Volkskunde
Perlen von Holstein Folge 179
Unser Englischlehrer in der achten Klasse war ein geschätzter und zugleich gefürchteter Mann gewesen. Geschätzt worden war er, weil er bei aller Frustration über unser himmelschreiendes Unvermögen stets seinen Witz bewahrt hatte. Auf falsche Antworten hatte er schon einmal entgegnet: «Wenn ich sowas höre, da kriege ich Pickel an Stellen, an denen man keine kriegen möchte.» Gefürchtet worden war er, weil er mit dem gleichen Witz deutlich machen konnte, wer hier das Sagen hatte. Seine übliche Drohung hatte gelautet: «Sonst treffen wir uns heute um fünfzehn Uhr.» Schon damals hatte ich mich in erster Linie darüber amüsiert. Inzwischen hätte ich wohl erwidert: «Tut mir Leid, da habe ich Unterricht. Siebzehn Uhr könnte klappen.» Das neue Schuljahr hatte mir einen Stundenplan beschert, der auf mein Bedürfnis nach sinnvoll nutzbarer Freizeit wenig Rücksicht nahm. Den ersten Unterricht hatte ich um acht Uhr morgens, den letzten an manchen Tagen um fünf Uhr nachmittags. Dazwischen klafften Löcher von zwei, zum Teil sogar drei Freistunden. Krönenden Abschluss bot jede Woche ein Freitag, an dem ich acht Stunden durchgehend Unterricht hatte und dann direkt zum Chor fahren musste.
Unseren Kurztrip nach Magdeburg würde ich theoretisch sogar verpassen: Der Bus fuhr um fünfzehn Uhr vom Bahnhof Dammtor ab. Zehn Minuten bevor mein Unterricht am Gymnasium Finkenwerder aufhörte. Ich schrieb Herrn Kaiser deshalb eine E-Mail und bat darum, mir eine Schulbefreiung auszustellen. Um zu demonstrieren, wie solidarisch ich zuweilen sein konnte, wies ich darauf hin, dass andere Männer wohl auch eine bräuchten. Nach meinem Kenntnisstand waren das David und Imanuel. Ich erhielt von unserem Chorleiter ein Lob und die gewünschte Schulbefreiung.
David hatte tatsächlich die Befreiung benötigt, Imanuel eher weniger. Grinsend nahm er mich am Bahnhof Dammtor in Empfang.
«Hey, Lennart», sagte er, «Ist ja wirklich nett von dir, dass du mir eine Schulbefreiung besorgt hast, aber ich habe am Freitag nur zwei Stunden Unterricht. Wie kommst du darauf, dass ich bis zur achten habe?»
«Hattest du das nicht erzählt?», erwiderte ich.
«Nein, das habe ich bestimmt nicht erzählt, haha. Aber ich finde das echt so geil, dass du dachtest, dass ich eine Schulbefreiung brauche. Ich glaube, ich rahme mir die ein.»
Das hatte man also von seiner Solidarität.
Ein Wochenende würden wir in Magdeburg verbringen. Viel von der Stadt sehen würden wir in dieser kurzen Zeit wohl kaum. Laut Chorplan würde sich das Sightseeing auf eine Führung durch den Dom und dessen Umgebung beschränken. Eines würden wir in jedem Falle nicht kennenlernen: Eine Magdeburger Jugendherberge. Zum ersten Mal seit der Amerika-Reise würden wir bei Gastfamilien untergebracht sein. Der Magdeburger Knabenchor hatte zur Chorbegegnung eingeladen. Zwei gemeinsame Konzerte würde man mit uns geben. Dazwischen würde man uns beherbergen und bewirten.
Zwergo führte dazu aus: «So eine Chorbegegnung hatten wir bisher erst ein einziges Mal, vor fünfzehn Jahren in Jena. Ich kann euch sagen, dass das etwas ganz Besonderes ist, einmal fremden Menschen zu begegnen, die das gleiche machen, wie man selbst. Dabei können Freundschaften fürs Leben entstehen. Das war in Jena damals nicht der Fall, aber schauen wir mal.»
Die Verteilung auf die Gastfamilien geschah in der düsteren Aula irgendeiner Magdeburger Schule. Sie geschah, ohne dass wir Einfluss auf irgendetwas hätten nehmen können. Ein Herr stellte sich nach vorne und trug den Inhalt einer offenbar von ihm ausgefertigten Liste vor. Ich würde mit Frans bei einer Familie wohnen.
