Einblicke

Perlen von Holstein Folge 189

Januar 2008

Wie wohl jeder Chorleiter legte Herr Kaiser Wert darauf, dass unsere ganze Aufmerksamkeit seinem Dirigat galt. Wer wiederholt nicht zu ihm sah, dem drohte Unbill. Hinsehen alleine genügte allerdings nicht. Man musste in jedem Augenblick verfolgen, was unser Chorleiter tat. Urplötzlich konnte es passieren, dass er das Dirigieren einstellte. Wer dann weitersang, hatte sich verraten.

Mir passierte das so gut wie nie. Selbst dann nicht, wenn meine Aufmerksamkeit mal wieder überall war, außer bei unserem Chorleiter. Auch in solchen Momenten spürte ich ihn sofort: den kollektiven Schrecken, der meine Sangesbrüder durchfuhr. Reflexartig stellte ich das Singen ein. Das konnte natürlich nur dann funktionieren, wenn ausreichend andere Herrn Kaisers Dirigat verfolgten. Taten sie es nicht, gab es keinen kollektiven Schrecken. Gab es keinen kollektiven Schrecken, sang ich weiter. Das war dann natürlich nur halb so wild. Ich war ja bei Weitem nicht der einzige. Unser Chorleiter war trotzdem mächtig sauer.

«Ja, da haben wir es wieder: Konzentrationsfehler noch und nöcher», sagte er.

Ich musste beinahe unweigerlich kichern. Es klang für mich irgendwie, als ob ein Meister mit seinem Lehrling schimpfen würde. Dabei war es zweifelsohne bedenklich, wenn schon das Einsingen dermaßen schlecht lief, dass Herr Kaiser wütend wurde. Der Knabe, der sich genau diesen Moment ausgesucht hatte, um verspätet den Raum zu betreten: Er konnte einem jetzt schon leidtun. Der Blick unseres Chorleiters sagte dann auch mehr als tausend Worte. Auf den Knaben hatte er zudem eine erkennbar lähmende Wirkung. Wie angewurzelt blieb er stehen. Milde konnte er deshalb nicht erwarten. Es war schließlich so: Je länger er dort stand, desto länger wurde die Probe durch ihn gestört. Herr Kaiser fackelte deshalb nicht lange.

«Setz dich ruhig hin», sagte er freundlich.

Philipp und ich lachten stimmlos. Wir hatte ihn natürlich genauso gut herausgehört wie alle anderen, den Unterton, der sagte: ‹Wir sprechen darüber, wenn du dir in den kommenden drei bis vier Monaten irgendetwas leistest.› Der Knabe konnte nur hoffen, dass es ihm gelingen würde, bis auf Weiteres unter dem Radar zu bleiben. Versprechen konnte er das jedoch nicht. Einfach, weil man in einer Hierarchie nicht selbst bestimmte, ob man eine Untat begangen hatte oder nicht.

Es war wieder einer dieser Tage, an denen der Zorn des Ulrich Kaiser keine Grenzen kannte. Die Knaben setzten ihm auch keine. Munter versagten sie bei so ziemlich allem, bei dem man versagen konnte.

«Könnt ihr mir mal erklären, warum das jetzt nicht geht, obwohl das Dienstag bei der Sopranprobe so wunderbar geklappt hat?», fragte Herr Kaiser und antwortete selbst: «Weil heute Freitag ist. Und Freitagsproben laufen immer scheiße.»

Die Reaktion auf diese Wortwahl konnte für Philipp und mich nur Gelächter sein. Es war aber auch wirklich erstaunlich: Keine anderthalb Jahre war es her, dass ein Knabe es dem Kamerateam von Hamburg 1 noch als erwähnenswerten Einzelfall geschildert hatte: ‹Einmal, da hat Herr Kaiser sogar gesagt: «Der Alt singt scheiße.»› Herr Kaiser war bekanntermaßen wenig begeistert davon gewesen. Seinen Erwartungen entsprechend war genau dieses Zitat gesendet worden. Größere Elternproteste schienen aber ausgeblieben zu sein. Jedenfalls gebrauchte Herr Kaiser das schlimme Wort in letzter Zeit zunehmend häufiger.

Im Gegenzug lobte er aber auch schon einmal, wenn es eigentlich nicht angebracht war. Der Sopran sang die Stelle erneut. Und klang in den Ohren von Philipp und mir kaum weniger schlecht. Herr Kaiser sagte trotzdem: «Und genau das ist es, was mich eigentlich stört. Das war jetzt nämlich klasse. Aber natürlich erst, nachdem ich mit euch gemeckert habe.»

Herr Kaiser ließ die Passage nun vom gesamten Chor singen. Es klang so schief, dass selbst die Knaben bereits lachten, bevor unser Chorleiter abgebrochen hatte. Gebannt warteten wir darauf, was er nun sagen würde. Wir wurden nicht enttäuscht.

«So scheiße, wie er jetzt singt», sagte er, «das ist Jugendmusikschul-Niveau.»

Der ganze Chor lachte.

«Das ist Jugendmusikschul-Niveau», sagte er noch einmal.

Der Chor lachte noch mehr.

