Ein herber Verlust

Perlen von Holstein Folge 168

April 2007

Es war Freitag. Die Probe lief bereits eine halbe Stunde, als wir hörten, wie die Tür geöffnet wurde. Ein Ereignis, für das nur zwei mögliche Ursachen in Frage kamen. Ursache Eins: Der Hausmeister hatte irgendein Anliegen vorzutragen, das keinen Aufschub duldete. Ursache Zwei: Jemand besaß den Mut, derart massiv zu spät zu kommen.

Der Wutausbruch unseres Chorleiters ließ keinen Raum für Zweifel.

«Max-Frederick, wo kommst du jetzt her?», brüllte er.

«Ja, von zuhause?», brüllte Max-Frederick zurück.

Philipp und ich lachten.

«Max-Frederick, es war eine ernst gemeinte Frage!», sagte Herr Kaiser.

«Ja – das war eine ernst gemeinte Antwort –», erwiderte Max-Frederick.

«Ja, warum kommst du denn jetzt erst?»

«Verplant –»

Das war gewiss keine Antwort, die unseren Chorleiter zufriedenstellte. Schon Opa Max hatte schließlich gewusst: ‹Wer keine Ausrede weiß, ist es nicht wert, in Verlegenheit zu geraten.› Max-Frederick hätte sicher eine Ausrede gekannt, hätte er sich die Mühe gemacht, sich eine einfallen zu lassen. Nur hatte er dazu offensichtlich keine Lust gehabt.

In der Pause erfuhr ich den Grund für sein Zuspätkommen.

«Ach, weißt du, ich hab’ vorhin noch World of Warcraft gezockt und halt gesehen, dass jetzt Probe ist und ich los muss. Weil das aber grad so geil war, hab’ ich mir gesagt: ‹Scheiß drauf!›, und einfach weiter gespielt, hahaha.»

Drei Wochen später kam Max-Frederick mir auf dem Weg zum Probenraum entgegen.

«Ey, Lennart», sagte er und kam dann gleich zur Sache: «Ich hör auf.»

«Wieso?», erwiderte ich etwas verdutzt.

«Ach, ich hab kein’ Bock mehr auf diesen ganzen Kack, den wir singen, dieses französische und so. Und dann die Knaben, die dauernd nur verkacken.»

Er gab mir noch ein letztes Mal die Hand und verschwand durch die Tür.

Es war alles so schnell gegangen, dass es ein wenig dauerte, bis ich wirklich begriff, was da soeben passiert war: Max-Frederick war aus dem Neuen Knabenchor Hamburg ausgetreten. Nach rund zehn Jahren Mitgliedschaft.

Ich konnte mich darüber nur verwundern. Sicher, Max-Frederick hatte oft genug deutlich gemacht, wie wenig Lust er hatte. Dennoch war ich immer davon ausgegangen, dass er im Grunde seines Herzens gerne hierher kam. Sein Austritt kam für mich wirklich völlig überraschend.

Ob tatsächlich das gegenwärtige Repertoire, namentlich Notre Père, dafür verantwortlich war? Hatte er wirklich eine Gesinnung, die es ihm unmöglich machte, ein einziges französisches Stück zu singen? Ich konnte es mir irgendwie nicht vorstellen. Zwar hatte er in Prag reichlich auf Land und Leute geschimpft, doch war das wohl vor allem den Umständen geschuldet gewesen. Zudem hatte er in Dresden munter weitergeschimpft. Dazu kam, dass in seiner Chormappe ein Aufkleber irgendeiner antifaschistischen Ninja-Gruppe geklebt hatte. Seine Abneigung betraf also allenfalls die französische Sprache. Als Grund hierfür konnte ich mir eigentlich nur ein Unterrichtstrauma vorstellen. Meine einst durchaus positive Meinung zum Lateinischen hatte in der Schule schließlich auch erheblich gelitten. Das jedoch wäre kein Grund für mich gewesen, aus dem Chor auszutreten. Lateinisch singen war ja nun doch etwas völlig anderes als Latein zu übersetzen. Max-Fredericks Weggang hatte wohl definitiv einen anderen Grund. Einen, den Max-Frederick nicht nennen wollte.

Es mochte den einen oder anderen geben, der jetzt erleichtet aufatmete. Für mich aber war Max-Fredericks Ausscheiden ein Verlust. Mit seiner schlechten Laune hatte er es immer wieder geschafft, mir den Tag zu versüßen. Ohne seine Pöbel-Orgien wäre die Prag-Reise sicher nur halb so lustig gewesen. Von den vielen, vielen Proben, in denen die Knaben mal wieder nur Schiefklang produziert hatten, einmal ganz zu schweigen. Doch was half mir alles Trauern? Max-Frederick war weg. Er würde sich nur schwer ersetzen lassen.

Beim Betreten des Probenraums kam mir Georg entgegen, unser frisch gebackener Tenor. Die pure Mordlust stand ihm ins Gesicht geschrieben.

«Mann, ey, ich hasse Holzbläser!», zischte er.

«Ähm, Georg», erwiderte ich, «ich bin selbst Holzbläser.»

«Ich hasse Holzbläser, die nicht spielen können!»

