Vor einer Million Zuschauer

Perlen von Holstein Folge 185

Ich hatte mir die ganze Zeit recht wenig aus der mutmaßlichen Größe unseres heutigen Publikums gemacht. Wie viele der Zuschauer sich in aktivem Zuhören üben würden, wussten wir schließlich nicht. Wie viele von ihnen überhaupt etwas von Chorgesang verstanden, noch viel weniger. Und auch wenn ein paar gestandene Klassikliebhaber darunter wären: Selbst mein Vater hörte die meisten unserer Fehler nicht. Solange wir uns nicht etwas wirklich Schwerwiegendes leisteten, würden wir uns schon nicht blamieren.

Als wir nun aber auf der Regierungsbank standen und den ersten Ton von Gott b’hüte dich sangen, durchfuhr mich doch ein kleiner Schreck: Das hörten jetzt so viele Leute, wie uns noch nie gehört hatten. Andererseits: Wie viele hatten damals vor neun Jahren eigentlich unseren Auftritt bei drehscheibe Deutschland im ZDF gesehen? Ich wusste es nicht. Niemand wusste es. Frau Siebenkittel hatte sich nicht viel daraus gemacht. Auch sonst hatte das keiner. Ich war vermutlich der einzige, der sich überhaupt noch an die strapaziösen Aufnahmearbeiten erinnern konnte. Auf unser Erscheinen im Fernsehen angesprochen worden war ich zudem auch nicht. Ich konnte also völlig entspannt sein und war das ab dem zweiten Ton von Gott b’hüte dich dann auch.

Unser Chorleiter schien hingegen gerade tausend Tode zu sterben. Er wuchtete mit den Armen herum, als würde er die Geister der Rotarmisten vertrieben wollen, die diesen Saal vor sechzig Jahren erstürmt hatten. Dabei hatten wir Gott b’hüte dich definitiv eher zu viel als zu wenig geübt: Das berühmte Ach im Refrain ließ mich inzwischen völlig kalt. Das Stück nervte mich beinahe ein wenig.

Als es zu Ende war, durften wir uns erst einmal für längere Zeit hinsetzen. Mehrere Redner traten auf, wichtige und welche, die womöglich einmal wichtig werden wollten. Zu letzteren zählten ganz eindeutig jene zwei jugendlichen Schüler aus Mecklenburg. Obwohl sie nur zu zweit waren, konnte sich jede Bevölkerungsgruppe in ihnen wiederfinden: Es handelte sich um einen Jungen und einen Mädchen. Sie war klein, schlank und blond; er groß, füllig und seinem Teint nach zu urteilen südländischer Herkunft.

Die beiden referierten über irgendwelche Einzelschicksale im Zweiten Weltkrieg. Vermutlich handelte es sich um Personen aus ihren Heimatdörfern, so genau wusste ich das nicht. Ich fand die beiden nicht sonderlich sympathisch. Meinen Sangesbrüdern ging es ähnlich. Seitdem wir den beiden gestern das erste Mal begegnet waren, hatten sie nichts getan, als sich zu sezieren. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich für etwas Besseres hielten. Die beiden trugen edel wirkende Anzüge. Das Mädchen war zudem sehr geschäftsfrauenhaft geschminkt und frisiert. Der offensichtliche Versuch, professionell zu wirken, wurde vom unzureichend unterdrücktem Mecklenburgisch allerdings tüchtig konterkariert.

Beim Es geht ein’ dunkle Wolk’ herein war Herr Kaiser schon deutlich entspannter. Er bewegte die Arme noch immer mehr als nötig, aber wieder mit der gebotenen Anmut. Ich nutzte die Gelegenheit, den Blick ein wenig ins Publikum schweifen zu lassen. Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust saß da, wie er schon vor zwei Jahren bei unserem Auftritt im Großen Studiosaal der Jugendmusikschule dagesessen hatte: Er hatte die Beine übergeschlagen und schien auf einen Punkt zu blicken, der weit außerhalb dieses Raumes lag. Es war wirklich kaum zu glauben, dass er es sein sollte, dem wir diesen Auftritt zu verdanken hatten. Ob er möglicherweise doch bewegt war und das nur nicht kommunizierte? Vielleicht wurde das in seinem Beruf von ihm verlangt. Die Mienen der anderen Politiker waren ja nun nicht weniger steinern.

