Hohe Funktionäre
Perlen von Holstein Folge 181
Einen Auftritt in der besten Adresse würden wir auch auf dieser Reise nicht haben: Das Dömchen blieb uns verschlossen. Wir würden aber immerhin in der zweitbesten Adresse singen dürfen, dem Kloster Unser Lieben Frauen. Im Magdeburger Knabenchor trug es den Spitznamen Kloster Ulf. Chorleiter Frank Satzky es einst in einem Chorplan so abgekürzt und das hatte sich in der Folge verselbstständigt. Knabenchor-Humor eben.
Das Kloster Ulf lag nur einen Steinwurf vom Dömchen entfernt, das heißt mitten in Magdeburgs Innenstadt. Mit seiner Fassade aus Sandstein, seinem Klostergarten und seinem Kreuzgang hätte es dennoch das Flair eines abgeschiedenen Ortes vermitteln können. Leider war es dafür heute entschieden zu voll. Die Bänke waren zu Konzertbeginn bis fast auf den letzten Platz gefüllt. In der ersten Reihe saß gar Politprominenz: Sachsens Kultusminister Jan-Hendrik Olbertz. Natürlich erfuhr ich das erst in dem Moment, in dem er sich als solcher zu erkennen gab. Gekannt hatte ich ihn vorher nicht. Gekannt hatten ihn wahrscheinlich nicht mal alle Magdeburger. Kannte ich sämtliche Hamburger Senatoren?
Jan-Hendrik Olbertz trat nach vorne und hielt eine kleine Ansprache. Er ließ es sich dabei nicht nehmen, die zwei hochkarätigen Ensembles vorzustellen, die sich hier heute die Ehre gaben.
«Der Neue Knabenchor Hamburg ging 1991 aus dem Hamburger Knabenchor St. Nikolai hervor. Brigitte Siebenkittel begründete eine Kooperation mit der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg», sagte er.
Sätze, die mir sehr bekannt vorkamen. Sie stammten aus dem Wikipedia-Artikel, den ich geschrieben, den Philipp durchgesehen und den Herr Kaiser abgesegnet hatte. Es war schön zu wissen, dass den auch jemand las und sei es gezwungenermaßen.
Herr Olbertz hatte sich logischerweise nicht unseretwegen heute hierher verirrt. Er war gekommen, weil dieses Konzert im Rahmen des 12. Jugendmusikfests von Sachsen-Anhalt stattfand. Besagtes Musikfest lief unter dem Motto ‹Kein schöner’ Land›. So erklärte sich auch, warum eigentlich geplant gewesen war, dass beide Chöre gemeinsam das gleichnamige Lied sangen. Nun ja, es hatte eben nicht sollen sein.
Nach dem Konzert wurden die Erinnerungsstücke an diese Reise ausgeteilt: T-Shirts. Auf der Vorderseite waren die Logos der beiden Chöre abgedruckt, auf der Rückseite stand ‹Chorbegegnung in Magdeburg 2007›. Eher etwas zum aufbewahren als etwas zum anziehen, wie ich fand, zumal wir die hässliche Variante abbekamen: Die mit blauer Schrift auf weißem Grund. Die schicken T-Shirts mit weißer Schrift auf blauem Grund erhielten die Magdeburger. Zum einen, weil sie ihre Exemplare im Gegensatz zu uns bezahlt hatten. Zum anderen, weil die T-Shirts beim nun folgenden Fußball-Turnier zur Unterscheidung dienen sollten.
Das Turnier bestand aus zwei Spielen. Erst spielten Knaben gegen Knaben, dann Männer gegen Männer. David und ich beteiligten uns an keiner der beiden Partien. Mit unseren motorischen Defiziten passten wir nicht ins Anforderungsprofil dieses gemeinschaftlichen Erlebnisses. So saßen wir am Tisch und tauschten uns über unsere iPods aus.
Während des Knabenspiels stieß Imanuel zu uns. Interessiert blickte er auf mein Display.
«Ach, hast du auch die Aufnahmen vom Jungen KonzertChor Düsseldorf?», fragte er.
In der Tat, die hatte ich. Bei meiner Suche nach Aufnahmen unserer Stücke war ich auf Internetseite und Hörproben dieses Chors gestoßen. Unter anderem waren dort Aufnahmen von Ubi Caritas und Kommt herzu, lasst uns fröhlich sein im Angebot gewesen. Ich fand sie nicht gerade überzeugend. Der Junge KonzertChor Düsseldorf war offenbar ein Chor mit deutlichem Damenüberschuss. Jedenfalls war an Harmonietönen nicht viel zu hören, man hörte eigentlich nur den Sopran. Und ein Haufen Weiber, die aller Welt zeigen wollten, wie viel ihnen das Singen gab: das konnte jedes Stück ruinieren. Ich zog, um ehrlich zu sein, die Midi-Dateien von CPDL den Aufnahmen des Jungen KonzertChors Düsseldorf vor. Genau das erzählte ich Imanuel.