Unsere Gasteltern begrüßten uns freundlich und trugen unsere Koffer zu ihrem Auto. Über eine Autobahn ging es zu einer Plattenbausiedlung. Unsere Gasteltern wohnten im dritten Stock. Sie hatten zwei jugendliche Söhne, von denen wir jedoch nur einen kennenlernen würden. Der andere schlief an diesem Wochenende auswärts. Derjenige, der zuhause geblieben war, würde im Wohnzimmer übernachten. Ich erhielt sein Zimmer, Frans das seines Bruders. Der Raum, in dem ich schlief, war wohlgemerkt das Durchgangszimmer des Raumes, in dem Frans schlief. Sie waren beide zudem nicht sonderlich groß. Ich vermutete, dass es sich ursprünglich um ein großes Zimmer gehandelt hatte. Zur Reduzierung von Konflikten hatte man es irgendwann geteilt. Oder konnten Zimmer in Wohnungen tatsächlich so eng sein? Ich wusste es nicht zu sagen. Seitdem ich vier war, hatten wir immer komplette Häuser bewohnt.
So beengt die Verhältnisse waren, so üppig war das Abendessen. Die Gasteltern ließen es wirklich an nichts fehlen. Der Sohn machte ebenso unmissverständlich klar, wer hier heute im Mittelpunkt stand. Ich deutete nur an, heute Abend Musik hören zu wollen, da sprang er auch schon auf und brachte mir einen teuer aussehenden Kopfhörer.
Unsere Gespräche drehten sich um unsere Chorerfahrungen.
«Unsere Knaben sind manchmal so krass schlecht», sagte ich, «Was die teilweise zusammensingen, kannst du dir echt nicht anhören. Das liegt aber vor allem daran, dass die sich überhaupt keine Mühe geben. Und dann sind die auch noch immer derbe frech zu uns. Was die zum Teil machen, hätten wir uns früher alles gar nicht getraut.»
«Ach», erwiderte er, «das ist mit unseren Knaben ganz genauso.»
Eine Aussage, die Herrn Kaiser wohl wenig überrascht hätte. Nach seinen Angaben war es in jedem Knabenchor der Welt so, dass sich die Männer über die Knaben beklagten.
Nach dem Abendessen begann die Planung für den nächsten Morgen.
«Wir wecken euch morgen so gegen Acht», sagte die Gastmutter, «Um viertel zehn fahren wir dann los.»
«Viertel vor oder viertel nach zehn?», entgegnete ich, «Aber sagen Sie mal: Ist das nicht beides ein bisschen spät, wenn wir um zehn da sein müssen?»
Die Gastmutter sah mich einen Augenblick verwundert an, ehe sie begriff.
«Ach so, ihr seid ja aus dem Westen», sagte sie, «Also: Bei uns im Osten sagt man nicht viertel vor und viertel nach, sondern viertel und dreiviertel. Viertel zehn heißt 9 Uhr 15.»
Eine doch recht unverhoffte sprachliche Eigenart, die ich ohne diese Reise wohl niemals kennengelernt hätte.
Der Abend sollte mir als einer der langweiligsten in Erinnerung bleiben, die ich seit meinem Wechsel in den Männerchor auf einer Chorfahrt erlebt hatte. Frans und ich lagen in unserem jeweiligen Zimmer auf dem Bett und hörten Musik. Um auf den Putz zu hauen, waren wir einfach nicht genug Leute. Und selbst wenn wir genug gewesen wären: In dieser Umgebung hätte sich wohl selbst ein Max-Frederick einigermaßen regelkonform verhalten. Gasteltern sollten einen guten Eindruck von einem bekommen. Sie waren schließlich keine Herbergsväter. So kam erst am Frühstückstisch ein wenig Chorfahrtstimmung auf. Im Radio spielten sie ein in Magdeburg offenbar gerade populäres Lied.
«Alle Kinder werden groß, la, la, la, la –», tönte es aus tausend Kinderhälsen.
Frans und ich kicherten.
Treffpunkt war der Platz vor dem Magdeburger Dom. Als Frans und ich dort eintrafen, standen bereits etliche Chormitglieder hier versammelt. Erstes Gesprächsthema waren natürlich unsere Erfahrungen in den Gastfamilien. Frans und ich erzählten von der Plattenbauwohnung und von Alle Kinder werden groß. Imanuel berichtete: «David und ich wohnen in einem Keller von so einem riesigen Einfamilienhaus. Das ist fast schon ’ne Villa. Wir haben sogar ein eigenes Esszimmer. Unsere Gasteltern haben uns da heute Morgen ganz viele Cornflakes-Packungen hingestellt und einen Zettel danebengelegt, dass das alles für uns ist.»
