Folgenschwere Ernährungsberatung
Perlen von Holstein Folge 172
August 2007
Als wir in Glücksburg ankamen, war mir speiübel. So war das erste, was ich von unserer Unterkunft kennenlernte, die Gemeinschaftstoilette. Als ich von dort zurückkehrte, hatte sich der Füllstand meines Magens deutlich reduziert. Potential für weitere Entleerungen war aber deutlich spürbar noch vorhanden. Ich ging deshalb zu Heidi und Peter und bat um Reisetabletten.
«Reisetabletten habe ich leider keine mitgebracht», sagte Heidi, «Ich könnte dir höchstens ein Zäpfchen anbieten, wenn du das nehmen willst.»
Man mochte mich undankbar nennen, aber: Nichts lag mir ferner.
«Also, da kotze ich lieber noch ein zweites Mal, bevor ich mir irgendwelche Sachen in den Arsch stecke», erwiderte ich.
«Genau», pflichtete mir Zwergo bei, «Das ist eine Einbahnstraße!»
Wir brachen in ein Gelächter aus, das mich alle Übelkeit vergessen ließ. Alles war wieder gut. Was auch immer daran schuld war, dass ich schon beim Aufwachen heute Morgen eine Magenverstimmung verspürt hatte, es konnte mir nicht mehr schaden. Ich war jetzt in Sicherheit. Ich war beim Chor.
Glücksburg war für mich kein unbekannter Ort. Ich war vor acht Jahren irgendwo in der Nähe auf Klassenreise gewesen. Eine der zu unserem Leidwesen unternommenen Wanderungen hatte uns nach Glücksburg geführt. Der einzige Grund, dass ich mich daran aber überhaupt noch erinnerte, war wohl der prägnante Name dieses Ortes. Ich wusste, dass wir das Schloss Glücksburg besucht hatten und ich hatte noch ein Bild von dessen weißer Fassade im Kopf. Wir hatten vorher im Unterricht auch irgendetwas darüber gelernt. Es genügte ja bekanntermaßen nicht, mit Schülern irgendwo hinzugehen. Es musste auch durch Unterrichtsinhalte jedwedes Interesse am besuchten Gegenstand im Keim erstickt werden. Ich erinnerte mich daran, dass eine Lehrerin uns erzählt hatte, dass das Schloss mit seiner Halbinsel-Lage vor feindlichen Angriffen sicher gewesen sei. Damalige Kanonen hätten nur einige Meter weit schießen können. Man konnte ihr nur raten, mal ein wenig Empire Earth zu spielen. Das räumte mit derartigen Mythen sehr schnell auf.
Ich erinnerte mich also kaum an Glücksburg. Ich hatte auch nichts wiedererkannt, als wir vorhin angekommen waren. Das würde wohl auch der Fall sein, wenn ich irgendwann noch einmal hierherkommen sollte. Wir waren schließlich nicht angereist, um Land und Leute kennenzulernen. Glücksburg war der Ort unserer diesjährigen Probenwoche.
Nun standen wir alle in einer Art Foyer versammelt und wurden von Herrn Kaiser über allerlei Formalitäten aufgeklärt. Während er redete, begab sich ein Knabe zum bereitstehenden Snackautomaten und kaufte sich eine Tüte Gummibärchen. Unser Chorleiter jedoch riss sie ihm eiskalt aus der Hand.
«Leute», sagte er, «wenn es verboten ist, irgendwelche Süßigkeiten mitzubringen, dann ist es natürlich auch verboten, irgendwelche Süßigkeiten zu kaufen. Dass da ein Automat herumsteht, braucht euch nicht zu interessieren.»
Anderthalb Jahre war es her, dass Laurence einen Koffer voll Knoppers mit nach Lüneburg genommen hatte. Anderthalb Jahre war es her, dass Marc das als Anlass genommen hatte, die Mitnahme von Süßigkeiten zu verbieten. Marc war nicht mehr da. Laurence hatte ich ebenso seit Monaten nicht mehr gesehen. Das Süßigkeiten-Verbot aber bestand fort. Herr Kaiser hatte es gar zur Chefsache erklärt.
«Wisst ihr», hatte er dazu gesagt, «mir ist durchaus schon aufgefallen, dass immer die Knaben bei der Probe am wenigsten konzentriert sind, die vorher am meisten Süßigkeiten gegessen haben. Es ist doch klar: Wenn ihr euren ganzen Bauch mit Süßigkeiten vollstopft, ist für das Mittagessen kein Platz mehr. Und dann habt ihr natürlich in der Probe wieder Hunger habt, weil ihr nichts Ordentliches gegessen habt.»
