Kein schöner Land

Perlen von Holstein Folge 180

Unseren ersten gemeinsamen Auftritt mit dem Magdeburger Knabenchor würden wir nicht in Magdeburg haben. Stattdessen ging es hinaus ins Grüne. Wer auch immer das zu verantworten hatte, er hatte alles richtig gemacht. Es war ein sonniger Herbsttag, der sich vortrefflich dafür eignete, fernab des städtischen Treibens ins Träumen zu geraten. Ich blickte aus dem Fenster und besah die Wälder, Wiesen und Felder, an denen wir vorbeikamen. Vereinzelte Jagdtürme zeugten davon, dass die Menschen hier noch im Einklang mit der Natur lebten. Wir waren wirklich in die vollkommene Idylle eingetaucht.

Es machte mir von daher nichts aus, dass die Fahrt bemerkenswert lange dauerte. Bestimmt anderthalb Stunden waren wir unterwegs, wenn nicht gar zwei. Auf den letzten Metern kam es dann noch einmal zu einer ganz besonderen Verzögerung: Weil es keine Brücke gab, mussten wir die Elbe am Bord einer Gierseilfähre überqueren.

Schauplatz unseres Ortes war ein Örtchen namens Sandau. Es erfüllte alle Ansprüche, die man an eine heile Welt stellte. Häuser und Vorgärten waren herausgeputzt, Straßen und Bürgersteige schienen aus Schmutz abweisendem Material zu bestehen. Es fiel in diesem Ambiente gar nicht auf, dass der Turm der Kirche St. Laurentius und St. Nikolaus ohne Spitze war. Vom Mauerwerk fehlte auf der obersten Etage ebenso ein großes Stück. Für mich wertete dieser Umstand das Bauwerk aber eher noch auf. Man fühlte sich in ein idealisiertes Mittelalter versetzt, wenn man auf diese Ruine mit ihren scheinbar frei schwebenden Glocken sah.

Ich bereute es tief und inniglich, meinen Fotoapparat nicht mitgenommen zu haben. So wenig das mit dem nostalgischen Rausch in letzter Zeit funktionieren wollte: der Anblick idyllischer Orte verfehlte seine Wirkung auch weiterhin nicht.

Bevor es ans gemeinsame Konzertieren ging, wurde erst einmal gegessen. Die Sandauer Kirchengemeinde lud ein zum großen Schmaus. Als Ort wählte man nicht etwa das Gemeindehaus oder deren Garten, sondern tatsächlich die Kirche selbst. Hier standen hinter den Kirchenbänken bierzeltartige Tische samt passender Sitzgarnituren. Das Essen war äußerst üppig und hätte mühelos fünf Knabenchöre satt gemacht. Als wahre Christen erwarteten die Sandauer hierfür keine Gegenleistung. Sie erbaten lediglich einen Eintrag in ihr Gästebuch. Heidi gab diesen Wunsch an unseren Chorleiter weiter.

«Warum soll ich mich denn jetzt in irgendein Gästebuch eintragen?», sagte der. Er wirkte beinahe ungehalten. So übernahmen Heidi und Peter diese Aufgabe.


Das gemeinsame Konzert mit dem Magdeburger Knabenchor bestand aus zwei Blöcken. Zuerst sangen wir, dann die Magdeburger. Ein gemeinsames Stück gab es nicht. Herrn Kaisers Verehrung für den Windsbacher Knabenchor hatte dies verhindert. Ursprünglich war geplant gewesen, dass wir alle zusammen Kein schöner Land sangen. Der Leiter des Magdeburger Knabenchors, Herr Satzky, hatte vorgeschlagen, dass wir den Satz sangen, den die Magdeburger schon immer gesungen hatten. Herr Kaiser hatte aber lieber den von einer CD der Windsbacher haben wollen. Ein Wunsch, den auch ich nur schwer nachvollziehen konnte. Bei dem Satz von der Windsbacher-CD handelte es sich um einen reinen Knabensatz. Wir Männer wären somit vom gemeinsamen Singen ausgeschlossen gewesen. Ich glaubte kaum, dass das Sinn und Zweck der Übung war.

Die Magdeburger sangen also alleine Kein schöner Land. Ich beneidete sie darum. Die Melodie und der von ihnen verwendete Satz brachten so wunderbar die Empfindungen zum Ausdruck, die ich in einer heilen Welt wie dieser empfand. Wie gerne hätte ich doch eine Aufnahme davon gehabt.

