Chorsätze älterer und jüngerer Meister
Perlen von Holstein Folge 187
Dezember 2007
Der Claim mit den Chorsätzen Alter Meister war zwar ein Witz gewesen, hatte den Sachverhalt aber durchaus treffend wiedergegeben. Unser Weihnachtsprogramm enthielt neben einem Satz von Ulrich Kaiser auch wieder solche von Johann Sebastian Bach und Heinrich Schütz. Letzteres freute mich besonders. Beim Hören von dessen Musik war neulich endlich das eingetreten, was beim Singen schon so oft geschehen war. Von einem Moment auf den nächsten war aus dem undurchdringbaren Durcheinander von Stimmen ein seinesgleichen suchendes musikalisches Erlebnis geworden.
Besonders Tröstet, tröstet mein Volk hatte es mir angetan. Der Text war etwas merkwürdig. Er begann wie folgt: «Tröstet, tröstet mein Volk, redet mit Jerusalem freundlich, prediget ihr, dass ihre Ritterschaft ein Ende hat.» Worte, die auf engem Raum eine Menge sprachliche Schönheit boten. Allein: Ihr Sinn erschloss sich mir nicht ganz. Was bitte sollte das in diesem Zusammenhang heißen, ‹Ritterschaft›? Es war eigentlich egal, denn Schütz machte das Beste daraus. Er unterlegte dieses Wort mit einem schön militärisch klingenden Rhythmus. Ein imposanter Gegensatz zu den vollen Klängen, wenn es zuvor hieß: ‹prediget ihr›.
Seinen Suchtfaktor bezog das Stück aber in erster Linie aus seinem Schluss. Es endete mit den Worten: ‹Und alles Fleisch miteinander wird sehen, dass des Herren Mund redet.› Man konnte dabei regelrecht vor sich sehen, wie eine große Menschenmenge mit einem Male vor Schönheit überwältigt wurde – der Stereo-Technik sei Dank. Wie ein helles Licht erklang von der rechten Seite das Wörtchen ‹dass› von ‹dass des Herren Mund redet› als ein langer, hoher Ton. Er war noch nicht vorbei, da sang eine links stehende Stimme ihn ebenfalls. Die Botschaft war klar: Dieser Schönheit konnte sich keiner entziehen. Man wurde von ihr überwältigt, ob man wollte oder nicht. Und ich wollte.
Vor allem aber wollte ich mehr. Ich besaß auch weiterhin nur eine einzige CD mit Werken von Schütz: Jene vom Windsbacher Knabenchor, die fünf seiner Motetten enthielt. Ich wusste, dass es von den Windsbachern noch eine weitere CD mit Schütz-Musik gab. Sie hieß Psalmen Davids und enthielt Stücke aus der gleichnamigen Sammlung. Wie es der Zufall wollte, sangen wir in dieser Weihnachtssaison erstmalig ein Stück daraus: Jauchzet dem Herren.
Philipp, seit Kurzem ebenfalls ein bekennender Schütz-Fan, war begeistert davon. Er erkor es zu seinem Lieblingsstück. Ich mochte es ebenso, obwohl es etwas schwierig war, Gefallen daran zu finden. Daran war aber nicht Heinrich Schütz schuld, sondern eher unser Chorleiter. Jauchzet dem Herren war doppelchörig. Es war nun aber nicht etwa so, dass wir uns aufgeteilt hätten. Wir sangen alle im ersten Chor. Die Rolle des zweiten Chors übernahmen die Blechbläser. Wo die nicht zur Verfügung standen, wurde die Orgel eingesetzt. Nun muss man wissen, dass die beiden Chöre in dem Stück kaum jemals gleichzeitig sangen. Sie wechselten sich permanent ab. Das brachte mit sich, dass wir es in den Proben nicht als zusammenhängendes Werk kennenlernten, sondern als eine Aneinanderreihung musikalischer Fetzen. Jene bewiesen aber durchaus die ganze Könnerschaft des Meisters. «Gehet zu seinen Toren ein, gehet zu seinen Toren ein», sangen wir. Es klang wie eine auffordernde Trompetenfanfare. Das darauffolgende ‹mit Danken› hingegen zeugte mit seiner tänzerischen Abwärtsbewegung nicht nur von Demut. Es vermittelte auch einen Eindruck von der Überwältigung, die mit dem Anblick besagter Tore einherging. Überwältigung schien bei der Musik von Schütz wirklich ein elementarer Bestandteil zu sein.