Darauf fiel mir nun keine gescheite Antwort ein. Ich wusste: Georg war Trompeter in irgendeinem Nachwuchsorchester. Nach seinen Maßstäben konnte ich ganz bestimmt nicht spielen. Meine Einstellung zum Üben war immer noch dieselbe wie vor vier oder fünf Jahren. Mein dürftiges Spiel war mir mittlerweile zwar recht peinlich, aber um daran aktiv etwas zu ändern, war der Leidensdruck dann doch nicht groß genug. Von daher geriet ich völlig zu Recht nun in arge Bedrängnis, meinte ich. Doch Georg war längst dort angekommen, worauf er eigentlich die ganze Zeit hinausgewollt hatte.

«Ey, kennst du den, Lennart?», fragte er, «Was ist ein Vierteltonintervall?»

«Zwei Oboen im Unisono», erwiderte ich. Natürlich kannte ich diesen uralten Witz.

«Haha, genau. Und was macht man, wenn man ein echtes Unisono haben will?»

«Einen Oboisten erschießen.»

«Hahaha, richtig. Weiß du, das lustige an diesem Witz ist ja, dass er eigentlich kein Witz ist. Bei uns im Orchester, wenn da die beiden Oboen zusammen spielen, das ist immer sowas von schief.»

«Dafür seid ihr Blechbläser immer besoffen.»

«Haha, na klar und das geilste ist: Wir können trotzdem immer perfekt spielen. Bei uns im Orchester ist tatsächlich so einer, der hockt jede Nacht bis um Vier in der Kneipe rum, ist am nächsten Tag beim Konzert noch völlig hacke und spielt dann ein astreines Solo. Das möchte ich mal bei ’nem Holzbläser erleben. Aber noch schlimmer sind Streicher. Was ist der Unterschied zwischen Geige und Bratsche –? Bratsche brennt länger. Wann klingt eine Bratsche am schönsten –? Leise knisternd im Kamin.»

«Warte», sagte ich, «kennst du den? Ein Klarinettist und ein Bratscher streiten sich so heftig, dass der Dirigent schließlich eingreifen muss. Er fragt: ‹Was ist eigentlich los bei Ihnen da hinten?› Darauf der Klarinettist: ‹Dieser bescheuerte Bratscher hat alle meine Klappen verbogen, ich kann nicht mehr spielen.› Der Dirigent dann so zum Bratscher: ‹Was haben Sie dazu zu sagen?› Und der Bratscher flennt dann los: ‹Der Klarinettist ist so gemein! Er hat eine meiner Saiten verstimmt und er will mir jetzt einfach nicht sagen, welche!›»

Ein Witz, mit dem mein Klarinettenlehrer jüngst einen beträchtlichen Lacherfolg bei mir erzielt hatte. Auch Georg war begeistert.

«Hahaha, das ist wirklich geil, hahaha.»

Dann begann er von Stücken zu erzählen, die ihn begeisterten. Sprach Georg von Stücken, die ihn begeisterten, fiel früher oder später ein Satz, der auf den Worten endete: ‹ja, für Trompete.› Entweder, weil das Stück, das ihn begeisterte, eine Trompetenstimme beinhaltete, oder aber, weil es für Trompete arrangiert worden war.

Von Also hat Gott die Welt geliebt gab es wahrscheinlich kein Trompetenarrangement. Zumindest keines, das Georgs Virtuosität gerecht geworden wäre. Georg schwärmte trotzdem dafür. Mit leuchtenden Augen setzte er sich an das Klavier.

«Ey, zieh dir mal diesen Akkord hier rein», er spielte den ersten Akkord, «Und jetzt diesen hier», er spielte den zweiten Akkord, «Heinrich Schütz ist echt so ein geiler Komponist, ey. Bei dem ist wirklich jeder Klang geil.»

Georg hätte wohl noch weitere Beispiele hierfür liefern können, doch Herr Kaiser forderte uns auf, uns an unsere Plätze zu begeben. Die Probe begann.

Mein Sitznachbar war Philipp. Der wartete schon ganz gebannt darauf, dass die Knaben wieder Schiefklang produzierten. Produzierten die Knaben nämlich Schiefklang, ließ Herr Kaiser sie alleine singen. Und wenn Herr Kaiser die Knaben alleine singen ließ, konnte Philipp demonstrativ die Hand hinter das rechte Ohr legen. So saß er dann da und wartete darauf, dass die Knaben von der Intonation abwichen. Meist dauerte es nicht lange – im Schnitt drei bis fünf Töne – da konnte er bereits verkünden: «Schon zu tief.» Richtig lustig wurde es aber erst, wenn er genaue Angaben machen konnte, wenn er also zum Beispiel sagte: «Schon einen Halbton zu hoch.» Das war so wundervoll kleinlich, so herrlich besserwisserisch, so die eigene Arroganz zelebrierend: Es konnte kein Auge trocken bleiben. Übertroffen wurde es eigentlich nur von den Momenten, in denen es selbst Philipp die Sprache verschlug, wie sehr die Knaben gesackt waren.

Heute durfte ich erfreut feststellen, dass Philipp sein Repertoire sinnvoll erweitert hatte. Als Herr Kaiser die Knaben alleine singen ließ, legte Philipp nicht nur die Hand hinter das rechte Ohr, er sagte auch: «Klappt nicht.»

Ich kicherte.

«Klappt nicht», sagte Philipp wieder.

Ich kicherte noch mehr.

«Guck dir doch an, wie die Knaben da sitzen! Da siehst du doch schon, dass das wieder nicht klappt.»

Die Knaben setzten ein und wurden innerhalb von drei Tönen eine Quarte zu tief. Philipp und ich schüttelten uns vor Lachen.