Ebenso zum Repertoire der Magdeburger gehörte Aller Augen warten auf dich, Herre von Heinrich Schütz. Wir hatten es 2003, 2005 und 2006 bekanntlich selbst im Repertoire gehabt. Lange genug, um bestens über das Stück Bescheid zu wissen. Herr Kaiser hatte deshalb vorsorglich angemerkt: «Die Magdeburger werden ein Stück singen, das wir auch schon einmal gesungen haben. Ich möchte keine Bemerkungen darüber hören, ob das besser, schlechter oder anders als bei uns ist, hört ihr? Ich möchte keine Bemerkungen hören!» Das wäre auch gar nicht nötig gewesen. Es klang nicht besser, nicht schlechter und allenfalls ein ganz klein wenig anders als bei uns.

Es war insgesamt schwer zu sagen, ob die Magdeburger besser oder schlechter als wir waren. Sie waren wohl tatsächlich in etwa gleich gut. In einem Punkt jedoch waren sie uns definitiv überlegen: Sie hatten ein eigenes Männerensemble, das unter dem Namen Junger Männerchor Magdeburg sogar eigene Konzerte gab. Mit mehrstimmigen Sätzen, wohlgemerkt. Man wollte vor Neid erblassen. Das galt erst recht, nachdem wir Der Speisezettel von Carl Friedrich Zöllner gehört hatten.

«Bratwurst, Pomeletten, Beefsteak, Koteletten, angeschlagene Kälber, schön gefüllte Tauben. Schinken mit Kartoffelsauce und Ragout», sangen sie in Close Harmony und schossen hinterher: «Krautsalat, -salat, -salat.» David und ich fielen vor Lachen beinahe von der Kirchenbank.

Das letzte Stück des Magdeburger Knabenchors war Irish Blessing, jedoch nicht im Satz von Bob Chilcott, den wir zu Siebenkittel-Zeiten immer gesungen hatten. Sie sangen jene Fassung, die man im Internet überall fand und von der ich Gottlob nicht wusste, wer sie zu verantworten hatte. Sie war nicht rührselig, sondern einfach nur nervig. Der ausgelassenen Stimmung tat das jedoch keinen Abbruch. Nachdem noch irgendein Kirchenverantwortlicher eine kleine Ansprache gehalten hatte, stürmten die Knaben der Magdeburger ungeordnet nach draußen.


Auf der Rückfahrt nach Magdeburg demonstrierte Zwergo erneut, dass er für uns Männer auch weiterhin Zwergo war. Er gesellte sich zu uns und sang mit uns Lieder aus vergangenen Tagen: Unser Leben ist ein Schatten, Wirf dein Anliegen auf den Herren und den Irish Blessing im Satz von Bob Chilcott.

Beim Wohl mir, dass ich Jesum habe gerieten wir dann ins Stocken: Ohne die Orgelbegleitung von Meister Jünne war es einfach nicht dasselbe. Zwergo versuchte, sie nachzusingen, scheiterte jedoch nach drei Takten. Sie war bei all ihrer Lieblichkeit eben zu kompliziert, um sie fünf Jahre nach ihrem letzten Erklingen noch auswendig zu können. Das traf sich wirklich gut. So hatte ich endlich Gelegenheit, einmal so richtig mit meinem neuen iPod anzugeben. Drei Wochen besaß ich das Gerät nun. Zeit, die ich fleißig genutzt hatte, alles auf es heraufzukopieren, was ich an Musik besaß. Dazu zählten natürlich auch sämtliche Aufnahmen unseres Chors.

Ich holte meinen iPod hervor, wählte Wohl mir, dass ich Jesum habe aus und drückte Zwergo das Gerät in die Hand. Der nahm es dankbar entgegen. Mit dem iPod in der Hand und einem schwelgerischen Grinsen im Gesicht sang er nun die Orgelbegleitung. Wir mussten so sehr darüber lachen, dass wir kaum dazu kamen, die Chorstimme beizusteuern.

Ein klares Zeichen dafür, dass es an der Zeit war, sich von der Hochkultur zu verabschieden.

David, Imanuel, Frans, Guido und ich sangen Tomatensalat. Zwergo hatte dazu einen Vorschlag zu machen: «Eigentlich könnte man das doch gut auch mal auf anderen Wörtern singen. Wie wäre es mit Latte macchiato.»

Wir versuchten es. Und scheiterten grandios. Fürwahr: Mit den Silben von Latte macchiato war das Lied der reinste Zungenbrecher. Zwergo wusste wirklich, wie man Dingen die Krone aufsetzte. Das bewies er auch, als wir nun Auf einem Baum ein Kuckuck saß anstimmten.

«Ich finde, um das Lied angemessen zu singen, muss man bei jedem Ku-ucuck immer einen Halbton steigen», sagte er.

Ein Einfall, den wir sogleich in die Tat umsetzten. Unser Gelächter darüber erfüllte den Bus noch, als wir vor dem Magdeburger Dömchen angekommen waren.