Es folgte eine ausschweifende Rede von Bundestagspräsident Horst Lammert. Er stellte die Sinnlosigkeit des Zweiten Weltkrieges der angenommenen Sinnhaftigkeit des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr gegenüber. Jedenfalls nach allem, was ich mitbekam. Es machte sich nämlich jetzt bemerkbar, dass ich nach unseren Lachorgien am gestrigen Abend entschieden zu wenig Schlaf gefunden hatte. Mehrfach nickte ich ein, einmal sicher für eine Minute. Ich konnte nur hoffen, dass die Kamera die ganze Zeit auf Horst Lammert gerichtet war. Nicht, dass noch jemand sah, wie ich auf der Regierungsbank schlief. Wobei: Ein derart unverstelltes Statement hätte der ganzen Veranstaltung vielleicht sogar ganz gut getan.

Nach Horst Lammers Rede und unserem Wer bis an das Ende beharrt folgte nun die von allen gemeinsam gesungene Nationalhymne. Es war tatsächlich so: Wir sangen gemeinsam mit den Abgeordneten, Ministern und Bundespräsident Horst Köhler ein Lied. Herr Kaiser war sich deshalb nicht zu fein gewesen, Töne zu üben, die uns eigentlich allen bekannt sein sollten. Philipp und ich hatten die Gelegenheit genutzt, uns über die Trompetenfanfaren bei ‹Blüh im Gla-anze dieses Glü-ückes, blühe-e, de-eutsche-es Vate-erland› lustig zu machen. Unser Chorleiter hatte unterdessen erklärt, dass er uns dieses eine Mal nicht dirigieren würde.

«Wenn ich euch bei dem Stück dirigieren würde, würde das einen riesigen Skandal geben. Die Bild-Zeitung und alle anderen Zeitungen würden auf der Titelseite darüber berichten. Ihr werdet da nämlich von einigen Streichern der Bundeswehr begleitet und wenn ich die dirigieren würde, hätten sie Befehle von einem Zivilisten befolgt.»

Mit letzterem hatte unser Chorleiter sicher recht: Wenn er die Arme hob und uns dabei erwartungsvoll ansah, war das schließlich keine Bitte. Ich bezweifelte aber, dass das die Bild-Zeitung und irgendjemanden sonst interessieren würde. Außer vielleicht jemanden von der Bundeswehr.

Unser Auftritt vor einer Million Zuschauern war vorbei, doch die größte Ehre stand uns eigentlich noch bevor. In einem klassenraumgroßen Aufzug ging es hinauf in eine Art Foyer, das direkt über dem Plenarsaal lag. Dort begaben wir uns erneut in Choraufstellung. So verharrten wir, bis er endlich eintraf, Bundespräsident Horst Köhler samt seinem Gefolge. Bereitwillig ließ er sich von unserem Chorleiter abfangen, um sich nicht weniger bereitwillig zu einem kameratauglichen Händedruck animieren zu lassen. Natürlich hatte es sich damit noch nicht erledigt. Es fehlte noch das obligatorische Ständchen.

«Wir haben zwei Stücke für Sie vorbereitet», sagte Herr Kaiser, «einen Tango und ein Chanson. Was wollen Sie zuerst hören?»

«Ach, entscheiden Sie», erwiderte Horst Köhler mit einer demonstrativ verlegenen Handbewegung.

Bei dem Tango handelte es sich um Jacinto Chiclana. Wir hatten es vor zwei Jahren schon einmal gesungen. Damals hatte ich es noch leiden können. Damals war mir aber auch noch nicht aufgefallen, wie wenig tangohaft es bei uns klang. Der Chanson hieß Je ne l’ose dire und war natürlich keine schmalzige Pop-Ballade, sondern ein Chorsatz aus dem sechzehnten Jahrhundert. Chanson war hier das französische Wort für Madrigal. Soweit ich das überblickte, handelte sein Text von einem betrogenen Ehemann und war mehr als nur frivol. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir jetzt gut Wie nun ihr Herren singen können. Im Plenarsaal war uns das nicht möglich gewesen. Nach Angaben von Herrn Kaiser hatte er alle Texte vorlegen müssen. Dabei hätten wir nach dem Erklingen der Passage ‹mutwillig übt ihr G’walt im Land, nur Frevel geht durch eure Hand› endlich gewusst, ob auch wirklich jemand zuhörte. Wie dem auch sei: Horst Köhler gab sich begeistert.