«Ja», sagte er, «dass man nur den Sopran hört, ist wirklich ganz schön schrecklich. Das kann ich auch nicht leiden. Aber es ist halt schön, mal Aufnahmen von unseren Stücken zu hören und die nicht immer nur zu singen.»
Es war schon immer wieder erstaunlich, wie viel Imanuel und ich trotz allem gemeinsam hatten.
Die Busfahrt von Magdeburg nach Hamburg dauerte über drei Stunden. Das war für einen Wochenendtrip des Knabenchors ungewöhnlich lang. Zu lang, um sich die Zeit mit gesittetem Verhalten zu vertreiben. Kaum, dass wir auf der Autobahn waren, ging es auch schon los.
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
Für Zwergo ein Grund zu zeigen, dass er selbst für uns Männer manchmal eben nicht auch weiterhin Zwergo war.
«Leute, hört ihr mal bitte auf damit?», sagte er von seinem Platz aus.
David und ich machten weiter.
«Leute, jetzt mal ehrlich: Es nervt. Könnt ihr jetzt bitte damit aufhören?», sagte er von seinem Platz aus.
David und ich machten weiter.
Da stand Zwergo auf und begab sich zu uns.
«Leute, könnt ihr den Scheiß jetzt bitte einfach mal sein lassen?»
«Okay, wir hören auf –», erwiderte ich. In Zwergos Gesicht machte sich Zufriedenheit breit. Er konnte ja noch nicht wissen, worauf es hinauslief. «– und einigen uns darauf, dass die Seite gewonnen hat, die stärker ist. Und das ist natürlich An.»
«Nee, Aus!», sagte David. Und schon ging es weiter.
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
Da verlor Zwergo die Beherrschung. Er brüllte irgendetwas Zusammenhangloses, wobei er den Grundgedanken hinter dem An-Aus-Spiel allerdings recht gut in Worte fasste: «Weil ihr euch immer wieder gegenseitig anstachelt!» Dann rannte er zum Busfahrer. Er befahl ihm, sämtliche Service-Knöpfe und Lichtschalter im Bus zu deaktivieren. Der Busfahrer kam dem nach. Der Service-Knopf über unserem Platz erlosch.
Die Genugtuung stand Zwergo ins Gesicht geschrieben, als er zu unserem Platz zurückkehrte. Glaubte er denn wirklich, dass ein Licht tatsächlich an sein musste, um für David und mich an zu sein? Wir waren doch nun Menschen mit Fantasie.
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
«An-n-n-n-n-n-n!»
«Au-u-u-u-u-u-us!»
Zwergo rannte mit einer Geschwindigkeit durch den Bus, die tödlich geendet hätte, wäre nun eine scharfe Kurve gekommen. Keine zwei Sekunden später stand er wieder bei uns.
«Nein!», schrie er, «Nein! Es ist aus und es bleibt aus!»
Es war eigentlich klar, wie die Antwort darauf nur lauten konnte: ‹Was, Zwergo? Du stellst dich auf die Seite von Aus? Das finde ich jetzt mal wirklich unfair.› Ich verkniff es mir jedoch. Das Weiß in Zwergos Augen sagte, dass er zum Äußersten bereit war. Im Übrigen war ich stinksauer. Meine Güte, in neuneinhalb Jahren Marc hatte ich keinen solchen Ausraster erlebt. Und das wollte bekanntlich etwas heißen.
Es half alles nichts. David und ich mussten die Kampfhandlungen einstellen. Wir erörterten die möglichen Alternativen und entschieden uns fürs Singen. Singen würde ja wohl noch erlaubt sein. Singen war selbst bei Marc noch immer erlaubt gewesen. Mit Lärm im Bus hatte er eigentlich kein grundsätzliches Problem gehabt. Marc hatte in erster Linie verhindern wollen, dass Dinge zu Bruch gingen. Und wie sollte das passieren, solange man nur sang und nicht noch dazu trommelte?
David und ich sangen also: «Auf einem Baum ein Ku-uckuck –»
Keine zwei Sekunden später stand Zwergo wieder bei uns.
«Leute, ihr wisst, ich bin der letzte, der sagt, dass man auf Chorfahrten keinen Spaß haben soll», sagte er, «Und ja, es ist richtig, dass wir gestern alle eine Menge Spaß hatten und ich fand das auch gut. Irgendwann muss aber auch mal Schluss sein, okay?»
Nein, das war definitiv nicht okay. Uns das Singen grundsätzlich zu erlauben war okay. Uns das Singen grundsätzlich zu verbieten war okay. Es je nach Lust und Laune heute zu erlauben und morgen zu verbieten, das war nicht okay. Das war Willkürherrschaft. Das war etwas, dass es unter Marc nicht gegeben hätte. Marc war, was Regeln und deren Durchsetzung anbelangte, im Großen und Ganzen konsequent gewesen. Doch was sollte man machen? Marc war nicht mehr da.