zu bleiben. Man musste ihr zuerkennen, dass sie damit Erfolg hatte. Was folgte, war ein kurzes Innehalten auf den Worten ‹Our faith had been invain›. Es war das einzige, die als kompositorisch gelungen zu betrachten war. Dafür gab es einen ganz einfachen Grund. Wie Philipp und mir beim Durchhören etlicher Midi-Dateien von CPDL nämlich nicht hatte verborgen bleiben können, war es Note für Note von einem Werk von Heinrich Schütz geklaut. In allen vier Stimmen.
Das Innehalten war die Ruhe vor dem Sturm, dem ‹but now hath Christ arisen›. Worte, die Volker, wie gesagt, zu ‹hath Christ beschissen› umgedichtet hatte. Das hatte er wahrhaftig nicht ohne Grund. Das Wörtchen ‹arisen› nämlich war es, um dass sich letztlich alles drehte. Drei Mal wurde es gesungen. Die ersten beiden Male beschränkte sich Charles Wood auf die Verwendung unappetitlicher Tonleitern. Beim dritten Mal kam eine Tonfolge, die sich nicht einfach nur kunstvoll vorkam, sondern sich für ein zeitloses, wegweisendes Meisterwerk hielt. Sie war überdies ekelhaft hoch.
Es verstand sich von selbst, dass sie zentrales Angriffsziel unseres Spotts war. Wann immer Philipp und ich auf das Stück zu sprechen kamen, grölten wir sie unter Missachtung sämtlicher künstlerischer Regeln. Jede Note dröhnte kehlig aus unseren Mündern hervor, wurde genauso stark betont wie die vorherige und begann mit einem deutlich vernehmbaren H: «A-ha-ri-hi-hi-hi-hi-hi-hi-hi-hisen.» Frau Siebenkittel hätte selbst zu Vorchorzeiten kein Erbarmen gekannt, wenn sie das gehört hätte.
Immerhin, in einer Hinsicht war This joyful Eastertide ein Erkenntnisgewinn. Dadurch, dass mir jetzt einmal wirklich alle Haare zu Berge gestanden haben, wusste ich, wie viele ich davon eigentlich hatte. Das musste Musik erst einmal schaffen.
Volker lehnte nicht nur This joyful Eastertide, sondern auch Preis und Anbetung von Josef Rheinberger. Das Stück sei ihm zu bayerisch, sagte er.
Ich verstand sehr gut, was er damit meinte, nicht jedoch, was er daran schlecht fand. Ich liebte dieses Werk. In den ersten Tönen lag eine Ruhe, die mir das Bild einer steinernen Dorfkapelle vor Augen holte. Sie war umgeben von Fachwerkhäusern, deren Fassaden keinen Schmutz zu kennen schienen. Auf der einen Seite des Dorfes lag ein idyllischer See, auf der anderen hoben sich mächtig die Alpen empor. Der Himmel war von einigen weißen Wolken durchzogen, ansonsten aber strahlend blau.
Das änderte sich im Mittelteil. Hier sangen erst der Alt, dann unter der Führung von Zwergo der Tenor und schließlich wir Bässe: ‹Weit über Erde und Himmel› Die Harmonien gaben einem eine Ahnung davon, welch unglaubliche Gewalt es war, die man besang. Der Himmel tat das seinige dazu und hüllte sich in längliche Wolkenschwaden, die da, wo es nötig war, von Sonnenstrahlen durchdrungen wurden. Das Dorf und die es umgebende Natur wurden für eine Weile in ein färbendes Licht getaucht.
Bald aber kehrte der Anfangsteil des Stückes, die Ruhe und das strahlende Blau zurück. Daran vermochte auch das darauffolgende Alleluja nichts zu ändern. Es klang eher zuversichtlich als festlich. Erstaunlich, dass das Wort Alleluja so klingen konnte. Aber ich staunte ja auch immer wieder darüber, was in dem Wörtchen Gott so alles steckte, wenn man es nicht sprach, sondern sang. Dann waren da plötzlich wirklich all die Gefühle: die Geborgenheit, die Zuversicht, die Ehrfurcht, von der in der Kirche immer geredet wurde, von denen in der Kirche aber nichts zu spüren war.
Preis und Anbetung war ein Stück, das ich gerne auch zuhause wieder und wieder gehört hätte. Es war wirklich ein Jammer, dass es weder eine Aufnahme noch eine Midi-Datei davon gab.