«Ich war beeindruckt», sagte er und unterhielt sich dann mit uns über unsere Arbeit. Er ließ es sich nicht nehmen, Herrn Kaiser zu fragen, ob er unser Lehrer oder unser Chorleiter sei. Zum Schluss betonte er noch einmal: «Jungs, ihr wart ganz große Klasse.»

‹Ihr Lächeln ist so falsch wie meine Zähne›, hätte Opa Max jetzt gesagt. Wobei: Gesagt hatte er das nie. Er hätte es aber bestimmt gesagt, wäre ihm dieser Spruch bekannt gewesen. Sein Humor war ja durchaus gewissen Mustern gefolgt.

Herr Kaiser ließ Herrn Köhlers Worte zu gerne in sämtlichen Flyern und Programmheften zitieren. Über ihre mutmaßliche Aufrichtigkeit rümpfte er jedoch bei einer Gelegenheit einmal selbst die Nase.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Was man als Musiker von den Anerkennungen einflussreicher Potentaten zu halten hat, bewies – natürlich – Wolfgang Amadeus Mozart: Den vom Papst verliehenen Orden vom Goldenen Sporn verbummelte er irgendwann. Noch einen Schritt weiter ging – natürlich – Ludwig van Beethoven: Den vom preußischen König erhaltenen Brillantring wollte er veräußern, da er ihm nicht wertvoll genug war. Zu dem Einwand, dass es sich um das Geschenk eines Königs handele, bemerkte er: «Auch ich bin ein König.»


Eine Stunde später standen wir wieder am Reisebus.

«An-n-n-n-n-n-n!», sagte ein Knabe.

«Oh nein, Lennart», entgegnete Zwergo. Dabei kniff er mir ins Ohr. Er schien der Meinung zu sein, dass ich das witzig finden würde.

Ich ahnte bereits Schlimmes, doch als wir anfingen, Lieder anzustimmen, ließ Zwergo uns gewähren. Wir grölten gerade Tochter Zion, als meine Mutter anrief.

«Sag mal: Seid ihr irgendwie besoffen?», fragte sie.

«Nö, wir sind nur auf Chorreise, Mama», erwiderte ich.


Als ich am nächsten Tag von der Schule nach Hause kam, sah ich mir natürlich als erstes die Aufnahme unseres Auftritts an. Zu unserem Gesang konnte ich rasch feststellen, dass es daran zumindest nichts auszusetzen gab. Die eher mittelmäßige Tonqualität hatten der Saal und die ARD zu verantworten. Interessanter als er war für mich aber die Kameraführung. Erfreut nahm ich zur Kenntnis, dass das Bild erstaunlich oft und erstaunlich lange auf Philipp und mir ruhte. Bei näherer Überlegung lagen die Ursachen dafür auf der Hand: Wir sahen einfach genauso aus, wie man sich die Männer eines Knabenchors vorstellte. Ich wirkte mit meiner Brille und meinen kurzgeschnittenen Haaren wohl wie ein junger Intellektueller, der nur in der Musik Gefühle zeigte. Philipp mutete wie ein halbes Kind an, das vor Klassik und solchen Dingen noch einen sehr natürlichen Respekt hatte. Wie wir so nebeneinanderstanden, symbolisierten wir zudem ganz ausgezeichnet die zusammenführende Kraft des Singens.

Den größten Auftritt hatte aber nichtsdestoweniger Imanuel: Bei der Schlussphrase von Wer bis an das Ende beharrt zeigte die Kamera erst ihn, ehe sie ganz allmählich in die Totale fuhr. Eine wohl aus ästhetischen Gründen gefällte Entscheidung: Imanuel war, bei all seinen Fehlern, ein schöner Mensch.

Wer übrigens überhaupt nicht aus der Nähe gezeigt wurde, war mein alter Freund David. Wann immer die Kamera über die Sänger des Chors fuhr, machte sie Halt, sobald David ins Bild zu kommen drohte. Das mochte ganz pragmatische Ursachen haben: David stand weit abgedrängt am Rand. Andererseits galt das für insgesamt sieben andere Sänger ebenso. Sie bekamen alle mindestens eine Nahaufnahme. Es war wohl einfach so, dass mein alter Freund nicht ins Bild passte.

Nun wollte ich aber endlich wissen, wie viele Leute unseren Auftritt verfolgt hatten. Ich rief den Teletext der ARD auf – dort konnte man so etwas bekanntermaßen nachsehen. Es waren 730.000 Menschen gewesen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.