Wir lieferten Herrn Kaiser damit wohl genau die Reaktion, auf die er kalkuliert hatte. Sie erlaubte ihm nämlich, zu demonstrieren, was er damit eigentlich meinte: «Ich erleb’ es doch jedes Mal, wenn ich hier in die Räume gehe», er fasste sich an die Schädeldecke, zerraufte seine Haare und erzeugte jenen Stimmlaut, den man erzeugt, bevor man jemandes Sprechweise gehässig imitiert, «‹Ich konnt’ nicht üben, ähm, ich hatte so viel für die Schule zu tun –› Die Unterrichtsplätze sind begrenzt und die Wartelisten endlos lang! Wer nicht übt, der hat hier nichts verloren!»

Ob unser Chorleiter sich wohl darüber im Klaren war, dass ich genau zu jener Sorte Schüler gehörte, die er gerade beschrieben hatte? Es war nicht gänzlich auszuschließen. Die Sympathie, die er mir entgegenbrachte, war ja schon immer ein spürbares Ergebnis von Doppelmoral gewesen. Andererseits: Den Satz ‹Ich konnte nicht üben, ich hatte so viel für die Schule zu tun hatte.› hatte ich schon oft genug gehört, niemals jedoch selbst gesagt. Mein Klarinettenlehrer war ja nun wirklich erfahren genug, selbst zu bemerken, dass ich schon wieder nicht geübt hatte. Erfahren genug, den Grund hierfür nicht in den Schulaufgaben zu sehen, war er sowieso. Erfahren musste man dafür aber wahrscheinlich auch gar nicht sein. Wie viel Zeit nahm Üben schließlich in Anspruch, wenn man nicht gerade eine Karriere bei den Philharmonikern anstrebte? Eine halbe Stunde, maximal. Wer die nicht erübrigen konnte, der wollte es nicht. Und wer glaubte, dass ein Lehrer das nicht ganz genau wusste, dem war nicht zu helfen. Ich glaubte das jedenfalls nicht. Somit gehörte ich wahrscheinlich doch nicht zu jener Sorte Schüler, von der Herr Kaiser sprach. Nein, dazu gehörte ich ganz bestimmt nicht. Was er vermutlich eher meinte, waren Schüler vom Schlage der beiden Grazien, deren Klarinettenunterricht eine Zeit lang dem meinigen vorangegangen war. Mir war zu Ohren gekommen, dass mein Klarinettenlehrer die zwei nicht sonderlich leiden konnte. Etwas belustigt hatte ich ihn darauf angesprochen.

«Und ich habe gehört, Sie können die beiden nicht leiden», hatte ich gesagt.

«Gehört hast du das?», hatte er erwidert, «Naja, die Frage sollte aber nicht lauten: ‹Kann ich die beiden nicht leiden?›, sondern ob es irgendeinen Grund gibt, die beiden nicht nicht leiden zu können!»

«Haha. Wieso?»

«Naja, die eine von den beiden, die hat bei sich zu Hause so einen großen Raum mit Steinway-Flügel, Tontechnik und allem, was man braucht, um richtig toll Musik zu machen. Und dann erlebst du die und merkst, dass die sich überhaupt nicht dafür interessiert und das auch überhaupt nicht zu schätzen weiß.»

Warum eine derartige Geisteshaltung meinem Klarinettenlehrer sauer aufstieß, hatte er mir nicht gesagt. Ich konnte es mir jedoch denken: Er kam vom Lande und hatte zu seinem Saxophonunterricht früher jede Woche zwei Stunden lang mit der Bahn fahren müssen. Strapazen, die er geradezu enthusiastisch auf sich genommen hatte. Sein Lerneifer hatte keine Grenzen gekannt.

Bei Herrn Kaiser dürfte es ähnlich gewesen sein. Ansonsten würde er wohl kaum heute hier stehen und mit der Wortschöpfung Jugendmusikschul-Niveau für Heiterkeit sorgen. Man musste sich das schließlich einmal vorstellen: Wir befanden uns heute im Großen Studiosaal, dem Repräsentationsraum der Jugendmusikschule. Draußen im Foyer hingen überall unsere Plakate. Der Vermerk ‹Chor an der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg› fehlte auf keinem. Wann immer sich die Jugendmusikschule präsentieren wollte, wurden wir dafür herangezogen. Wir waren das Vorzeige-Ensemble des Hauses. Und nun stand unser Chorleiter da und verwendete den Namen jenes Hauses als Inbegriff für zum Prinzip erhobene Stümperei. Was konnten wir anderes tun, als darüber zu lachen?

Gelächter aber war allenfalls vorübergehend das, was Herr Kaiser wollte. Er zog deshalb nun andere Saiten auf. Als das nächste Mal ein Knabe beim Singen nicht zu ihm sah, sagte er es ganz deutlich: «Wisst ihr, im Vorchor zwei war vorhin ein Knabe, der kommt nächste Woche nicht mehr wieder. Den habe ich heute aus dem Chor rausgeworfen. Der hat es nicht begriffen. Der hat auch die ganze Zeit nicht zu mir geguckt, war abgelenkt, hat die Probe gestört. Was soll ich mit so einem machen?»

Alles Gelächter verstummte. Bis zum Ende der Probe herrschte Ruhe.