So spaßig die Musik von Schütz für uns auch war: Sie war musikalisch ohne Zweifel mit das Anspruchsvollste, was unser Weihnachtsprogramm zu bieten hatte. Das ohne Zweifel Anspruchsloseste war Away in a manger von Malcolm Archer. Es war einfach nur entwaffnend kitschig. Wer auch immer seinen Text verfasst hatte: Er schien nicht zu wissen oder verdrängt zu haben, dass Jesus irgendwann einmal auch ein Erwachsener gewesen ist. Wenn man von diesen Worten ausging, war er immer das holde Kindlein geblieben. Das holde Kindlein, das seiner Mutter alles bedeutete. Dem ihre ganze Aufmerksamkeit galt. Immer wieder wurde Jesus in dem Text persönlich angesprochen. In drei winzigen Strophen insgesamt fünf Mal. Philipp und ich hatten unsere helle Freude daran. Dabei wäre uns dieses Detail womöglich niemals aufgefallen, wenn die Aussprache des Namen Jesus im Englischen nicht so fürchterlich prägnant wäre. Prägnant genug, um von Amerikanern als allgemeiner Ausdruck des Erstaunens verwendet zu werden, wie ich wusste.
Mit der Aussprache englischer Wörter war es aber überhaupt so eine Sache. Selbst bei vermeintlich bekannten Wörtern konnte man Überraschungen erleben. So geschah es auch bei In the bleak mid-winter. Wir hatten es vor einigen Jahren schon einmal gesungen und natürlich ‹iron› in ‹earth stood hard as iron› alle mit R gesprochen. Herr Kaiser schwor nun Stein und Bein, dass das falsch war. Laut ihm sprach man es ohne R. Weil wir das alle nicht glauben wollten, musste Zwergo schließlich zum Laptop greifen und das Wort von einem Online-Wörterbuch vorsprechen lassen. Tatsächlich, Herr Kaiser hatte Recht.
Die lateinische Sprache war da doch angenehmer. Bei ihr wusste man immer, wie alle Wörter ausgesprochen wurden. Zumindest, wenn die Diskussion darüber, ob das C diesmal ‹Z›, ‹K› oder ‹Tsch› ausgesprochen wurde, beendet war. Ich mochte das Lateinische. Darüber hätte ich natürlich erstaunt sein müssen: Meine traumatischen Unterrichtserfahrungen hatten vor gerade einmal zwei Jahren ein verdientes Ende mit einem unverdienten kleinen Latinum gefunden. Ich staunte jedoch nicht darüber. Ich hatte inzwischen begriffen, dass eben andere Regeln galten, sobald etwas mit Musik verbunden wurde. Und für das Singen war die lateinische Sprache mit ihrer überschaubaren Anzahl an Vokalen und ihren einfach zu sprechenden Konsonanten sehr angenehm. Es war zudem manchmal ganz schön, gar nicht zu wissen, was ein Text bedeutete. So konnte man sich ganz den Gefühlen hingeben, die die Musik in einem weckte.
Ein wunderbares Beispiel dafür war Ex Sion von Josef Gabriel Rheinberger. Es war im Grunde eine weihnachtliche Fassung von Preis und Anbetung. Die Dramaturgie war die gleiche. Es ging idyllisch los, ging irgendwann in einen milde dramatischen Mittelteil über, der jedoch rasch zurück in die Idylle führte. Wie bei Preis und Anbetung auch erklang am Ende wiederholt das Wort Halleluja. Wie bei Preis und Anbetung auch klang es nicht festlich. Es lag eher eine Form von Ruhe darin, die zu einem Stück passte, das am Ende des Jahres erklang. Es hätte wunderbar zu einem Film gepasst, in dem die vergangenen zwölf Monate im Leben einer Familie noch einmal Revue passieren durfte. Man sah, wie sich die Protagonisten anschrien. Statt ihrer Stimmen hörte man jedoch nur das Halleluja. Man sah, wie jemand schließlich wütend den Raum verließ und wusste jetzt am Ende des Jahres, worauf es hinauslief. Das Halleluja konnte daran nichts ändern, aber es konnte immerhin ein wenig trösten.
Infolge des Bundestagsauftritts hatten wir wenig Zeit gehabt, das Weihnachtsprogramm zu proben. Einige Stücke waren beinahe zwangsläufig zu kurz gekommen. Ex Sion gehörte dazu. Es wäre deshalb wohl niemand böse gewesen, wenn ich es zumindest bei den ersten Konzerten mit Mappe gesungen hätte. Ich aber besorgte mir eine Aufnahme davon und hörte sie so oft, bis ich jeden Ton beherrschte. Ich wollte dieses Stück auswendig können.
Es beschrieb wie kein zweites das, was ich gerade durchmachen musste.