Der Knabe bekam seine Tüte wieder. Ihm wurde jedoch das Versprechen abgenommen, sie bis zur Rückfahrt nicht anzurühren. Solange wurde gegessen, was auf den Tisch kam. Und das war, wie Philipp in voller Lautstärke bemerkte, als wir an der sperrangelweit geöffneten Küchentür vorbeiliefen: «Wieder herrlichstes Pseudo-Essen!»
Zu diesem Pseudo-Essen zählt unter anderem pappige Nudeln mit fader Sauce, klumpiger Kartoffelbrei und natürlich das köstliche Schnitzel Braunauer Art – zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl. Als Nachtisch gab es selbstgemachten Pudding und jenes ganz bestimmt nicht selbstgemachte Eis, das man öfter in Jugendherbergen bekam. Es wurde in weißen Plastikbechern gereicht. Jene schienen aus einer Zeit zu stammen, in der der Begriff ‹industrielle Massenfertigung› noch ausgesprochen positiv besetzt gewesen war. Für den einigen Farbtupfer sorgten die Inhaltsstoff-Angaben, die man den gesetzlichen Vorgaben entsprechend auf den Deckel gedruckt hatte. Welche das waren, wollte man eigentlich gar nicht wissen. Ein kurzer Geschmackstest verriet, dass Zucker vielleicht nicht die gesündeste der verwendeten Zutaten war, wohl aber die einzig natürliche. David und ich amüsierten uns köstlich darüber.
«Reich an Emulgatoren.»
«Mit den Vitaminen B, A, S und F.»
Philipp widmete sich indes seiner Beilage.
«So ein köstlicher Rohkostsalat», sagte er.
Ich bekam einen Lachanfall.
«Hahaha, ‹Rohkostsalat›»
«Ja, das heißt so», entgegnete Philipp.
«Aber wie herrlich abfällig du das schon wieder aussprichst, hahaha. Und wie herrlich abfällig das Wort alleine schon klingt, hahaha. ‹Rohkostsalat›, hahaha.»
Für ähnlich viel Gesprächsstoff sorgte das einzig angebotene Getränk, eine saftähnliche, rötliche Flüssigkeit.
«Ey, habt ihr das schon probiert?», fragte Georg, «Das ist wirklich sowas von eklig, Alter.»
Nathanael machte die Probe aufs Exempel. Er führte das Glas an seinen Mund und leerte es ohne Rücksicht auf Verluste. Eine Millisekunde später hatte sich sein Gesicht bereits zur einer grotesken Fratze verzehrt.
«Hoho», sagte er, «Wie haben sie bei meinem Auslandsjahr in Amerika immer gesagt: Yikes!»
Seine schnurrig-nasale Stimme verlieh dieser ohnehin schon komisch klingenden Interjektion einen einzigartigen Klang. Wir lachten uns tot.
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es gibt wohl viele Gründe, sein Kind nicht zu einem Internatschor zu schicken. Der wohl triftigste sind die in Massenunterkünften üblicherweise angebotenen Speisen. Wie ernst das Gejammer darüber zu nehmen ist, zeigte sich vor über fünfhundert Jahren beim altehrwürdigen Thomanerchor. 1513 geschah es, dass innerhalb weniger Tage Thomaskantor, Thomasorganist, zwei Stadtpfeifer und zwanzig Sänger eines qualvollen Todes starben. Als Ursache stellte sich rasch das Katzenfleisch heraus, das ein Gastwirt ihnen untergejubelt hatte.
Welch ein Segen es doch immer wieder war, dass wir Männer vom Süßigkeiten-Verbot ausgenommen waren. Gleich nach dem Mittagessen begaben wir zum heimeigenen Kiosk, um unser Privileg zu genießen. David genoss es in vollen Zügen. Gleich drei Packungen Kinder Schokolade kaufte er. Jedoch nicht als Vorrat für die folgenden sieben Tage, sondern als Mahlzeit für die kommende halbe Stunde. Unter unserem wilden Gelächter stopfte er einen Riegel nach dem anderen in sich hinein.
«Alter, du bist ja voll süchtig, Mann», sagte ich.
«Ja, hihi, bin ich auch», erwiderte David, begab sich zum Kiosk und kaufte noch zwei Packungen.
Und somit war klar: Uns stand einmal mehr eine ereignisreiche Probenwoche bevor.