Mit anderen Worten: Die reichen Gasteltern von David und Imanuel hatten keine wirkliche Lust, sich persönlich um ihre Gäste zu kümmern. Unsere, die weit weniger hatten, hatten dagegen weder Kosten noch Mühen gescheut. Es war doch erstaunlich, dass manche Dinge wirklich überall gleich waren.
Inzwischen waren sämtliche Chormitglieder eingetroffen. Auch Heidi, Peter und Herr Kaiser waren mittlerweile da. Die Dame mit dem Regenschirm konnte also endlich zur Tat schreiten. Sie trat in unsere Mitte und fing an, ohne Punkt und Komma zu reden.
«Das hier ist der Magdeburger Dom. Unser Wahrzeichen. Weltbekannt –»
«Klein!», hörte ich Georg sagen. Er stand mit verschränkten Armen neben mir und musterte mit kritischen Augen das Bauwerk.
Ich kicherte.
In der folgenden halben Stunde firmierte der Magdeburger Dom bei Georg und mir nur noch unter der Bezeichnung Dömchen. Dies teilten wir der Dame mit dem Regenschirm auch mit. Sie ließ sich davon nicht stören. Nachdem sie uns durch das Gotteshaus geführt hatte, bat sie darum, vor dem Altarraum unseren Chor hören zu dürfen. Herr Kaiser kam dem Wunsch gerne nach.
Vom Dömchen ging es weiter zur Grünen Zitadelle von Magdeburg, einem Hundertwasser-Bau. David war begeistert.
«Boah, geil, Hundertwasser. Wenn ich das gewusst hätte, Mann –», sagte er.
David war ein begeisterter Anhänger von Friedensreich Hundertwasser. In seinem Zimmer hing eine Zeichnung, die dem Stil des Künstlers nachempfunden war.
«Boah, guck mal», sagte David, «alle Fenster sind unterschiedlich groß und unterschiedlich geformt. Das ist typisch Hundertwasser, bei dem sollte nichts gleich sein. Und siehst du, wie schief das Haus an einigen Stellen wirkt und dass es fast keine geraden Linien gibt? Hundertwasser wollte in all seinen Gebäuden natürliche Formen haben. Der hat seine Häuser ursprünglich sogar absichtlich so gestaltet, dass sie irgendwann zusammenbrechen, weil er der Meinung war, dass sich die Natur alles irgendwann zurückholen muss. Das konnte er dann wegen der Bauvorschriften aber letztlich nicht so umsetzen.»
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es stellt sich die Frage, ob David immer noch so begeistert von Friedensreich Hundertwasser gewesen wäre, hätte er ihn einmal persönlich getroffen. Carl Maria von Weber äußerte nach einer Begegnung mit Goethe bekanntermaßen: «Man soll diese Heroen nur immer aus der Ferne anstaunen.»
Ich wusste zu alledem nichts zu sagen. Ich konnte nicht malen und nicht zeichnen. Frustrierende Erfahrungen im Schulunterricht hatten mir ein eher distanziertes Verhältnis zur bildenden Kunst beschert. Hundertwasser war mir nur deshalb ein Begriff, weil meine Mutter mich einst ins Hundertwasser-Café verschleppt hatte, damit ich nicht so viel am Computer saß. Mir war aber nur die kalte Suppe im Gedächtnis geblieben, nicht die Architektur.
«Mann, Alter», sagte David, «wenn ich das gewusst hätte, hätte ich natürlich meinen Fotoapparat mitgenommen.»
«Tja», erwiderte ich, «ich habe meinen diesmal auch nicht mit.»
«Stimmt, mir war auch schon aufgefallen, dass du gar nicht mehr ständig rumfotografierst.»
David klang erleichtert. Dabei hatte ich nicht an ihn gedacht, als ich mich bewusst dafür entschieden hatte, den Fotoapparat zuhause zu lassen. Ich hatte einfach eingesehen, dass die Zeiten vorbei waren, in denen ich durch alte Fotos und alte Geschichten in einen nostalgischen Rausch geriet. Welchen Sinn hatte es da, einen Fotoapparat mit sich zu führen?
David sollte sein Hundertwasser-Gedenkstück aber doch noch bekommen. Das Chorfoto dieser Reise wurde interessanterweise nicht vor dem Dömchen, sondern im Innenhof der Grünen Zitadelle aufgenommen.